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VON

DEN KRANKHEITEN

DES

GEHIRNS

DES MENSCHEN.

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VON

Dr. CARL GEORG NEUMANN.

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COBLENZ,

von Rudolph Friedrich Hkrct.

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Verlag

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Digitized by the Internet Archive

. in 2015

https://archive.org/details/b21995436

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Im Jahre 1823 erschien mein Buch über di<* Krankheiten des Vorstellungsvermögens, welches zunächst bestimmt* war, mir bei meinen Vorle- sungen über psychische Krankheiten als Leitfa- den zu dienen. Seitdem sind neun Jahre ver- flossen, in welchen die Litteratur über die«e Krankheiten ausnehmend bereichert worden ist; zudem habe ich persönlich Gelegenheit gehabt, eine Menge von Kranken zu beobachten, die zum Theil auf Resultate geführt haben , die mir Wichtig schienen. Besonders die sinnlichen Ver- änderungen, die nach Vorstellungskrankheiten im Gehirn der daran Verstorbenen nachweislich sind, schienen mir bemerkenswerth , weshalb ich fünfzig derselben im Hufelandschen Journal

mittheilte* Jetzt, zu grösserer Ruhe gelangt, habe ich die Resultate meines Studiums, meiner Erfahrung und meines Nachdenkens zusammen- stellen und dem Publikum vorlegen wollen, in Hoffnung, dass es dem Streben nach Vorschrei- ten nicht ganz seine Anerkennung versagen werde*

Eben dies Nachdenken überzeugte mich, dass man die Vorstellungskrankheiten nicht von den sammtlichen Krankheiten des Gehirns isoliren könne; ich habe sie daher im Zusammenhänge mit den Krankheiten der Plastik des Hirns bear- beitet. Das Leben ist überall Eins und Ein Ganzes , aber unser Streben , es zu verstehen , macht Trennungen nothwendig, die in der Natur nicht sind. Dieser Fehler unseres theoretischen Strebens wird ewig derselbe bleiben, denn er folgt aus der Einrichtung unseres Wesens.

Der grosse Mangel an einer praktisch brauch- baren Psychologie hat mich gezwungen, dem Werke eine psychologische Einleitung zu geben, wie sie der Wahrheit gemäss und für die Pra- xis brauchbar War* Ich bin so kühn gewesen,

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in derselben mich ganz nach meiner Ueberzeu- gung zu erklären und manches Neue zu sagen, was inan vielleicht als paradox aufnehmen oder unbeachtet lassen wird, allein ich bin gewiss, dass die hier ausgesprochenen Wahrheiten zur Grundlage der Hirnlehre für immer dienen miis- sen und werden, und dass sie Geltung finden,

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obgleich vielleicht erst lange nach meinem Tode. In meinem ganzen Leben hat mir mehr an der Wahrheit gelegen, als an meinem Ruhm ich stelle mich dem Tadel, ich stelle meine Ent- deckungen der Prüfung blos ; vornehmes Ueber- sehen schmerzt mich wohl, aber ich kann es er- tragen, Was von meinen Ideen wahr und rich- tig ist, das wird, das mag sich durch innere Kraft erhalten und Geltung verschaffen * meine Irrthümer wird die Zeit vertilgen, wie sie ajje vertilgt, öfter zwar andere an ihre Stelle setz- end , als sie durch Wahrheit besiegend.

Um nicht polemisch werden zu müssen, was ich jederzeit gefährlich und gehässig gefunden habe, machte ich mir zum Princip, keine Citate auzuführen; hätte ich mich auf die Meinungen

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anderer eingelassen , so wäre unvermeidliche Folge davon gewesen, dass ich hatte die Gründe meiner entgegengesetzten Ansichten entwickeln müssen. Die, denen es um Wahrheit zu thun ist, können es vertragen, aber es giebt gar zu viele , denen es um etwas ganz anderes zu thun ist.

Aachen , den 13. April 1831.

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INHALT.

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Seite

Von den Krankheiten de* menschlichen Gehirn*. Ein- leitung 1

Cap. 1. Von den Thätigkeitcn de* Gehirns im allge- meinen ........ 12

Cap. 11. Von der Bedeutung des Gehirns für das thie-

rische Leben ....... 24

Cap. ilf. Von der Entwickelung des Gehirns durch

die Thierreihen ...... 34

Cap. IV. Entwickelung und Thätigkeit des mensch- lichen Gehirn» ...... 39

Cap. V. Verhältnis« de» Gehirns zu den übrigen Organen 55 Cap. VI. Begriff und Eintheilung der Krankheiten des

Gehirns ........ 64

Cap. VII. Pathogenie der Hirnkrankheiten überhaupt 72

Cap. VIII. Allgemeine Aetiologie der Hirnkrankheiten 88

Cap. IX. Diätetik zur Verhütung von Nervenkrankheiten 95

Cap. X. Von den Haupterscheinungen bei Hirnkrank- heiten 109

Cap. XI. Von der kranken Vorstellung im allgemeinen 122

Cap. XII. Krankheitsäusserung der Sinnlichkeit . . 127

Cap. XIII. Ton der Krankheit der basischen Kräfte

des Vorstellungsvermögens .... 169

Cap. XIV. Von der krankhaften Richtung der Vorstel- lung nach aussen 233

Cap. XV. Von der Krankheit der quantitativen Ur-

theilskraft und des analytischen Vermögens 261 Cap. XVI. Von der Krankheit durch Einfluss des Ue-

bersinnlichen 275

Cap. XVII. Von den Krankheiten der Muskelbewegung 285 Cap. XVIII. Von der Apoplexie und Lähmung . . 363

Cap. XIX. Von der Entzündung des Gehirns und sei- ner Häute und von den Folgen der Entzün- dung dieser Organe ..... 405

Cap. XX. Nachlese 450

Fünfzig Krankheit«- und SectionsgeSchichten von Irren 456 Resultate 488

Wegen Entfernung des Wohnorts des Verfassers haben «ich in die ersten fünf Bogen bedeutende Druckfehler ein- geschJichen, deren Verbesserung hier folgt.

S. 2

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Z. 17 v. o. 1. Erscheinungen st. Fortkeiniungen.

3 v. u. 1. schuf st. scheut.

1 v. u. J. hielt st. sieht.

,, 4 v. u. 1. wirksam bewiesen st. beweisen.

16 v. u. 1. Reihen st. Reisen.

22 v. o. 1. Erkennen st. Bekennen.

11 v. o. muss das : wegfallen.

,, 13 u. 14 1. Reihenbildung, Reihe st. Reisenbildung, Reise. 2 v. o. 1. Reihenbildung.

,, 16 v. o. 1. wird sie st. wieder.

13 v. o. fehlt dieser zwischen Krankheiten und nicht.

6 v. o. 1. Fäden st. Enden.

2 v. o. 1. Tliätigkeit st. Unthätigkeit.

4 3 v. u. 1. Schweisses st. Schwindels.

,, 1 v. o. 1. reiches st. weiches.

6 v. o. 1. bemerken st. bewirken.

21, 22, 29, 30, 31 1. Qualität st. Tualität.

Derselbe Druckfehler ist überall zu verbessern. 5 v. o. 1. ohnehin st. ohne sie.

11 v. o. 1. Spuren st. Sphären.

18 v. o. 1. Imponderabilien st. Impendrabilien.

23 v. o. 1. ein st. kein.

,, 33 4 u. 3 v. u. 1. dürfen nur ausgeschieden werden st. diese

nur ausgeschieden worden.

34 ,, 1 v. u. 1. liaupten st. kämpfen u. Vertebraten st. Verte- bralen. Dieser letzte Druckfehler ist sehr oft wiederholt ; inan bittet, ihn überall zu verbessern. 35 19 v. o. 1. gehen st. geben.

5, 45 ,, 13 v. o. 1. selten st. selber.

51 23 v. o. 1. Maass, der Qualität st. Maass der Qualität.

53 4 v, u. 1. Verbreitungsflächen st. Vorbereitungsflächen.

,, 57 2 v. o. 1. anderen st. andere.

3 v. u. 1. thoracicum st. thracicum.

58 14 v. o. 1. Gehirn st. Herzen.

5, 22 v. o. 1. Verbreitung st. Vorbereitung.

59 15 v. o. 1. auch st. durch.

60 11 v. o. 1. allein st. alle.

,, 10 v. u. 1. ausser st. über.

3, 66 4 v. o. 1. verfallen st. zerfallen.

3, ,, 17 v. o. 1. Degenerationen st. Degeneration an.

68 8 v. u. 1. den st. der.

2 v. u. 1. klüger st. kluger.

69 18 v. o. 1. denen st. deren.

70 11 v. u. 1. richtige st. wichtige.

73 14 v. o. 1. erst st. nicht.

74 4 v. u. 1. den st. die.

80 1 v. o. 1. retten st. wollen.

Die NB. gehört nicht zum §. 70, sondern zum §. 71 S. 81 Z. 2 v. o., muss unter den Text mit Petit gedruckt ge- dacht werden.

VON DEN KRANKHEITEN DES MENSCHLICHEN GEHIRNS.

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Einleitung.

1.

I^ie Anatomie sowohl als die Histologie des mensch- lichen Gehirns wird bei der Untersuchung, die wir begin- nen, als bekannt vorausgesetzt, wie wir uns auch die Wiederholung des Beweises ersparen, dass das Gehirn aus- schliesslich der Sitz des Empfindens und des allein auf Empfindung begründeten Vermiigens vorzustellen ist. E* genügt ferner an der einfachen Bemerkung, dass das Ge- hirn unter allen Organen das einzige sei, welches zwei verschiedene Lebenszwecke hat, obgleich eine Menge von Organen, namentlich die Sinnorgane, die willkührlichen

Muskeln, mit ihnen auch die Sehnen und Knochen dem

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zweiten Lebenszweck als Werkzeuge dienen. Denn das Auge, das Ohr u. s. w. ist zwar Organ der Empfindung, in sofern sie durch dasselbe vermittelt wird, aber es em- pfindet nicht selbst, sondern nur das Gehirn durch das- selbe, gerade wie die willkührlichen Muskeln und Knochen nicht wollen , sondern nur den Willen des Gehirns aus- führen. Dass das Gehirn ein doppeltes Leben lebe, ist von jeher erkannt worden , sobald man erst zu der Erfahrung gelangt war, nicht im Herzen, wie die älteste Zeit glaubte,

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Mildern im Gehirn sei der Sitz de* Vorstellens. Man machte sich eine Menge von Systemen, die das Geheim- nis* dieses Doppellebens erklären sollten ; im Allgemeinen kann man sie in zwei Klassen (heilen, deren eine die um- fasst, die den Grund des Empfindens und Vorstellens im Körper suchten, während die andere ihn ausser dem Kör- per vorausselzt. Ungeachtet die Bibel sich für keins der entgegengesetzten Systeme entscheidet, erklärten sich doch die Kirchenlehrer durchall* für die letztere Ansicht, wes- halb das Christenthiiin mit dem Dualismus des menschli- chen Wesens innig zusammen hängt. Dieser Dualismus hatte eine Schwierigkeit aiifzulösen, welche die Anhänger der ersten Art von Systemen nicht kümmerte; er hatte nachzu weisen , wie Seele und Körper mit einander in har- monische Verbindung treten, und auch hierüber waren die Systeme sehr getheilt. Der Dualismus hat mehr als alles beigetragen, die Natur der psychischen Fortkeimongen des Menschen unerforscht zu lassen; die Physiologen schoben alle Untersuchung zurück, erklärend, die Physiologie be- schäftige sich wohl mit dem Körper, aber nicht mit der Seele; di« Theologen kümmerten sich aber gar nicht um den Körper, ausser in wiefern sie ihn für die Quelle der Sünde ansahen und in vollem Ernste die Seligkeit oder die höchste Bestimmung des Menschen in die Zeit setzten, wenn er den Körper los seyn würde, und die Philosophen untersuchten wohl die Form, in welcher das Vorstellen wirkt, bemühten sich, den Glauben de* Menschen aus die- ser Form zu entwickeln oder gar zu beweisen und Gründe für oder wider den Materialismus oder den Dualismus auf- zustellen , aber wenn sie auch die Erscheinungen des nor- malen Vorstellens untersuchten, so fiel ihnen doch nicht ein, auch die des kranken Vorsteilens zum Gegenstände ihres Forschen* zu rechnen. Man verwickelte sich in ein Chaos von Missverständnissen und Widersprüchen, scheut Hypothesen, sich au* ihnen herauszufinden, und wurde durch sie noch tiefer verlockt. Das Leben selbst sieht

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man für Wirkung der Seele, bildete sich ein , es gebe eine Thierseele und eine geistige Seele, gericth auf Schwärme-» reien und erklärte mit vielen Worten nichts. Erst die richtige Erkenntniss des Lebens hat den Weg gebahnt, der au9 dem Labyrinth der Widersprüche führt.

2.

Die Erkenntniss der psychischen Krankheiten insbe- sondere erlag unüberwindlichen Schwierigkeiten, so lange man unrichtige Vorstellungen von der psychischen Natur des Menschen verfolgte. Die Dualisten mussten durchaus bei der Behauptung stehen bleiben, allein der Körper könne erkranken, die Seele nicht; sie mussten daher hart- näckig vertheidigen , dass jede psychische Krankheit allein Veränderung in den Organen zum Grunde habe und wenn die Erfahrung widersprach, so mussten sie einwenden, dass man entweder die kranken Organe nicht gefunden ha- be, oder dass man noch lange nicht genug mit der wah- ren Normalität der Formen bekannt sei, um ihre Abwei- chungen sinnlich nachweisen zu können. Die Materialisten suchten ebenfalls nach Formänderungen, ohne die Incon- sequenz zu fühlen , welcher sie sich dadurch schuldig machten, und wenn sie im Gehirn keine fanden, erklärten sie die Erscheinungen aus der Abhängigkeit der Vorstel- lung vom Verhältniss der Säfte, der Verdauung, der Ge- sundheit anderer dem Gehirn fern liegender Organe. Zur Vermehrung der Missverständnisse trug bei, dass man den Begriff der Krankheit blos empirisch bestimmte. Daher ist zu erklären, dass die Erkenntniss der psychischen Krankheiten noch jetzt auf einer niedrigen Stufe der Ent- wicklung steht und die Cur derselben noch fern von wis- senschaftlicher Bestimmtheit ist. Leider lässt sich da» zwar auch von den Krankheiten sagen, die man zum Un- terschied der psychischen somatische nennt, doch lange nicht in so hohem Grade, als von diesen.

4

3.

Alle Wahrheit hängt innig zusammen ; wir können kei- ften Fortschritt thun, ohne dass wir einen festen Stand- punkt haben, von welchem wir ausgehen. In allen patho- logischen Untersuchungen ist dieser der Begriff von Krank- heit, der wiederum den Begriff des Lebens voraussetzt, da Krankheit nichts anders ist, als eine Art der Lebens- äusserung. Folglich muss auch die Lehre von den Krank- heiten des menschlichen Gehirns von diesen Begriffen aus- gehen, so lange sie noch nicht so anerkannt sind, dass man sie bei seihen als bekannt voraussetzen kann , wie die Anatomie und Histologie der Organe. Doch machen diese allgemeinen Begriffe nur die Einleitung der speciellen Lehre aus. Zu dieser gehört noch die Beschreibung des Gangs der Untersuchung selbst, dessen Yoraussendung um so nöthiger ist, als ein Fehler in denselben zu falschen Re- sultaten führt, aber viel leichter in der Uebersicht er- kannt wild, als in der Ausführung. Zugleich liegt in die- ser Beschreibung die Rechtfertigung deshalb, dass vieles in dieser Untersuchung Vorkommen muss, was manchem überflüssig oder dem Hauptzweck fremd scheinen möchte. Für solche, die in jedem medicinischen Buche weiter nichts suchen, als ein tüchtiges Recept, dessen sie sich auf Authorität gestützt bedienen mögen , wenn sie ans Krankenlager treten , ist dies Buch nicht geschrieben ; ei- gentlich sollte gar keins für sie geschrieben sein, nicht einmal ein Recepttaschenbuch, auch lesen sie keines. Wohl aber giebt es Männer von Erfahrung und Kenntniss, denen es zu genügen scheint, wenn die Symptome der Krankhei- ten deutlich beschrieben sind und erfahrungsmässiger Rath er t heilt wird, welche Heilart sich in den gegebenen Fällen beweisen. Sie sind bei dem Schwanken der Theorien und Systeme, bei ihrem häufigen Widerspruch und Wechsel, zu fest überzeugt, dass die Ileilkunst rein empirisch sei und bleiben müsse, als dass sie nicht alles im voraus fer-

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werfen sollten, was anders aussieht. Diese mögen sich er- innern, dass alle Widerspruche nur von falschen Ansichten der Grundbegriffe ausgehen, und dass die Therapie nur dadurch zur Wissenschaft werden kann, wenn die Resul- tate der Empirie dem Verstände erklärt sind. Gerade dies ärgerliche Schwanken von einer Mode zur andern, selbst von einer platten Abgeschmacktheit zur andern, das mehr als alles den Mangel wissenschaftlicher Grundlage des therapeutischen Verfahrens beweist, kann nur ein Ende nehmen, wenn diese gewonnen wird und dass es bis jetzt fortdauert, ist Folge des Verharrens der Therapie auf dem empirischen Standpunkt. In einer Kunst, die cs un- ternimmt, in das Leben und Wohlseyn der Menschen ein- zugreifen, sollte man so behutsam als möglich gehn*

Die Lehre von den Krankheiten des menschlichen Ge- hirns setzt die Kenntniss von den Thätigkeiten des Ge- hirns im allgemeinen , von deren Bedeutung für das orga- nische Leben der Thiere, von deren Entwicklung durch die Reisen derselben, von deren Entwicklung im Menschen und von der Entwicklung in den Individuen voraus. Fer- ner beschäftigt sie sich mit dem Verhältniss des Gehirns und seiner Thätigkeiten zu den übrigen Organen des Men- schen. Dies führt sie zur Beschreibung und Erklärung der Erscheinungen seines Lebens. Dann geht sie zur Un- tersuchung der Einflüsse auf das Gehirn über, welche so- wohl andere Thätigkeiten ausüben , als die Aussenwelt. Hieraus geht hervor, wie durch diese Einflüsse das Ver- hältniss des Lebens des Gehirns zu dem Leben des Indivi-

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duums gestört werden kann. Diese Kenntniss führt auf die Beschreibung der speciellcn Erscheinungen und auf die Bestimmung, wie die äussern Einflüsse zweckmässig benutzt werden können, um das Normalverhältniss der Ilirnthätigkeiten zum Leben des Ganzen zu ordnen. Eine besondere Betrachtung der Mittel, welche der Mensch be-

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»itzt, um nach Plan und Absicht in das Leben des Gehirns einzug-reifen , der Benutzung der natürlichen Veränderung der Ilirnthätigkeiten im Entwicklungsgang des Menschen und der eigenthiimlichen Wirkungsart der äusseren Ein- flüsse, sie mögen mittelbar oder unmittelbar das Ilirnleben bestimmen, macht den Beschluss. Der Plan unserer Ar- beit ist gezeichnet; ihn in allen Theilen zu vollenden t übersteigt die Kräfte eines Individuums. Jeder, er meine es so aufrichtig als möglich mit der Wahrheit, täuscht sich oft, indem er für Erkenntniss hält, was blos Meinung ist. Wollte man aber deshalb den 31uth verlieren , nach einem Ziele zu ringen, weil man weiss, dass dessen Er- reichung über die Gränzen unserer Kraft hinaus liegt, so würde man überall unthätig bleiben müssen. Denn so wie wir uns über die Erforschung der Formen erheben , die dem Menschen durch sein inneres Gesetz nothwendig ge- geben sind, so wie unser Nachdenken einen Gegenstand wählt, der ausser dem Gebiet des quantitativen liegt, müssen wir auf Gewissheit Verzicht tliun und wie alles Leben nichts ist, als Annäherung an seine Idee, mit der Gewissheit, sie nie zu erreichen, so ist auch die Forschung nach Wahrheit im Bekennen nur ein Streben nach einem nothwendig unerreichbaren Ziele. Aber wir können uns ihm nähern; wehe dem, der es nie versucht! Wehe dem, der nach nichts strebt! Unsere Kraft entwi- ckelt sich nur durch dies Streben und unser Beispiel macht anderen Muth; unsere Fehler und Irrthümer warnen an- dere, sie zu vermeiden.

5.

Ich habe schon in mehreren Schriften den Begriff des Lebens zu entwickeln versucht. Leben ist TJiätigkeit, aber nicht alle Thätigkeit ist Leben. Es giebt einen Standpunkt, auf welchem sie es ist, allein der menschliche hat nur die Erscheinung der Thätigkeit auf der Erde vor sich, und hier zerfällt die Thätigkeit der Körper in solche , die

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von aussen bestimmt wird, und in solche, die sich im In- neren des Thäligen selbst bestimmt. Diese ist lebendig, jene nennen wir leblos, entweder mechanisch oder che- misch. Es ist uns keine andere Art von Thätigkeit denk- bar— daraus folgt nicht, dass es keine andere gebe ini Gegentheil erinnert uns das Leben der kosmischen Körper daran, dass es Thätigkeiten geben könne, von welchen wir keinen Begriff haben, die wir blos ahnen. Ja, in un- serem inneren Wesen und Denken stossen wir auf Thätig- keiten, die auf andere Art zu Stande gekommen scheinen, als auf die uns bekannte das heisst: uns bedenklich vor den Tiefen unsers eigenen Daseins stehen bleiben. Leider hat es Manchen in die Mystik geführt, also über die Gränzen hinaus gerückt, die uns der Urheber unseres Daseins gesetzt hat jeder Versuch, sie zu überschrei- ten, ist Verwegenheit, die mit Irrthum, Vermessenheit, die mit Verschlechterung unseres Werths bezahlt wird. Die Systeme des Materialismus und Dualismus waren gröss- tentheils eben solche vermessene Versuche, wie die mysti- schen — wir berühren sie daher gar nicht und halten un« allein an die Erscheinung und die Entwicklung ihrer Ursachen, deren wir, beschränkte Menschen, fähig sind, ohne unsere Gränzen zu überschreiten. Daher fürchte ich bei dem Fortgang dieser Untersuchung nicht, als Materia- list verketzert zu werden; die materialistische Frage liegt ganz ausser meinem Bereich. Es schien mir zeitgeinäss, dies voraus zu erinnern , da es Menschen giebt , die mit der Miene der Heiligkeit verlästern, was nicht in ihren mystischen Kram taugt, der selbst gar nichts taugt.

6.

Da jeder Körper auf Erden rund umgeben ist von ei- ner Menge anderer, die auf ihn eimwrken; da besonders alle organische Körper, die wir kennen, zusammengesetzt sind aus einer Menge verschiedenartiger Formen und Theile, die sich zu Individuell vereinigen, so ist das irdische Le-

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ben an das Gesetz der Reizbarkeit gebunden, kraft dessen die lebendigen Wesen fähig sind, durch äussere Thätig- keiten zu inneren erweckt zu werden. Diese stehen dann natürlich nicht im Verhältnis zu der Art und dem Grade der mechanischen oder chemischen Seite der äusseren Ein- wirkung, erfolgen aber nicht minder als die blos äussern Thätigkeiten nach besonderen Gesetzen. Ein solches ist die Annäherung der Wirkung an eine innere eigenthüm- liche Idee, einem Zweck des Lebendigen, der sich deut- lich in der Gattung ausspricht, aber nie durch eine ein- zelne Thätigkeit erreicht wird, also die Richtung der Be- wegung nach einem bestimmten Ziel, aber in der Asym- ptote. Ein zweites ist das Gesetz der Reisenbildung; jede innere Thätigkeit ist der Beginn einer Reise, die nicht eher aufhört, als bis sie von andern durchkreuzt und über- wogen wird, was bei der Menge von äussern Einflüssen, die innere Thätigkeit erregen , nie lange ausüleiben kann. Alles das ist an andern Orten ausführlicher entwickelt worden, doch schien es nothwendig, hier im Eingang daran zu erinnern, weil es mehrmals als bekannt voraus- gesetzt werden muss.

7.

Auch der Begriff von Krankheit ist schon anderwärts entwickelt worden. Krankheit ist lebendige Thätigkeit und alles , was von dieser im allgemeinen gilt, muss nothwen- dig auch von ihr gelten. Nur dadurch, dass eine Menge verschiedener Thätigkeiten harmonisch zusammen stimmen müssen, damit das Leben eines Individuums bestehe und dessen Idee so erreicht werde, wie es nach dem Appro- ximationsgesetz möglich ist, ist Krankheit möglich ; sie be- steht in dem Mangel an Harmonie der Thätigkeiten des Individuums, in dem Hervortreten einzelner vor andern, oder in dem Zurückbleiben solcher, die zum gesunden Le- ben des Ganzen nothwendig sind. Jede Krankheit folgt den Gesetzen der Reizbarkeit, sie setzt ein äusseres Ein-

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wirken voraus, das ihm als Reiz dient; sie bestätigt das Gesetz der Reisenbildung; sie wird demselben gemäss durch anderweite Thätigkeiten unterbrochen und aulgehoben; sie entwickelt sich einer Idee gemäss, nie dieselbe rein dar- stellend; sie kann die Idee des individuellen Lebens auf- lieben oder von derselben aufgehoben werden. Es ist nicht möglich, die Natur einer einzelnen Krankheit zu erfor- schen, ohne an dies alles zu denken; am wenigsten ist rationelles Verfahren in Leitung der Einflüsse auf das kranke lndhiduum möglich, dessen Absicht die Endigung der Krankheit ist, ohne diese Erkenntniss.

8.

Im Leben ist alles Zusammenhang und Verbindung, in der Theorie wird alles als isolirt und selbständig ange- sehen. Das ist die ewige Schwierigkeit aller Theorien, die das Leben zum Gegenstände haben , aber nie wieder gehoben werden. Denn das erste Gesetz des allgemei- nen Lebens ist die Bildung des Mannigfaltigen aus dem Einfachen ; seine Gestaltungen wie seine Erscheinungen verändern sich ins unendliche und verbinden sich; nichts ist isolirt, alles überall Ein Ganzes und der Gang der gan- zen Natur Eine unendliche, ewig fortschreitende, ewig neue, und doch ihrem alten Gesetz ewig folgende Syn- thesis. Von allen Lebenstliätigkeiten die einzige, die wir Verstand, Erkenntnissvermögen nennen, setzt sich dem Gesetz aller andern entgegen und besteht allein durch die- sen entgegengesetzten Gang; sie ist ihrer Natur nach ana- lytisch. Verstand oder Erkenntnissvermögen ist gleichviel mit dem analytischen Vermögen des Menschen. Durch dieses steht er der ganzen lebendigen Natur gegenüber, er allein von allen lebendigen Wesen der Erde. Wenn ihn dies Vermögen also auszeichnet, ihm seine Würde giebt und ihn gleichsam zum Denkorgan der Erde macht, so nöthigt cs ihn auch, alles verbundene zu trennen, da- mit es ihm verständlich werde und von einer Menge Ur-

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Sachen der Erscheinungen als von einzelnen Kräften Und Dingen zu sprechen, die doch nur das wirken, was sie darstellen, weil sie innig und untrennbar mit andern ver- bunden sind. Es ist also in dem Gesetz , das den Men- schen fähig macht, nach Wahrheit zu forschen und die Erscheinungen aus ihren Ursachen zu erklären, auch die Schranke gegeben, die ihn unfähig macht, sie vollständig zu begreifen, denn er muss überall trennen, was doch nie getrennt, sondern ewig und immer neu, immer anders verbunden ist. Nirgends fühlt der Mensch die hieraus folgende unvermeidliche Unvollkommenheit der Erkenntniss tiefer, als in dem Studium seiner eigenen geistigen Kraft; sie ist nur Eine, und doch muss er sie sich in eine Menge verschiedener Kräfte gleichsam aufgelösst denken, ln der Theorie sieht es aus, als wären Verstand, Vernunft, Er- innerungsvermögen , Urteilskraft und so fort lauter ver- schiedene Dinge doch sind sie nur die Aeusserungsar- ten Eines einzigen Vermögens. Und dies ist selbst nichts weiter, als eine Aeusserungsart des allgemeinen Lebens, nach Gesetz und Zweck von andern verschieden. Man hat diese Wahrheit nie weiter aus dem Gesicht verloren, als bei Erwägung der psychischen Krankheiten, theils in- dem man sie als der somatischen entgegen gesetzt, oder auch als ihre blose Folge ansah, theils indem man von Krankheiten des Gedächtnisses, der Phantasie, des Ver- standes, wohl gar der Vernunft, spricht, wie man von Krankheiten des Halses, der Nase, des Auges, der Zunge spricht. Aus dieser grundfalschen Ansicht folgen eine Menge von Missverständnissen und Irrthüincrn.

0.

Eine Folge dieser Unvollkommenheit der menschlichen Ansichten zeigt sich auch in allen Eintheilungen der Krank- heiten. Man hat sich seit einem Mcnscheualter bemüht« eine neue festzusetzen, die in Krankheiten der plastischen) der irritablen und der sensiblen Sphäre keine von allen,

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selbst nicht die schlechtesten der Vorzeit, ist so grund- falsch und so weit von der Wahrheit verlockend. Es giebt keine irritable Sphäre das ganze Thierleben beruht auf Irritabilität als auf seinem Grunde. Alle sensible Thätig- keiten und alle plastische sind nur möglich durch Irritabi- lität ; sic ist das gemeinschaftliche Mittel beider, aber keine besondere Sphäre. Welche Verwirrung der Be- griffe ! Eine plastische und eine sensible Sphäre des Le- bens lässt sich allerdings unterscheiden, allein wenn wir darnach die Krankheit eintheilen wollen, kommen wir in Verlegenheit, weil sehr oft Veränderung im plastischen Leben sich durch Erscheinungen veränderter Sensibilität ankündigt und umgekehrt Krankheiten nicht selten die Bil- dung der Organe verändern. Schon hieraus folgt, dass die Eintheilung der Krankheiten in psychische und soma- tische eben so falsch ist. Denn ausserdem, dass sie den Dualismus des menschlichen Wesens als erwiesen voraus- setzt, was das pathologische Studium der psychisch ge- nannten Krankheiten ganz unmöglich machen würde und daher der medicinischen Forschung nicht gestattet werden darf, welche sowohl die psychischen als die somatischen Erscheinungen schlechterdings nur als Aetisserungen des Lebens begreift, ohne die Frage zu berühren, ob das Le- ben einen materiellen oder immateriellen Grund hat (eine Frage, der es für das physiologische Studium gänzlich an Sinn fehlt), so folgen, wie oben erwähnt, psychisch ge- nannte Krankheiten häufig aus somatischen und umgekehrt, oder vielmehr: es ist keine Krankheit leicht denkbar, die nicht bei einiger Dauer zugleich in psychischen und soma- tischen Erscheinungen sich ausspricht. Auch die Einthei- lung der Krankheiten in allgemeine und topische ist falsch, denn in gewissem Sinn muss nothwendig jede Krankheit allgemein und jede topisch seyn; in einem andern ist wie- derum allgemeine Krankheit gar nicht denkbar. Denn das würde einen Zustand eines Individuums voraussetzeu, wo alle Thätigkeitea desselben zugleich sich von der Idee sei«

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ner Gattung entfernten und sein Leben dennoch fortdau- erte, was gewiss nie der Fall sein kann, höchstens nur unmittelbar dem Todesacte vorausgeht. Gleichwohl, wenn wir von den Krankheiten des Gehirns ausschliesslich reden wollen, behandeln wir diese als topische, folgen al- so dieser Eintheilung, die wir selbst für irrig anerkennen, weil uns die Schranken unseres Erkenntnissvermögens zwingen , isolirt zu betrachten , was verbunden ist. Die Eintheilung der Krankheiten in solche der Systeme und der einzelnen Theile der Systeme kommt der Wahrheit am nächsten , ob sie gleich eben so, wie jede andere, Ein- würfen ausgesetzt ist. Nach dieser giebt es Krankheiten des Nervensystems, von welchen die des Gehirns einen Theil ausmachen, wie das Gehirn das Ilauptorgan des Nervensystems ist. Und dieser Eintheilung folgend wid- men wir unsere Aufmerksamkeit den Krankheiten des menschlichen Gehirns.

Cap. I. Von den Thätigkeiten des Ge- hirns im allgemeinen.

10.

Das Gehirn äussert sein Leben gerade so, wie alle andere Organe des Thierkörpers ; es* bildet sich, wächst, entwickelt sich, ernährt sich, indem es das Blut verwan- delt, und endlich stirbt es; folglich ist es so gut ein ve- getirender Theil des Thiers, wie jeder andere, ln seiner Vegetation zeigt es manche Besonderheiten. Zuerst ist dessen Masse von der aller andern Organe sehr verschie- den ; es ist weder membranös , wofür es Gail einmal aus- gab, noch fibrös, wie man lange Zeit annahm, noch ei- gentlich globulöf, obgleich die globulöse Bildung, die über- haupt im Thiere radical zu sein scheint, der Hirnbildung

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am nächsten kommt. Es lässt sich darstellen als ein äusserst zartes Zellgewebe Ton unendlich kleinen Fächern, in welche sich eine nicht regelmässig globulöse Masse angehäuft befin- det, die eine Menge conglomerirter Massen bildet, welche sich in mancherlei Formen entwickelt, deren grösster Theil der runden am nächsten kommt. In den beiden Körper- hälften ist es symmetrischer gebildet, als irgend ein anderes Organ, obgleich nicht völlig genau, ja alle Organe befol- gen das Gesetz der symmetrischen Bildung um so genauer, je mehr sie von dem Gehirn abhängen. So sind die Sinn- organe beider Hälften symmetrischer, als alle andere; dann folgen die Nerven des Cerebral- und Medullarsystems; dann die Muskeln, dann die Knochen, Knorpel und Bän- der, und die Organe der Blutvertheilung haben nur noch Spuren von Symmetrie, die der Nahrungsaufnahme aber, die am weitesten vom Gehirn abstehen, verlieren sie ganz.

11.

Von allen Organen des Thieres ist sein Gehirn am meisten isolirt, gegen äussere Einwirkung geschützt; es ist überall der innerste Kern des Thiers, von mehreren Mem- branen, deren äusserste stets fester als die andere ist; dann von Knochen fest umschlossen, wo die Knochenbil- dung nämlich beginnt, ausserdem von Theilen des Horn- systems. Man sieht deutlich, dass es der bildenden Natur darauf ankam, es sorglicher zu bewahren, als alle andere Organe. Es bildet in allen Thieren mit seinen Umgebun- gen, mit den wichtigsten Sinnen und mit den Organen der ersten Nahrungsaufnahme zugleich, den Kopf, der jeder- zeit über dem Organ der Blutvertheilung liegt, wo diese ein Centrum hat. Schon aus dieser Lage und aus der Sorgfalt seiner Umhüllung fällt es als der Haupttheil des ganzen Thiers ins Auge. Das Verhältniss seiner Grösse zu der des ganzen Thieres und zu der des Nervensystems ist sehr verschieden: man nimmt gewöhnlich an, dass cs im Menschen den 32sten Theil seiner ganzen Masse aus-

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mache, im Mann ein wenig mehr, im Weibe etwas weni- ger, im Kinde viel mehr, als im Erwachsenen. Es giebfc Thiere, deren Hirn im Verhältnis zum übrigen Körper grösser ist, als das menschliche, z. B. beim Canarienvogel, dagegen ist das menschliche Gehirn im Verhältnis zum übrigen Nervensystem desselben entschieden grösser, als das jedes andern Thieres.

12.

Die Wichtigkeit des Gehirns liegt aber nicht in dessen vegetativen Functionen. Es sondert nichts ab, als seine Nahrung; ausser der Verwandlung des Blutes in Ilirnsub- stanz bewirkt cs keine andere. Dass Kreislauf und Ernäh- rung selbständige Functionen sind, die nicht vom Gehirn abhängen, beweisen vor allen Dingen die Monstra, die vwr tcxecpcdii^ nennen , ob sie gleich einen Kopf und auch ein Nervensystem haben, nur aber ein sehr ungebildetes, meist nicht mit Knochen beschütztes Gehirn. Sie vegetiren den- noch. Experimente mancher Art haben ebenfalls diese Wahrheit mit Evidenz nachgewiesen. Auch verletzt kann das Hirn werden ohne Aufhebung des vegetirenden Lebens. Allein da die willkührliche Bewegung vom Gehirn ausgeht, diese aber sehr tief in die Vegetation eingreift und beson- ders bei den vollkommneren 'filieren zum Athinen noth- wendig ist, ohne welches die Erzeugung des Blutes nicht geschehen kann, so ist das Gehirn mittelbar ein Haupt- organ der thierischen Vegetation. Dass übrigens die Be- wegung der willkührliclien Muskeln vom Gehirn ausgeht, ist darum ausser Zweifel, weil Hemmung der Leitung, welche der Nerv zwischen Muskel und Hirn vermittelt, auf der Stelle die Bewegfähigkeit des Muskels aufliebt. Wir kennen also bereits Eine eigenthümliche Thätigkcit des Gehirns, die Bestimmung der Muskeln zur Bewegung. Das System der Ilohlmuskeln jedoch erlangt seine Beweg- fähigkeit nicht vom Gehirn , sondern von den Ganglien der Brust und des Bauches, also nur das System der will-

15

kührlichen Muske’n wird durch das Gehirn regiert. Wir haben ein Recht zu behaupten , das Gehirn sei der Sitz und daa Organ des IVollens,

13.

Eben so erwiesen iat, dass es der Sitz und das Organ des Empfindens ist. Denn die Sinne sind nur die Organe der Aufnahme des äusseren Reizes der Empfindung ; diese ist nur möglich, wenn ans dem Sinn freie Leitung zum Gehirn geht. Es wäre sehr überflüssig, die allgemein be- kannten Beweise dafür zu wiederholen. Aber Empfin- dung und Wille sind Acte des Vorstellens, und es ist eben so gewiss, dass alle Fähigkeit, vorzustellen , allein im Ge- hirn begründet ist, als wir dies vom Wollen und Empfin- den wissen. Das Gehirn ist also das Organ des Vorstel- lens, wenn wir dies Wort als die Bezeichnung des Acts erklären, bei welchem das Thier sich vom äusseren unter- scheidet. Da aber in dieser Fähigkeit der Unterschied zwischen Pflanze und Thier liegt , so ist das Gehirn das Organ, durch welches das thierische Leben als solches be- gründet ist, folglich dessen Ilauptorgan. Alles das bedarf blos der Erwähnung, nicht aber ausführlichen Beweises, in- dem diese längst geführt sind und kein Mensch daran zweifelt. Ich darf daher alle die Scheinerfahrungen , aus welchen man hat, auch neuerdings wahrscheinlich machen wollen, dass das Thier im Herzen empfinde, dass seine Leidenschaften bald in der Leber, bald in den Geschlechts- organen, bald sonst irgendwo ihren Sitz haben sollen, dass sie im grossen Bauchganglion denken, ja wohl gar prophe- zeihen, dass sie durch den Nabel versiegelte Briefe lesen und was dergleichen Unsinn mehr ist, gänzlich übergehen, als grundlose Mährchen, die der Betrug der Leichtgläubig- keit auf heften wollte. Anders ist es mit Muskelbewegun- gen , die wenigstens eine Weile bei Thieren fortdauern, deren Kopf abgehauen ist.

u.

Wir nennen daher mit Recht das Gehirn das Centrum der sämmtlichen Erscheinungen des sensiblen Lebens. Denn obgleich die Ganglien unbezweifelt auch Centra von Sensibilitätserscheinungen in der vegetativen Sphäre sind , so kann doch das Gehirn als das Centrum der Ganglien selbst angesehen werden, welche sämmtlich mit dem Ge- hirn in Verbindung stehen und von ihm abhäugen. Das ganze Spinalsystem hat seinen Mittelpunkt im Gehirn und es giebt kein Ganglion, das nicht entweder mit dem Ge- hirn oder mit dem Spinalsystem mittelbar verbunden wäre. Besonders aber das Bewusstsein oder die Fähigkeit des Thiers, sich selbst von dem äusseren zu unterscheiden, ist allein durch dessen Gehirn möglich und in diesem begrün- det: alle Acte desselben, so vielfach sie sich gestalten mögen, als Empfindung, Erinnerung, Urtheilskraft, W7ille, Verstand, Phantasie, das Vermögen der Ideen, die Sitt- lichkeit, sind allein Thätigkeiten des Hirnlebens. Ebenso alle Leidenschaften, im weitesten Sinne des Worts, in welchem die sämmtlichen thierisclien Gelüste und Begier- den dazu gehören. Das Gehirn der vollkommenen Thiere besonders, aber auch das der einfachen, ist ein Aggregat unter sich verbundener Organe, und alle Mühe ist bis jetzt vergeblich gewesen, auszumitteln , welche Bedeutung jede einzelne organische Ilirnform für das Thierleben habe. Zwar ist vieles hier mit grosser Wahrscheinlichkeit be- stimmt, aber noch ist hier ein weites Feld künftiger Ent- deckung übrig.

15.

Besser ist es uns gelungen, das Gesetz zu finden, nach welchem das Leben des Gehirns wirkt. Ausser den allgemeinen Gesetzen des Lebens und der Reizbai keit ha- ben wir noch drei kennen gelernt, welche das Leben des Nervensystems und besonders das des Gehirns ausschliess-

IT

lieh beherrschen. Ausschliesslich nämlich in Absicht auf die organischen Wesen, nicht absolut; vielmehr ist da« erste und wichtigste dieser Gesetze dem völlig analog » durch welches sich das Leben der kosmischen Körper aus- sert. Es ist dies das Gesetz der Polarität oder die Eigen- schaft des Gehirns , dass von ihm Enden ausgehen , welche es mit Flächen verbinden, deren Wirkung irn Gegensatz steht mit der des Gehirns selbst, während die Leitungs- fäden, die beide verbinden, indifferent bleiben. Differenz der Wirkung der Pole und Indifferenz der leitenden Mitte ist das Wesen des Gesetzes der Polarität. Die Wirkung der Pole geschieht gleichzeitig und bei der Leitung findet sich die merkwürdige Erscheinung, dass sich verschiedene auf’s mannigfaltigste durchkreuzen können , ohne sich zu vermischen. In der Polarität findet sich keine Spur von Centripetal- oder Centrifugalkraft , und die Materie zeigt sich bei ihrer Wirkung durchdringlich ; was uns also frü- her als allgemeine Eigenschaft der Materie dargestellt ward, ist durch dieselbe aufgehoben, und die Materie ist weder schwer noch undurchdringlich, vielmehr hat sie diese beiden Eigenschaften nur in den drei niederen For- men ihrer Erscheinung , nicht in der vierten höhern Form. Denn die Materie hat vier Formen der Erscheinung. Die erste ist die solide Form, die zweite die tropfbare, die dritte die Gasform und die vierte die imponderable, in welcher sie als Magnetismus, als Licht, als Wärme und in den organischen Wesen als Nervenkraft begriffen wird. In dieser vierten Form wirkt sie nach dem Gesetz der Polarität.

16.

Dies Gesetz zeigt sich jedesmal wirksam, so oft ein Körper aus einer Form in die andere übergeht, nament- lich ist die gewöhnlich nur sehr schwache Polaritätser- scheinung beim Uebergang aus der soliden Form in di« flüssige oder der flüssigen in die solide, mit Ausnahme

2

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der Metalle , welche jedesmal heim Uebergang aus der so- liden Form in die flüssige leuchten. Das Quecksilber al- lein leuchtet dabei nicht. Stärker zeigt sie sich beim Uebergang der flüssigen Form in die Gasform, durch Tem- peraturveränderung besonders, noch stärker beim Ueber- gang der Gasform in die tropfbaren; wobei zuweilen Ex- plosion erfolgt, wenn sie plötzlich geschieht. Am aller- atärksten zeigt eie sich beim Uebergang der soliden Form in die Gasform, mit Uebergehung der tropfbaren; diese Verwandlung begleitet jedesmal Detonation oder Explo- sion. Es erhellt hieraus , dass nie ein Körper aus einer Form in die andere übergeht, ohne dass zugleich ein Theil von ihm in die vierte Form übergeht. Das Ver- brennen der Körper ist identisch mit dem Uebergang der- selben in die vierte Form, wobei die sie umgebenden Kör- per jedesmal mit verändert werden, daher das Verbrennen entweder hindern oder befördern, je nach der grösseren oder geringeren eigenen Fähigkeit zur Verwandlung. Wir nennen auch oft die Erscheinungen der vierten Form der Materie, welche sich bei Verwandlung der andern Formen «eigen , elektrische. Die Physiker suchten den Grund der elektrischen Erscheinung in einem besondern Stolf, allein »ie erkannten schon lange, dass seine Existenz höchst problematisch und dass er mit Licht und Wärme identisch sei, für welche sie auch eigene Stoffe postulirten, einen Wärmestoff, eine Lichtmaterie, während doch alle Körper im ganzen Universum sich als Licht, als Wärme thätig zeigen, wenn sie in ihre vierte Form übergehen. Es giebt gewiss keinen elektrischen Stoff, sondern der Uebergang aller Körper in die vierte Form zeigt sich als elektrische Erscheinung. Eben so giebt es weder Licht, noch Wärme- itoff, sondern alle Körper verwandeln sich in Licht und Wärme unter gewissen Bedingungen , die bei manchen Körpern leichter und öfter, bei andern schwerer und sel- tener eintreteH. Das Weltall ist Licht; durch Verwand-

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lung «leg Lichts in niedere Formen wird das Gesetz der Schwere thätig, welches die polarische Unthätigkeit hemmt.

17 .

Da* organische Leben beruht in allen seinen Entwick- lungen auf dem Uebergange der Formen der Materie. So- lide Form muss sich in flüssige , flüssige in solide ver- wandeln; damit Ernährung geschehe ; unaufhörlich strömen alle organische Körper gasförmige Flüssigkeit aus. Wenn aber jeder Formenübergang von polarischen Erscheinungen begleitet sein muss , weil jedesmal der übergehende Kör- per sich zum Theil in die vierte Form der Materie ver- wandelt, so folgt, dass eine Menge polarischer Erschei- nungen alles organische Leben begleiten müssen. Doch ist sie bei allen plastischen Thätigkeiten , allen Verwand- lungen, nur Nebensache, nur begleitend; die Verwandlung beruht nicht auf derselben , besteht nicht durch sie. Da- gegen bei allen Nerventhätigkeiten ist sie wesentlich; diese bestehen durch sie. Wir erkennen daher alle Nerventhä- tigkeit gleichbedeutend mit Entwicklung der organischen Stoffe als Licht und Wärme, sehen durch sie den eigen- thümlichen Wärmegrad der Thiere hervorgehen , den sie unter allen Umständen behaupten, so lange sie leben und begreifen die Vorstellung als Entwicklung des Lichts im organischen Stoff. Unter allen Theilorganen de« Thiers verwandeln sich dessen Nervenorgane am leichte- sten in die vierte Form der Materie ; auf dieser grös- seren Leichtigkeit beruht die Eigsnthtiraliclikeit ihrer Wir* kung und ihre Erscheinung erfolgt gemäss dem Gesetze der Polarität, welches das allgemeine ist, nach dem die Materie in der vierten Form wirkt. Ob wir daher gleich Spuren polarischer Erscheinung überall im organischen Leben wahrnehmen, eo beherrscht doch das Polaritätsge- •etz die Nervenwirkungen unter allen Lebensthätigkeiten allein.

20

18.

Mit dem Polaritätsgesetz nahe verwandt ist das Gesetz der Sympathie , wesentlich mit demselben identisch und blos eine Modifikation desselben. Seine Wirkung ist, dass eine Nerventhätigkeit eines Individuums eine ähnliche in andern Individuen erregen kann, dass also eine Art pola- rischer Action zwischen verschiedenen Individuen erweckt wird. Auf dieser Kraft oder vielmehr auf diesem Gesetz beruht die Möglichkeit der Mittheilung geistiger Thätig- keiten : die gesprochene oder geschriebene Rede des einen weckt ähnliche Vorstellungsreihen im Leser oder Hörer , als die des Redenden oder Schreibenden ; der Anblick der Leidenschaft des einen erwekt Leidenschaft in anderen ; der kräftige Wille des einen reisst die anderen mit sich fort: Die Wirkung dieses Gesetzes erstreckt sich auch

auf die Nerventätigkeiten , die das plastische Leben an- gehen ; Ein Schläfriger erregt in Andern Schläfrigkeit ; einer, der gähnt, zwingt andere zu gähnen; Lachen und Weinen, Gelüste, die sich zeigen und ihr Gegentheil ha- ben eine sich mittheilende Kraft, ja sogar krankhafte Ner- venerscheinungen , als Convulsionen, Fieberfrost ; der blosse Anblick derselben ruft ähnlichen Frost, ähnliche Convul-

i '

sionen im Zuschauer hervor. In dieser Rücksicht wirkt das Sympathiegesetz der Ansteckung in der plastischen r Sphäre analog, allein auf ganz andere Weise, denn bei der Ansteckung geht ein Stoff aus einem Körper in den andern über, der die Production gleichen Stoffes und somit die Reihe pathologischer Thätigkeiten , die mit dieser Produc- tion verbunden sind , im andern hervor bringt ; bei dieser Nervenmittheilung geht nichts materielles von einem Kör- per in andere über. In der ganzen plastischen Lebens- sphäre, wie aucser dem Gebiet des Lebendigen, ist nichts dem Gesetz der Sympathie analog: es ist also gewiss und offenbar ein eigenthümliches Gesetz des Lebens des Ge^ hirns und der Nerven,

/

a

19.

Das dritte eigentümliche Gesetz des Nerrenlebeus ist das Gesetz der Gewohnheit. Kraft desselben nimmt der Grad der Wirkung eines Reizes auf das Nervensystem stets ab, bei jeder Wiederholung desselben; die Thätig« keit , die er erregt , wird immer schwächer , endlich hört sie ganz auf, bis wieder andere Reize eintreten und die Ruhe den reizbaren Körper aufs neue empfänglich macht. Hierauf beruht die Eigenschaft des Gehirns und aller von ihm bewegten Organe, zu ermüden : während das Herz niemals ermüdet, geschieht dies sehr bald mit der Bewe- gung der willkührlichen Muskeln. Abwechslung der Be- wegung verhütet die Ermüdung auf längere Zeit. Nicht blos die Muskeln , auch die Sinne ermüden im verschiede» nen Verhältniss. Am schnellsten ermüdet der Geruchsinn; ein immer gleich fortdauernder Geruch wird sehr bald gar nicht mehr bemerkt. Auch der Tonsinn ermüdet bald, daher die einschläfernde Wirkung jedes eintönigen Geräu~ sches. Am spätesten ermüdet der Lichtsinn, doch auch dieser hört endlich auf zu reizen, wenn nicht grosse Ab- wechslung der Gegenstände ihn thätig erhält. Die ßtär» kende Kraft der Ruhe beruht auf diesem Gesetz allein ; in der plastischen Sphäre ist kein Ausruhen nöthig; Secre- tionen und Exhalation , Bluterzeugung und Ernährung , Wachsthum und Formenwandlung dauern ohne Ausruhen ununterbrochen fort. Das Gesetz der Gewohnheit ist weit wirksamer im Gehirn, als in den Ganglien; doch auch diese verlieren durch Fortdauer und Wiederholung i der Reize einen Theil ihrer Empfänglichkeit für dieselben, da- her z. B. eine Arznei viel anders wirkt , wenn , der sie nimmt, an dieselbe gewöhnt ist, als im Gegentheil, und so tausend Erscheinungen , deren einzelnes Anführen un- nütz wäre. Dass die Respirationsmuskeln , von allen die einzigen, nicht ermüden, beruht auf einer eigentümlichen Vorrichtung derselben und ist eine sehr merkwürdige Aus- nahme dieses Gesetzes.

20.

Die Thätigkeiten des Gehirns im allgemeinen sind also

a) die plastischen , die es mit allen Organen gemein hat,

Ernährung, Bildung, Wachsthum;

b) die sensiblen , deren Mittelpunkt es ist.

Das gemeinschaftliche Mittel beider, wie überhaupt die Bedingung alles irdischen Lebens, ist die Irritabilität. Gesetze seines Wirkens sind die allgemeinen der Irritabili- tät, also das Gesetz der Approximation an die Idee, im Bilden, wie im Vorstellen, dann das Gesetz der lteihen- bildung. Diese Gesetze beherrschen sowohl das plastische, wie das sensible Leben des Hirns. Die Gesetze , welche sich ausschliesslich im sensiblen Leben des Hirns wirksam zeigen, sind das Polaritätsgesetz , das der Sympathie und das der Gewohnheit. Da das erste dieser drei speciellen Gesetze jedesmal thätig ist, wenn Körper in die iinponderablc Form übergehen, so entsteht schon hieraus die Verrnu- thung, dass das sensible Leben wesentlich in Lf ebergang der thicrischen Materie in die vierte Form bestehe. Sie wird bestätigt durch die Erzeugung der thierischen Wärme, Daraus, dass sie durch gehemmten Nerveneinfluss eben so in einzelnen Theilen abnimmt, wie durch gehemmten Ar- terieneinfluss, schliessen wir mit Recht, dass das Zusam- menwirken des Nerven- und Arterieneinflusses die Bedin- gung ihrer Erzeugung sei, die Erscheinung des Fieberfro- stes und der Fieberhitze, der Entzündungshitze, der grös- seren Erwärmung durch Muskelbewegung, bestätigen dies. Denn bei allen diesen Erscheinungen sind Nerven und Ge- fässe zugleich thätig. Das« sich im Schlafe, wo die Mus- kelbewegung wegfällt, folglich eine Hauptquelle der Wär- meentwicklung weniger wirkt, als sonst, die Wärme den- noch vermehrt, ja oft bis zum Hervorbrechen des Schwin- dels, iit ein sehr starker Beweis, dass die Vegetation der Nervenmassen mit Erhöhung der Wärmeerzeugung verbun- den ist. Der Frost des Alters wird hieraus ebenfalls er-

23

klärlich, denn, im Alter nimmt die Vegetation der Hirn- massen ab. Dass Maniaci äussere Kälte nicht leicht wahr- nehmen und immer warm sind, scheint auch davon auszu- gehen , dass wesentlich bei der Manie das Verhältnis der Vegetation des Hirns zur sensiblen Action desselben verletzt ist, ohne vermindert zu sein, ich möchte nicht gern sagen, dass es erhöht ist. Dass jeder, wenn er über seine Gewohnheit hinaus sich den Schlaf entzieht, fröstelt und weniger thieri- sche Wärme entwickelt, beweist ebenfall«, dass die Vegetation des Hirns die Hauptquelle der Erzeugung thierischer Wärme ist, denn im Schlafe erhöht sich die Vegetation des Hirns; mit Hinderung des Schlafs wird zugleich Vegetation und Wärme vermindert. Wenn aber die Hirnvegetation durch die Entwicklung der thierischen Wärme sich thätig zeigt, so ist zu vermuthen , dass die Erscheinungen der Sensibi- lität , besonders das Denken , mit der Lichtentwicklung pa- rallel gehe. Verwandlung der thieri*chen Materie in Wärme ist Vegetation des Hirns , Verwandlung der thieri- schen Materie in Licht ist Denken, oder richtiger: die Vegetation ist an die Wärmeerzeugung, die Vorstellung an Lichtentwicklung gebunden. Von allen Organen des Kör- pers sind die Nervenorgane , besonders das Gehirn, am fähigsten, in die vierte Form der Materie überzugehen und dies ist der Grund, warum das Nervensystem au*- schliesslich der Träger der sensiblen Actionen ist.

21.

Noch ist als allgemeine Thätigkeit des Gehirns nach- zuholen, dass in demselben die Blntverwandlung weit schneller erfolgt, al« in allen andern Organen. Kein Or- gan erhält so viel Arterienblut, als das Gehirn, und in keinem hören die Arterien so schnell auf, als im Gehirn: kaum sind sie in die Schädelhöhle getreten, «o verwandeln sie «ich sogleich in eine unendliche Menge kleiner Ge- fässe; Stammgefässe dauern nur in den membranösen Or- ganen fort. Die arterielle Natur geht also sogleich unter,

dagegen hat das Gehirn ein sehr weiches , ja ein doppeltes Venensystem, das der Venen der pia mater insbesondere und das eigenthümliche der Sinuum der harten Hirnhaut. Die venöse Natur der Gefässe prävalirt also im Gehirn ge- waltig ; hierin ist es der Leber analog , welche ebenfalls ein doppeltes Venensystem hat , doch bei ganz anderem Verhältnis zu den Arterien. Eine Folge dieses Prävali- rens der Venen ist, dass sich nie in der Schädelhöhle Fett bildet, denn die Bedingung der Fettbildung ist überall die Prävalenz der Arterien über die Venen ; wo die Venen prävaliren , entsteht kein Fett , im Gehirn also am wenig- sten, weil da die Prävalenz der Venen über die Arterien ihren höchsten Grad hat.

Cap, II, Von der Bedeutung des Gehirns für das thierische Leben.

22.

Das Gehirn ist das Centralorgan des Systems, durch welches das Leben zum tliierischen wird. Die Pflanze ve- getirt und das Thier vegetirt, aber beide auf ganz andere Weise. Die Pflanze erhält ihre Nahrung aus der Atmos- phäre lind dem Boden zugleich, auf welchem, in welchem sie wurzelt; sie verwandelt das äussere, welches sie un- mittelbar berührt , in inneres , und die Berührung kann nicht ohne Gewalt aufgehoben werden. Sie darf also ihre Nahrung nicht suchen ; die Natur verbindet sie mit dem Körper, der sie ihr gewährt oder zuführt. Und ob sie

gleich organische Stoffe leichter assimilirt, als unorgani-

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sehe, so kann sie doch auch bestehen, wenn sie blos letz- tem sich assimilirt. Das Thier aber empfängt zwar auch seine Nahrung aus der Atmosphäre, aber nur zum Theil; ausier diesem bedarf es durchaus organischer Substanzen

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zu seiner Ernährung, aber es ist mit denselben nicht zu» sammengewachsen , wie die Pflanze. Es hat Organe, sie aufzusuchen , sicli ihrer zu bemächtigen , sie in sich auf- zunehmen , endlich sie zu verwandeln* Dazu bedarf es aber auch schlechterdings noch anderer Organe , sie zu be- wirken , was es nicht kann , ohne sie von sich selbst zu unterscheiden ; dieser Grad des Bewusstseins ist der aller- niedrigste und gemeinste Charakter der Thierheit, dicht daneben steht, dass das Thier auch das Gefühl des Nah- rungsbedürfnisses haben muss , ferner den Willen, dasselbe zu befriedigen. Ohne mich mit der Untersuchung zu be- fassen, in wie fern den Phytozoen und Zoophyten diese Charaktere 2ukommen oder nicht, bin ich genöthigt, Be- wusstsein, Begierde und Willen als die drei allgemeinsten und untersten Charaktere der Thierheit festzusetzen. Ich weiss nicht, ob diese Charaktere auch der am tiefsten ste- henden Thiere nur vermittelst eines besonderen Systems von Organen zukommen , noch weniger ob dies System auch in seiner niedrigsten Entwicklungsstufe schon ein Centrum hat. Aber wir wissen mit Gewissheit, dass alle Vertebralen diese drei Charaktere nur vermittelst ihres Nervensystems haben, dass dies nothwendig centrirt sein muss und dass das Hauptcentrum desselben Gehirn heisst.

23,

Auf der untersten Stufe stehen die Thiere , deren Nahrungsaufnahmeorgan auch zugleich Verdauungsorgan und Herz ist, deren Nahrungsorgane sich sofort aus dem Organ der Nahrungsaufnahme erheben. Eine höhere Stufe ist, auf welcher zwei Nahrungsapparate sind, einer zur Nahrungsaufnahme , ein anderer zur Nahrungsvertheilung. Sobald dieser zweite centrirt ist, hat das Thier ein Herz und wo wir dies wahrnehmen , können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit erwarten , dass wir auch ein besonde- res Nervensystem, ja wenigstens die Spur eines Central- organs desselben antreffen werden. In demselben Maasse,

26

in welchem sich das Herz und das System der Organe der Blutvertlieilung entwickelt, erhebt sich auch die Ent- wicklung des Gehirns, das also schon hierdurch als im Verhältnis von Kraft und Gegenkraft zum Herzen bezeich- net wird.

24.

Bewusstsein, Begierde und Willen setzen aber eine Menge von Organen voraus oder machen sie nothwendig. Erstens, das Bewusstsein beruht auf der Fähigkeit des Thiers , sich von dem äussern zu unterscheiden. Es muss also nothwendig das äussere wahrnehmen, dann sich selbst, und endlich diese beiden Wahrnehmungen unterscheiden. Object, Subject und den Bezug zwischen beiden muss also auch das niedrigste Thier wahrnehmen ; das ist die Grund- bedingung des Vorstellens. Schon auf sehr niedrigen Stu- fen der thierischen Entwicklung treffen wir besondere Organe an, durch die das Thier geschickt wird, das äus- sere wahrzunehmen. Sie vervielfältigen sich allmählich ; das Thier erlangt die Fähigkeit, das äussere durch mehr- fache Merkmahle wahrzunehmen; es lernt dasselbe nach seinen Tualitäten unterscheiden. Allein die Organe, zu welchen die Tualitäten des Aeussern nähere oder aus- schliessliche Beziehung haben, sind es nicht, durchweiche das Thier auch sein inneres als vom äusseren verschieden erkennt, im Gegentheil stellen sie ihm seine eigene Or- gane als Tlieile ausser sich dar. Man sagt: meine Hand, mein Auge, mein Kopf, gleich als wären dies äussere Dinge, nicht Tlieile des Subjects. Das Subject fühlt sich nicht nach Theilen, nach Tualitäten , sondern als das, was von aller Tualität verschieden ist, ihr gegenüber steht.

Weil es aber ohne alle Tualität ist, lässt es sich auch an

*

nichts nachweisen; Dinge nehmen wir wahr an ihren Ei- genschaften: das ich, das wahrnimmt, kann keine haben es ist also nur der nothwendige innere Grund der Wahrnehmung, aber nie ihr Gegenstand. Da die Sinne

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den Gegenständen gehören, deren Tualität durch sie wahr- genommen werden soll, so muss nothwendig ausser ihnen ein Organ da sein, auf welches sie sich beziehen; jeder Sinn muss sein inneres Centrum haben. Das Gehirn ist das Convolut dieser Centralorgane der Sinne, ohne Zwei- fel wiederum centrirt bei den vollkommneren Thieren. Je mehr Tualitäten das Thier wahrzunehmen fähig ist, je mehr Sinne es hat, desto mehr Organe.

25.

Zweitens, die Begierde setzt wiederum eine Menge von Organen voraus. Das Wort ist nicht recht passend , denn es involvirt den Willen, da es doch hier eigentlich nur bezeichnen soll , wodurch das Thier sein Bedürfniss wahrnimmt und fähig wird, nach den Mitteln zu dessen Befriedigung zu streben ; die Sprache scheint kein Wort zu besitzen, das dies richtiger ausdrückt, als das gewählte. Da das Bedürfniss vornehmlich in dem besteht , wodurch das plastische Leben fortdauern kann , so muss nothwendig das wahrnehmende Subject in unmittelbarer Verbindung mit den Organen der Nahrungsaufnahme stehen. Damit es Hunger und Durst empfinde, müssen sich Neivenorgane in den Verdauungscanal senken , und es muss mit diesen Organen zugleich die Fähigkeit verbunden sein , zu begeh- ren oder zu verabscheuen. Es fällt in die Augen, dass ausser dem Nahrungsbedürfniss andere körperliche Bedürf- nisse eben so dies Vermögen zu begehren erregen, nament- lich der Zeugungstrieb , der Trieb, «ich zu schützen, den Schmerz zu fliehen und so viele andere , aber der Nah- rungstrieb ist der erste, nothwendigste und allgemeinste. Je mehr sich das Thier entwickelt, desto mehr vervielfäl- tigen sich die Gegenstände des Gelüstens und Abstossens.

26.

Drittens, der Wille macht noch weit mehr Organe nothwendig. Das Thier muss zu seiner Erhaltung nicht

28

blos das Bedürfniss fühlen ; es muss auch Mittel haben , sich der Dinge zu bemächtigen , die ihm die Sinne wahr- nehmbar machen und die ihm die Begierde als nöthig zur Befriedigung des Bedürfnisses anzeigt. Diese Mittel sind die willkührlichen Muskeln und Knochen, nebst Sehnen, Knorpeln und Bändern , bei den vollkominneren Thieren in den niederen Thieren werden sie durch analoge Theile ersetzt. Die willkührlichen Muskeln müssen mit dem Ge- hirn gerade so verbunden seyn, wie die Sinne, nur dass die Richtung der Bewegung umgekehrt ist, denn der Sinn reizt das Aeussere, und er reflectirt dasselbe nach dem Gehirn; der Muskel wird vom Gehirn aus gereizt, damit er nach aussen wirke. So entsteht die Gestalt des Thiers, dessen Organe nach aussen so geschützt sind , dass der Reiz der Aussen weit nicht ausgeschlossen wird, ohne dass er jedoch das Spiel der Sinne und der Muskeln störe. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Thierformen vermehrt und verändert die Organe seines Willens unendlich. Rech- net man nun noch die Organe der Fortpflanzung hinzu, die das Thier mit der Pflanze gemein hat, während ihm Sinne, Organe des Begehrens und des Willens allein eigen sind, so sieht man, dass ein thierisches Individuum nicht anders , als sehr zusammengesetzt sein kann und einer grossen Menge von Theilen bedarf, die der Pflanze ent- / behrlich sind. Diese ist auch nicht so genau zum Indivi- duum verbunden, wie das Thier, nicht so centrirt, wie dieses.

27.

Die Organe , welche das, besonders ausgebildete, Thier^ leben nöthig macht, sind weit zahlreicher, künstlicher, als die, welche blos zu seiner Vegetation nothwendig sind. Hierdurch und räumlich sind also die Vegetationsorgane den eigentlich animalischen untergeordnet. Nennen wir die letzteren gemeinschaftlich die der sensiblen Sphäre » so wie jene die der plastischen, so zeigt eich, dass die

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sensible Sphäre weher greift, als diese, folglich einen ho« heren Zweck, eine höhere Lebensentwicklung ankündigt. Wir denken uns jedoch nur in der Theorie beide Sphä- ren als geschieden ; in der Wirklichkeit sind sie verbunden und da die Organe der sensiblen Sphäre auch vegetiren müssen, um zu bestehen, so ist offenbar, dass sich die plastische Sphäre in demselben Verhältnis« erweitert und ausdehnt, in welchem sich die sensible ausbildet und ihre Organe vervielfältigt. Das Gehirn der Thiere scheint also in viel höherer Dignität zu stehen , als das Herz, das nicht einmal das Centrum der gesammten Vegetation ist, sondern nur die Nahrungsvertheilung, während die Pro- duction der Nahrung, die Verdauung, ein besonderes Or- ganensystem hat, das gewissermassen auch centrirt ist. Das Gehirn beherrscht die weiter greifende Sphäre. Des- senungeachtet beruht diese höhere Dignität auf blossem Schein. Denn die ganze Sensibilität der Thiere hat kei- nen Zweck für sich; sie ist dem Nahrungstrieb , dem Trie- be der Erhaltung, der Verteidigung , der Fortpflanzung untergeordnet. So zusammengesetzt also die Organe des Thiers immer werden und so sehr sich seine Sinnlichkeit, sein Begehrensvermögen , die Gegenstände seines Wollens und die Mittel, sie sich zu verschaffen, auch steigern, so ist sein Lebenszweck doch immer nur ein einfacher, der- selbe, den die Pflanze auch hat, ohne alle Sensibilität. Diese ist nicht Zweck des Thieres , sondern Nüttel ; der Zweck ist die Erhaltung der Individuen und der Gattung.

28.

Von allen Thieren, von allen Geschöpfen der Erde ist der Mensch der einzige , dessen sensibles Leben , zwar eben so seiner Erhaltung dient, wie beiin Thiere, eben so auf Sinnen, Begehren und Wollen beruht, deren Ob- ject die Befriedigung der gefühlten Bedürfnisse ist , folg- lich dem plastischen Lebert eben so untergeordnet ist, aber auseer diesem untergeordneten Zwecke noch einen

30

zweiten, hohem, inneren, ihm allein eigenthümlichen hat. Er kann zwar auch keine andere Tualitäten der Dinge wahrnehmen, als die ihm seine Sinne zeigen, allein er hat das Vermögen, in die Synthese des Lebens analytisch einzugreifen und die Erscheinung aus ihren Ursachen zu entwickeln. Sein Wahrnehmen veredelt sich dadurch zum Verstehen ; er bedarf aber dieses Verstehens nicht zu sei- nem Vegetiren, sondern ein innerer Trieb nach Wahrheit und ihrer Erkenntniss beseelt ihn. Er begehrt und muss begehren, wie das Thier, allein nicht blos Hunger, Durst, thierische Triebe sind in ihm rege, sondern er ist un- gleich edlerer Empfindungen fähig. Ihn zieht die Schön- heit an ; er kann das Erhabene empfinden ; er kann Con- traste unterscheiden; er kann lieben, ohne zu begehren, sich nicht blos von dem gefährlichen oder ekelhaften ab- wenden und den Schmerz scheuen, sondern auch von dem unedlen sich zurückziehen und das Hässliche meiden* Sein Wille ist zwar auch in Beherrschung der Muskeln sicht- bar, allein er veredelt sich in ihm zum Entschluss, den nicht Gründe der Sinnlichkeit bestimmen, sondern die Idee des Guten und Rechten. Darum hat die Sensibilität des Menschen einen doppelten Zweck , einen niederen , der ihr gemein ist mit aller thierischen Sensibilität, und einen höheren, inneren, in der Sensibilität allein selbst begründeten , den er mit keinem anderen ihm bekannten Wesen theilt. Er verlangt durchaus, dass der Selbstzweck der Sensibilität den untergeordneten beherrsche und hält das Gegentheil für schlecht und verächtlich; er verlangt, dass der Mensch seinen sinnlichen Gelüsten gebiete , nicht blos sein Gelüsten der innern Gesetzgebung seines Denkens opfern, sondern selbst sein Leben und Dasein. Er erkennt als Pflicht , dass er sein inneres Gesetz höher achte, als das seiner Sinnlichkeit.

29*

Das Gehirn des Menschen ist also freier Thiitigkeit fähig, während das der Thiere nur unfreie begeht und

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auch die sämmtlichcn thierisclien Thätigkeiten des Men- schen nicht anders als unfrei sind. Ich erwähne dies im Vorbeigehen, mehr des grossen Interesse wegen, den der Begriff von Freiheit einflüsst, als weil er zur Bedeutung des Gehirns für das thierische Leben gehört ; ohne sie muss auf diesen Gegenstand zurück gegangen werden, wo der Beweis geführt wird, dass irrigerweise der Charakter kranker Vorstellungen im Mangel an Freiheit gesucht wor- den ist. Eher könnte das Gegentheil wahr sein, denn der Irre scheut nicht Gefahr noch Tod für seine Ideen und

opfert sich derselben auf. Alle lebendige Thätigkeit

geschieht nach einem Gesetz , einem Zweck. Ist dieser Zweck im Thätigen selbst, so ist die Thätigkeit frei,

folglich ist es das Gesetz des plastischen Lebens immer, denn alles Lebendige gestaltet sich nach innerem Gesetz. Weil aber die Sensibilität etwas anderes ist, als Plastik, jedoch keinen anderen Zweck hat, als dem plastischen

Leben zu dienen, so ist sie nicht frei, sondern dem pla- stischen Zweck untergeordnet , und in der ganzen Thier- welt ist die Dignität des plastischen Lebens viel höher, als die des sensiblen. Nur nicht beim Menschen: er allein bestimmt seine Sensibilitätsäusserungen ihrem innerem Ge- setz gemäss, wenn er will. Er geräth dadurch in Wider- spruch mit sich selbst, den das Thier nicht kennt, aber eben dieser ist die Beglaubigung seiner Freiheit und nur durch sie möglich. Als das erste Wesen der Erde ist er auch allein das, was sich unglücklich fühlen kann und zu- weilen muss ; Glück kann seine Bestimmung nicht sein.

30.

Die Bedeutung des Gehirns für das thierische Leben ist also im allgemeinen, dass es das Centralorgan darstelle für die Thätigkeiten , die das Thier von der Pflanze unter- scheiden ; es wird ihm nothw endig, weil es nicht wie die Pflanze mit dem Stoff und dem vermittelnden Körper sei- ner Nahrung zusammengewachsen ist, sondern ihn aufsu-

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chen muss. Damit cs ihn anfsuchc , muss es ihn wahr- nehmen; es muss ihn als ausser sich wahrnehmen. Es muss ihn begehren und damit es dies könne, muss es sein Bedürfniss fühlen. Endlich muss es die Werkzeuge brau- chen wollen , die es hat, sich seiner zu bemächtigen. So ein wichtiges System, wie das der Organe der Sensibilität, könnte nicht ohne Centrum sein, wenn es auch nicht durch die innere Natur seines Wesens ein Centrum nothwendhr er- forderte, denn jedes System gewinnt an Würde und Ein- heit, wenn es centrirt ist, und wir sehen selbst schon in der Pflanzenwelt Sphären der Centralbildung , aber im Thier sind beinahe alle, auch die rein thierischen Func- tionen, centrirt, namentlich die Verdauung im Magen, die Bildung des Excrements der Nahrung sogar im Blind- darm, die Fötationskraft im Uterus; das Herz ist nicht das einzige Centrum in der vegetativen Sphäre. Das Ner- vensystem muss aber centrirt sein, weil es nach dem Ge- setz der Impendrabilien polarisch wirkt, folglich ein inne- rer Pol unumgänglich nöthig ist, und ungeachtet es in den niedern Thieren vielpolig ist, ohne dass man ein Ue- berlegensein eines Pols über den andern nachweisen kann, so tritt doch schon in ziemlich niedern Stufen der thieri- schen Entwicklung kein Pol über die andern vor, in den Mammalien und Vögeln aber ist die Ueberlegenheit des Hirns schon auffallend und gewaltig* Das Nervensystem bleibt auch im Menschen ein vielpoliges Ganzes, dessen Gehirn aus einer Menge von Massen besteht, die alle po- larisch wirken und sich alle auf Einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt der ganzen Masse beziehen.

31.

In Absicht auf das vegetative Leben allein ist die Be- deutung des Hirns ausserdem, dass das Thier der beson- deren Weise seines Lebens noch der Sensibilität bedarf, noch doppelt wichtig :

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a) als Centrum der Muskelbewegung, die da* Leben überall fördert, aber ganz besonders in jedem Augenblick der thierisclien Existenz nöthig ist zum athmen. Die \ er- wandlung des Nahrungssaftes in Blut geschieht bei allen 'filieren, die ein doppeltes Herz haben, allein durch den Einfluss der Atmosphäre uiid es ist ein besonderes Organ der Blutbereitung vorhanden, das, grosser Ausdehnung und Zusammenzieheng fähig, der Atmosphäre Eingang > er- stattet, damit in ihm das Blut in die möglichst grösste Berührung mit derselben komme. Die Art der Einwirkung der Atmosphäre in den Nahrungssaft ist noch nicht hin- reichend bekannt. Aber dies Organ der Blutbereitung kann selbst nicht muskulös sein, muss jedoch mit muskulösen so verbunden sein, dass es durch ihre Mitwirkung leicht aus- gedehnt und zusammengezogen weiden kann. Dieser TJieii der Muskelbewegung ist der allerwichtigste für das Leben des Thiers und desswegen durch besondere Vorrichtungen ausgezeichnet und gesichert, zugleich ist er das innigste Band zwischen dem sensiblen und plastischen Leben ; er- folgt daher der Tod vom Gehirn aus, so stirbt das Herz durch Lähmung der Inspirationsmuskeln.

b) Durch Bestimmung der Qualität der Absonderun- gen. — Es ist zwar möglich, dass der allgemeine Nah- rungssaft aufs mannigfaltigste sich verändert ohne allen Nerveneinfluss; in der Pflanze verwandelt er sich in eine Menge von Formen und Flüssigkeiten ohne diesen. Aber das Thier sondert aus dem Blute des qualitativ verschie- denen nur durch den Antheil der Nerven ab, die sich mit den Absonderungsorganen verbinden und dies ist die zweite Ha tiptverbind ung zwischen der sensiblen und der plasti- schen Lebenssphäre. Das Wort Absonderung ist ein sehr übel gewähltes, das auf den falschen Begrif führt, als sei das Secreturn schon vorher im Blute vorhanden und diese nur ausgeschieden worden ; wirklich haben die Ae rate durch diesen groben Irrthum sich häufig verlocken, ja zu

ganz falschem praktischen Verfahren verleiten lassen. Jede

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Absonderung ist eine Zeugung, eine synthetische Produc- tion eines Neueren, eine Verwandiung des Blutes, und diese wird im Thiere nur möglich durch Nervenantheil, daher die Secretion sich durch Veränderung der Nerven- thätigkeit augenblicklich vermehren oder verändern kann. Zwar nicht das Gehirn unmittelbar, sondern die Ganglien, kleine durch den Thierkörper vertheilte Gehirne, üben diesen Nervcneinflus* auf die Secretionen aus ; weil aber alle diese Ganglien selbst unter der Herrschaft des Enke- phalons stehen, so ist er doch durch das Gehirn begrün- det. Es giebt noch mehr und vielfache Verbindungen zwi- schen dem plastischen und sensiblen Leben, allein diese beiden sind die richtigsten und die übrigen bedürfen keiner besonderen Erwähnung«

Cap. III. Von der Entwicklung des Ge- hirns durch die Thierreihen.

32.

Man erwarte in diesem Capitel keine Wiederholung dessen, was Carus, Burdach und andere mit uniibertreft- licher Genauigkeit dargethan haben, worin sie Cuvier und andern grossen Forschern gefolgt sind ! Nur einige kurze Bemerkungen schienen mir aus den Tliatsachen henorzuge- hen , die die Natur und Bedeutung des Hirns erklären. Die Frage, ob die Sensibilität ausschliesslich an die N'er- ▼enbildung gefunden ei, gehört auch nicht hierher; in den vollkommenen Thiercn ist sie es und wenn es Thiere der niederen Reihen giebt, in denen sie durch das ganze Thier vertheilt scheint, so beweist dies nichts, als dass die Mannigfaltigkeit der Natur keine Gränzen hat. ln den niedrigsten Thieren giebt es kein Ilirn ; ich möchte be- kämpfen, dass es eigentlich nur erst in den Vertebralen

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existire. Zwar innere Nervereentra für Sinne und Mus- kein haben auch die Insccten olnie Zweifel; sie haben ei- nen Kopf und schon darum ist wahscheinlich , dass sie auch ein Hirn haben. Aber wie ihr Herz nur ei i Analo- gon des Herzens der Vertebralen ist, so auch ihr Hirn, ln den filieren der niederen Reihen scheint das Ganglien- System vollkommen das Gehirn zu ersetzen und ein ge- meinschaftliches jNervencentrum ganz entbehrlich zu ma- chen.

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Selbst in den unteren Reihen der Vertebralen scheint ein gemeinschaftliches IVen encentrum noch gänzlich zu feh'en. Der Unterschied zwischen Rückenmark und ver- längertem Mark wird noch nicht durch eine Umbeugung angedeutet das Rückenmark setzt sich noch geradlinigt in die Schädelhohle fort. Aut demselben sitzen in den unteren Fischgeschlechtcrn sechs warzenShnliehe Erhöhun- gen, ohne andere Verbindung unter sich, als die durch das Rückenmark; die zwei vorderen geben den Geruchsinn, die zwei mittleren den Lichtsinn, die zwei hinteren den Tonsinn an. Das Rückenmark ist aber so auffallend der überlegene Ccntraltheii der Ncrvenmassen , dass das Hirn nur wie ein Rudiment erscheint, das zu höherer Ausbil- dung in anderen Thieren bestimmt ist. Dei den Amphibien bildet sich das Hirn schon viel vollkommener aus; das vordere Massenpaar wird schon hohl, steht in Verbindung unter sich , verwächst wohl gar und überwächst merklich die übrige Masse des Enkephalon. Asch die Vcrbindungs- faden mit den Ganglien der grossen Itahlen vervielfältigen sich. Das ganze Gehirn wird grösser und bockender ge- gen das Rückenmark, ln den Vogelgeschlechtern ist die Ausbildung des Gehirns äusserst verschieden. Bei den langhaisigen Schwimmvögeln ist die Ueberlegenheit de# Rückenmarks noch sehr ae»Lllcnd ; bei den Singvögeln ist es die des Hirns, das bei einigen von ihnen sogar grösser

s *

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im Verhältniss zum Körper wird , als beim Menschen. Was aber alle Vogelgehirne gemeinschaftlich auszeichnet, ist, dass die Ilirnganglien viel grösser und ausgebildeter sind, als die Hemisphären. Daher gelingt die Nachahmung der Flourensschen Experimente bei Vögeln, aber nicht bei Säugethieren. Sie scheinen also ein ganz anderes Sensibi- litätsleben zu haben, von welchem uns unmöglich ist, ei- nen Begriff zu fassen.

34.

Unter den Quadrupeden bildet sich das Hirn endlich stufenweis vollkommen so aus, wie das menschliche: es hat niemand gelingen können, auch nur ein einziges Organ im Menschengehirn zu finden , was nicht im Thiergehirn gleichfalls vorhanden ist. Das ist sehr merkwürdig und beweiset, dass die Vorzüge des menschlichen Denkens nicht auf besonderen Formen beruhe. Indessen, wenn gleich das Thiergehirn eben so viel Organtheile hat, als das menschliche, fo ist dies doch in vielen wesentlichen Dingen weit von allen Thiergehirnen verschieden. Die in die Angen fallenden Hauptunterschiede sind:

a) Es ist sehr viel grösser im Verhältniss zu dem Rücken- mark und dem ganzen übrigen Nervensystem, als jedes an- dere. Besonders auffallend ist die Kleinheit des mensch- lichen Rückenmarks, das sich mit dem thierischen gar nicht vergleichen lässt: es setzt sich nicht einmal durch die ohnehin kurze Wirbelsäule fort, sondern zertheilt sich in Fäden, wo die Lendenwirbel beginnen. Die absolute Grösse des Gehirns des Menschen ist auch sehr viel be- trächtlicher, als bei jedem andern Säugethier, allein es giebt Vögel, t\M ein noch grösseres Hirn haben, wie schon mehrmals erwähnt worden.

b) Der Mensch hat unter allen Thieren bei weitem die grössten Hemisphären. Das Verhältniss der Organe, die das Hirn bilden, ist bei ihm ganz anders. Die Hemi- sphären ducken ander« Ilirntheile und wickeln sie ein;

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besonder» gross sind die hinteren Loben der Hemisphären, die tief in den hintern Thcil der Schädelhöhle hinabragen und d as kleine Gehirn völlig bedecken, was bei keinem Thiere bedeckt ist. Erwägt man , dass gerade diese hin- teren Loben auch am meisten geschützt sind, dass hier der Schädel am stärksten und von aussen behaart ist , so sollte man meinen, in diesem müsste der wichtigste Theil der menschlichen Talente und Vorzüge basirt seyn, wenn alleweg jeder Theil der Hemisphären eigenthümliche Be- stimmung hat, wie Gail wollte, nicht alle gleich wirken, wie Fiourens behauptet.

c) Die Gyren des menschlichen Gehirns sind viel zahlreicher, die Gruben zwischen ihnen viel tiefer, als bei jedem Thiergehirn. Wenn man sich die graue Sub- stanz, die das Gehirn überzieht, als eine Membran denkt 1 und diese entwickelt sich vorstelit, so wäre sie ohne allen 1 Vergleich grösser, als die gleiche Membran eines Thier- 5 gehirns. Man will bemerkt haben , dass sehr talentvolle 1 Menschen auch weit mehr und feinere Gyren, tiefere 1 Furchen, folglich eine noch viel grössere Oberfläche der Hemisphären haben, als andere, denen besondere Talente ' abgehen. Indessen kann ich das nicht bestätigen. Ich

* habe nicht leicht ein Gehirn gesehen , das feinere , zahl- reichere, schönere Gyren und tiefere Furchen hatte, als

das eines Edelmannes, der, in Pommern geboren, ins Ca- to dettenhaus kam, alsdann Officier wurde, aber als Lieute- to nant schon den Abschied nahm, weil seine Trägheit sich e durchaus nicht mit dem Dienste vertrug, dann eine gute !• Weile auf seinem Landgut lebte, endlich aber in Blödsinn

verfiel, der sich durch grosse Apathie äusserte und in m diesem Zustande starb. Am liebsten lag er den ganzen Tag im Bette. Er rauchte gern Tabak, konnte sich aber m oft Stundenlang nicht entschliessen , die Pfeife zu stopfen, !, oder die gestopfte anzuzünden.

i' d) Die Zirbeldrüse des Menschen ist viel kleiner, i} welker, als die jedes andern Thiere®, dazu meist sandig.

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Wir wissen die Bestimmung dieses mit grossem Unrecht Drüse genannten Ilirntheils nicht, sie muss sich aber blos auf das Thierleben beziehen, denn beim Menschen ist sie vernachlässigt. Das Centralorgan der Denkkraft ist sie gewiss nicht, wie einmal französische Philosophen meinten.

e) Der Balken ist länger und stärker, überhaupt sind es die Centraiorgane, die die Verbindung beider Hemi- sphären bilden, die Commissuren der beiden Hirnhälften. Wir kennen aber auch hiervon nicht die besondere Be- deutung.

f ) Da die Hemisphären viel länger und grösser sind, io sind es auch die beiden Seitenventrikel, deren Beu- gung zugleich grösser und krümmer ist, als in anderen Gehirnen, z. B. in dem des Affen.

g) Die graue Substanz , die die obere Schicht des Hirns ausmacht, ist im Menschen dünner, als bei den Quadrupeden ; das Thiergehirn hat im Verhältnis« zur Marksubstanz mehr graue Substanz, ais der Mensch. Wir vermuthen, dass die graue Substanz sich vorzüglich da- durch von der Marksubstanz unterscheidet, dass sie viel zahlreichere kleine Gefässe enthält.

35.

Eine uns vollkommen unverständliche Erscheinung ist die Pulsation des Gehirns. Dabei muss ich bemerken, dass ich das Gehirn der Vögel nicht habe pulsiren sehen, wohl aber das aller Quadrupeden, die ich untersuchen konnte ; ich will damit indessen dem Vogelgehirn das Pui- siren nicht absprechen; es an meiner Ungeschicklich- keit im Experimenliren liegen, dasi ich es nicht gesehen habe. So oft ich es beobachten konnte, schien es mir, als wenn die Pulsation keine mitgetheilte Bewegung sei, die ihren Grund im Stoss haben, den die Karotiden und die Vertebralarterien ausüben , wie man gewöhnlich glaubt, doch ist sie mit dem Puls der Arterien gleichzeitig. Aber

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die Bewegung sieht aus, als wenn sich das Hirn peripherisch entfalte, nicht von unten nach oben gehoben würde. Ein anderer Umstand, der zweifelhaft macht, dass diese Be- wegung eine milgetheilte sei, ist, dass die Pulsation an der Stelle, wo ein Extravasat liegt, sofort auf hört. Wäre sie passiv, so müsste diese Stelle so gut gehoben werden, als die andere. Es scheint also, dass die Ursachen der Pulsation sich noch nicht völlig sicher beurtheilen lassen, so wenig als wir ihren Nutzen, ihre Bedeutung - wissen. Deshalb scheint es auch gar nicht sonderlich der Mühe werth, über diese Erscheinung grosse Untersuchungen an- zustellen.

Cap. IV. Entwicklung und Thätigkeit des menschlichen Gehirns.

30,

Im Fötus ist das Gehirn blos vegetlrendes Organ; der Fötus ist noch blos Pflanze und hat gar keine Sensibilität. Es muss daher befremden, dass sein Gehirn sich stärker und grösser entwickelt, als fast alle andere Tlieile , und man sollte meinen, das Gehirn müsse für sein Leben Be- deutung haben. Dass dies aber nicht der Fall sei , bewei- sen die Missgeburten, die ohne Gehirn oder mit höchst unvollkommenen dennoch die Reife zur Geburt erleben. Das Fötalleben ist ein vorbereitendes und wie das Auge schon gross und sehr vollständig sich in ihm entwickelt, ohne ihm zur Zeit zu nützen, so auch das Gehirn. Es verträgt ziemliche Beleidigungen meist ohne Nachtheil ; bei der , Geburt wird es gedrückt, in eine ihm ganz wider- sprechende Form gepresst, bei nöthigen Kunsthülfen oft bedeutend beleidigt, ohne dass immer der Tod darauf folgt. Die Kopfgeschwulst des Fötus, Folge lange dauern-

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den Anpressens an die Beckenknochen , ist mit Extravasat unter der harten Hirnhaut verbunden, wahrscheinlich auch bei den am Leben bleibenden Kindern so gut als bei de- nen, die das anatomische Messer untersucht, aber deshalb bleiben doch viele Kinder mit Kopfgeschwülsten lebendig; die Geschwulst verschwindet in Kurzem , ohne Zweifel auch die« Extravasat. Die bei der Geburt verschobenen Kopfknochen nehmen wieder die Form an, die das Gehirn ihnen giebt, denn alle Bildung geschieht von innen nach aussen. Verschiebbar müssen aber die Knochen des mensch- lichen Fötuskopfes sein , sonst könnte er bei seiner Grösse nicht geboren werden. Der Kopf der Knaben ist etwas grösser, als der der Mädchen, deshalb sterben auch mehr Knaben als Mädchen bald nach der Geburt, denn zuweilen setzt doch der Druck auf das Gehirn das Leben in Gefahr. Die inneren Theile des Fötusgehirns sind ungefähr eben so gebildet und auch ziemlich in demselben Verhältnis«, wie im Erwachsenen ; blos das Cerebellum ist etwas grös- ser und seine Höhle weiter.

37.

Das erste, was das Gehirn gleich nach der Geburt ausübt, ist , dass es das Spiel der Ilespirationsmuskeln in Bewegung setzt, namentlich des Zwergfeiles, der Zwischen- rippenmuskeln und der Bauchmuskeln. Von nun an hört es das ganze Leben durch nie wieder auf. Experimente weisen nach , dass es in dem verlängerten Mark seinen Sitz hat. Zur Sinnlichkeit erwacht das Kind sehr lang- sam; es ist keiner absichtlichen Bewegung fähig, während das geborne Thier eine Stunde nach der Geburt schon ge- hen kann. Das Kind lernt es erst im zweiten Jahre und dann noch lange sehr unvollkommen. Die Natur hat nichts nothwendigeres zu thun, als dass sie für die Vegetation des Kindesgehirns sorgt ; es wächst im ersten Jahre , in den ersten Monaten gleich, «ehr viel mehr, als alle an- dere Organe. Im zweiten Jahre schliessen eich die Kopf-

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knochen, oft schon im ersten. Bis zum dritten Jahre wächst immer noch das Gehirn stärker, als die andern Theile ; bis zum siebenten Jahre nimmt dies Wachsthum allmählich ab. Dafür hört auch der Kopf eher auf zu wachsen, als andere Theile: mit dem fünfzehnten Jahre hat er sein Wachsthum vollendet; blos das Körpersystem verändert sich noch, ln Absicht auf die sensiblen Thätig- keiten sind die des Gangliensystems die ersten , die er- wachen; das Kind fühlt Hunger und Durst, auch wohl Schmerz, wenigstens Unbehagen, und drückt dies durch Schreien aus. Der reife Fötus zeigt das Nahrungsbediirf- niss sehr bald nach der Geburt an , der unreife später.

38.

Lichtsinn und Tonsinn erwachen ziemlich zugleich, erstere ein wenig vor diesem ; am spätesten erwacht der Geruchsinn, der überhaupt beim Menschen eine unterge- ordnete Rolle spielt. Das Kind erwacht zur Empfindung des äussern später als es zum Gefühle seines Zustandes erwacht; der Sinnenreiz aus dem Gangliensystem geht den äusseren voraus. Wann sich der Tastsinn entwickelt, ist schwer zu sagen, vermuthlich früh, im Verhältniss der Reize. Doch vergeht ein voller Monat, ehe das Kind deutliche Zeichen giebt, dass es bekannte und unbekannte Dinge unterscheide, dass es seine Glieder nach Absicht bewege. Unter den drei Charakteren der Thierheit hat es also zuerst nur den der Begierde; Wahrnehmung des äusseren folgt später und Wollen noch später. Schlafend verlebt es die erste Zeit; endlich zeigt es zwar das Ver- mögen, Dinge zu unterscheiden, aber sie erregen nur Lust und Unlust. Der erste und einzige Gebrauch, den es lange von seinen Händen macht, ist, dass es alles ergreift, um es in den Mund zu stecken. Die Sprache beginnt ihm nach dem ersten Jahre möglich zu werden, aber sie bleibt lange ein unverständliches Lallen von blossen Hauptwör- tern, ohne richtige Verbindung; erst im vierten Lebens-

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jahre ist es dieser fähig, aber bis zum siebenten bedient es sicli noch nicht der Fürwörter und im Compariren hat es noch keinen Superlativ. Doch lernt es vom dritten Jahre an endlich gehen und sich der Ilände bedienen ; bis dahin macht es nur Versuche. Allein noch ist es blos Thier; der Vorzug der Menschheit ist in ihm noch nicht entwi- ckelt. Es fehlt ihm also das analytische Vermögen, die Bemerkung des Maases der Zeit, des Raums, das Vermö- gen der Ideen, das ästhetische und sittliche Gefühl, das Urtheil über sein Verhältniss zu Menschen und Dingen. Aber seltsam genug; Eine Eigentümlichkeit des Menschen, von der man glauben sollte , sie sei Folge des Vermögens der Ideen, entwickelt sich schon sehr früh, schon im drit- ten Lebensjahre der Glaube, dass es ausser dem Men- schen noch Wesen von höherer Kraft gebe. Diesen Glau- ben hat schon das Kind und es bedarf nur des geringsten Anlasses, um sich als Gespensterfurcht zu entwickeln. Die ganze Menschheit hat diesen Hang zum Aberglauben, weit früher als sich selbst die Phantasie entwickelt; es giebt keine Ueberzeugung, die tiefer im Menschen liegt, ob sic gleich gegen alle Erfahrung ist.

39.

Vom siebenten Jahre bis zur Pubertät erwachen die menschlichen Fähigkeiten, eine nach der andern. Das ße- diirfniss des Gehirns, ausschliesslich zu vegetiren, nimmt ab; die Zeit des Schlafes wird kürzer -und die Perioden des Wachens länger. Von thierischen Trieben sind zwei erwacht, der JNahrungstrieb , der gleich von der Geburt an thätig ist und zwar endlich schwächer wird, doch nur mit dem Leben zugleich endet, und der Trieb zur Thätigkeit. Das Kind will und muss thätig sein; da es unfähig ist, sich menschlich zu beschäftigen, so spielt es; dieser Thä- tigkeitstrieb wird vom siebenten Jahre an noch stärker; er begann schon im ersten Jahre. Das Erinnerungsvermögen ist zwar schon gehr früh thätig, allein höchst schwach

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und unvollkommen ; vom siebenten Jahre an erlangt es seine grösste Vollkommenheit, die es behält bis zur Ent- wicklung der Pubertät. Es steigert sich auch jetzt sehen zur Phantasie, zur willkiihrlichen Zusammenstellung von Erinnerungen, ohne Bewusstsein der Zeit und des Ver- hältnisses des ersten Eindrucks, und da der Mensch sich immer in seinem Wirken gefällt, so liebt das Kind diese Phantasiespiele, die es darstellt, als wären sie wirklich. Mit Unrecht nennt man dies Lügen; dazu wird es nur, wenn das Kind aus Eigennutz erdichtet. Den Phantasieen der Kinder fehlt übrigens noch Wärme und Zusammen- hang. Auch das Urtheils* ermögen zeigte sich schon früh, doch später, als beim Thiere, denn das kleine Kind steckt oh ne Wahl und U nterschied alles in den Mund, während das Thier gleich nach der Geburt im Stande ist, seine Nahrung zu wählen. Mit dem siebenten Jahre jedoch er- langt die Urtheiiskraft viel mehr Bestimmtheit und Klar- heit und cs dämmert die Sittlichkeit auf, denn das Kind fängt an zu fühlen , dass es seine Begierde durch seine Urtheiiskraft zu beherrschen schuldig sei ; es lernt also seine Begierde verbergen, und nur dann befriedigen, wenn es urtheilt , dass es jetzt recht sei oder dass es unbemerkt von andern geschehen könne. Der zweite Glauben des Menschen erwacht, der, dass er etwas anders thun solle , als was er thun möchte . Niemand lehrt ihn das, niemand g’ebt ihm das Gesetz dieses Sollens ; es liegt in ihm selbst und erwacht schon im siebenten Jahre, aber er hat die unzerstörbare Ueberzeugung , dass er schlecht werde durch Uebertretung dieses Gesetzes und dass dessen Erfüllung ihm Ehre mache. Die Ehre wird ihm heilig, heiliger als sein Leben* Nur der Mensch von allen Wesen, die wir kennen , hat Ehrgefühl ; er verdankt es diesem zweiten Glauben, der ihm angeboren ist, der sich aber nicht vor dem siebenten Jahre in ihm entwickelt. Das Vermögen der Ideen erwacht zugleich , bestimmt sein Urtheil und giebt ihm eigenthümliche Form. Die sinnliche Erschci-

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nung lernt er nach Zeit und Raum bestimmen und messen; bis dahin erschien ihm das Gradverhältniss der Dinge als blosse Qualität, er wird nun des quantitativen Urtheils fähig und erkennt das Verhältniss der Dinge nach Zeit und Raum, ln seiner Sprache bedient er sich nun des Superlativs, den das Kind unter sieben Jahren nicht kennt, überhaupt kommt logische Ordnung in seine Sprache.

40.

Mit dem Erwachen der Pubertät gellt eine neue Epo- che des Lebens an. Man würde sehr irren, wenn man glaubte, der neue Trieb, der zu dem Nahrungstrieb und dem nach Tliätigkeit hinzutritt, sei allein Ursache der entstehenden Veränderungen ; vielmehr sind sie die Folge des jetzt mit einemmal sehr zunehmenden Wachsthums, das das ganze Verhältniss der Organe verändert. Der Kopf wächst, aber weniger, als verhältnissmässig der übrige Körper; er vollendet jetzt sein Wachsthum, während letz- terer noch lange fortfährt, sich in Länge und Breite aus- zudehnen, beim Mann bis gegen das dreissigste Jahr. Das wichtigste, was geschieht, ist, dass der Jüngling sich nach einer bestimmten Richtung seines Thätigkeitstriebes sehnt, da ihm vorher ziemlich alles gleich war, womit er diesen befriedigte. Er nimmt ein viel grösseres Interesse an den Dingen. Aus der unbefriedigten Sehnsucht entsteht die düstere Stimmung der Jugend, das Schwärmerische, zu dem sie neigt, bei aller Fröhlichkeit, die oft hervorbricht. Das Ehrgefühl wird lebendiger, jede Leidenschaft feuri- ger. Der Eindruck, den das äussere macht, verbindet sich mit der Sehnsucht nach einem unnennbaren Ziele, und leiht den Dingen viel tiefere Bedeutung, als der Knabe erkannte, und als sie in den Augen des Mannes haben. Die Erinnerungskraft mehrt sich nicht, ja es scheint, als wenn sie sogar abnähme, allein die Objectenreihe, die dem Jüngling interessanter als andern wird, die er mit aller Kraft seines Wesens umfasst, erschöpft er viel tiefer, als

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es der Knabe vermochte. Die Phantasie, die sich im Kinde blos in lebendigen und abwechselnden Zusammenstellungen ergötzt, nimmt nun eine bestimmtere Richtung und ihre Schöpfungen erhalten festere Umrisse. Das sittliche Ge- fühl wird lebhafter, reiner, zu Aufopferungen geneigter*

i

Der Thätigkeitstrieb scheint abzunehmen ; der Jüngling verschmäht, sich mit etwas zu beschäftigen, was ihn nicht interessirt ; lieber mag er nichts tliun. Die JNoth, das Schicksal, die Willkühr bestimmen oft das Ziel der Rich- tung der Thätigkeit des Jünglings; widerspricht dies zu *ehr seiner Neigung, so empört er sich wider den Zwang, mag lieber gar nichts thun und geht zu Grunde. Indessen ist er selber fähig, sich selbst einen Kichtuugspunkt zu wählen; wohl dem, der mit Klugheit, Ernst und Liebe geleitet wird nach einem Ziele, das er lieben lernt!

41.

Allmählig entwickelt sich im Menschen der Sinn für das Verhältnis® der Dinge immermehr. Die Erinnerungs- fähigkeit nimmt ab, noch mehr die Phantasie; dafür wer- den die Ideen fester, bestimmter und richtiger, weil sie den Verhältnissen der Dinge mehr angepasst werden. Der Thätigkeitstrieb hat nun entschiedene Richtung genommen und auch die Thätigkeit, von der Gewohnheit unterstützt, wird regelmässiger. So währt es lange fort, bis der Mensch in seine Gewohnheiten, seine Ansichten, seine Verfah- rungsart, seine Ideenverbindungen gleichsam fest wächst und die Fähigkeit verliert, sich in anderen zu bewegen. Es wird immer einseitiger, darum immer strenger gegen andere, immer ärmer an Phantasie, sein Erinnerungst er- mögen immer beschränkter. So schreitet er allmählich dem Alter zu, in welchem der Sinn für die Verhältnisse der Dinge allein prävalirt, die Kraft der Triebe abuimmt, auch der Thätigkeitstrieb erschlafft und nur aus Gewohnheit an bestimmten Objecten sich noch übt, endlich das Erinne- rungsvermögen ganz stumpf wild und so das Material der

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Vorstellungen immer ärmer macht. Das Gehirn, das im Kinde am stärksten wuchs, im Jüngling sein Wachsthum eher vollendete, als alle andere Organe, stirbt früher ab, als das vegetabilische Leben erloscht, wenn nämlich das Leben sein natürliches Ziel erreicht und nicht vor der Zeit unterbrochen wird. Nächst der Erinnerungskraft sinkt die Uriheilskraft, dann die Perceptionski aff, die zu- gleich mit den Sinnen stumpf wird ; das Vermögen der Ideen bleibt länger thäiig und der Glaube an iiohere We- sen, an die sittliche Würde des Menschen, an die Reli- gion, die im ersteren die Gewähr des letzteren kennen lehrt, bleibt das letzte, was dem Greis am Rande seines Daseins noch Interesse gewährt. Jetzt zeigen sich auch sinnliche Veränderungen in der Ilirmnasse ; sie w ird zäher, gelber, die Gelasse, mit welchen sie durchweht ist, wer- den sichtbarer, weiter.

42.

Um die verschiedenen Thätigkeiten des Gehirns ge- nauer kennen zu lernen, müssen wir zuerst den Unter- schied zwischen denen ins Auge fassen, die allein dessen Vegetation zum Zweck haben, und denen, die dem sen- siblen Leben angehören. Die erstem sind dessen Bildung, dessen Ernährung, dessen Wachsthum, dessen Erhaltung und dessen Zerstörung. Die zweiten unterscheiden sich zuvörderst nach der Dichtung, die liier, als bei polarischen Actionen, ganz besonders in Betracht kommt. Danach sind sie entweder von aussen nach innen, oder von innen nach aussen gerichtet. Von aussen nach innen gerichtet nennen wir die Thätigkeiten , zu welchen der Beiz ausser- halb dem Gehirn ist; von innen nach aussen die, deren Reiz im Gehirn ist, während die Thätigkeit ausserhalb ge- schieht. Hierdurch sind Empfindungen und Willensäusse- rungen unterschieden. Zwischen beiden stehen, die dem Gesetz der Reihenbildung gemäss sich innerhalb des Ger- hirns allein bewegen, weder Empfindungen sind, noch da-

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rauf zielen, die Muskeln zu bewegen, also bei weitem der grösste und wichtigste Theil der Hirnthätigkeiten des Men- schen. Da «Ile nach dem Polaritätsgesetz erfolgen, so se- tzen wir voraus, dass innerhalb des Gehirns selbst eine Fortleitung bestehe, kraft welcher die Thäfigkeit eines Ilirntheils die eines anderen aufregt. Wir haben sogar einen sinnlichen Grund zu dieser Voraussetzung, da wir im Gehirn Organe sehen, deren Bestimmung offenbar das Fortleiten der Thätigkeit ist, Apparate, die blos zur Ver- bindung der Organe dienen.

43.

Mit der Aussenwelt ist das Gehirn nirgends in Berüh- rung, vielmehr aufs Sorgfältigste gegen sie geschützt. Es ist wohl möglich, dass Hitze, Kälte diese schützenden Ap- parate durchdringen und überwältigen; ob dies auch von Gasarten gelte, oder von imponderablen Actioncn, wie die Magnetisten und die Mystiker behaupten, muss durch Er- fahrung entschieden werden, die bisher widersprochen hat. Es ist nur zweierlei Reizen zugänglich, dem der Sinne und dem des Blutes. Wir können nicht sagen, dass dieser allein die vegetativen und jener allein die sensiblen Thä- tigkeiten bestimme, sondern nur, dass der Blutreiz viel stärker und öfter der Vegetation, der Sinnenreiz viel stär- ker und öfter der Sensibilität diene. Beide Reize wir- ken sich entgegengesetzt, doch sind beide gleich nothwen- dig. Dem Gesetze der Gewohnheit gemäss muss der eine den andern zuweilen und zwar in last regelmässigen Pe- rioden so schwächen , dass er ihn beinahe ausschliesst. Dominirt der Blutreiz, so schläft der Mensch, dominirt der Sinnenreiz, so wacht er. Die Gränzzustände sind die der Schläfrigkeit, wo der Sinnenreiz zwar noch prävalirt, aber schwächer wird, und des Traums, wo der Blutreiz zwar noch prävalirt, aber der Sinnenreiz mitwirkt und das sensible Leben aufregt. Der Blutreiz bleibt immerfort wirksam, aber er wird nicht immer gleich stark percipirt,

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darum erregt er auch nicht immer gleich starke Thätig- keit. Diese besteht aber immer, ihrem bei weitem grösse- ren Theiie nach, im Vegetiren, das folglich in der Zeit des Schlafes sehr viel kräftiger und vom Sinnenreiz unge- stört erfolgt, als im Wachen, ob es gleich in diesem nie aufhört. Eher kann die Wirkung des Sinnenreizes in ganz tiefem Schlafe völlige Pause machen. Die Wirkung des Sinnenreizes ist Ermüdung , der Zustand, in welchem der Reiz, wenn er nicht im Grade verstärkt oder in der Art verändert wird, aufhört, innere Thätigkeiten zu erregen; somit fängt der ihm parallele Blutreiz an, mächtiger zu werden und am Ende so vorzuherrschen, dass keine sen- sible Thätigkeit mehr merkbar ist, als allein die Respira- tion, die einzige, die niemals ermüdet. Aber das Gehirn ermüdet auch für den Blutreiz; durch grössere Ernährung gestärkt wird es wieder empfänglich für den Sinnenreiz, der schon zu wirken beginnt, den Morgentraum erregt und nur der geringsten Verstärkung bedarf, um das Er- wachen zu bewirken. Wir müssen bei der Diätetik, der Pathogenie und der Therapie des Gehirns auf diesen Ge- genstand zurück kommen, dessen erste Gründe ich hier kurz dargestellt habe.

44.

Der Sinnenreiz ist zuerst verschieden nach den ver- schiedenen Sinnen. Davon hat der Mensch sechs, nämlich drei, die in Entfernung wirken, Gesicht, Gehör, Geruchs zwei, die durch unmittelbare Berührung wirken, Geschmack und Gefühl; und einen inneren, der nichts ausser dem In- dividuum zum Object hat, sondern die vegetative Sphäre, das plastische Leben , seine Bedürfnisse und Begierden. Jedem Sinn ist ein besonderes Organensystein gewidmet; W'ir kennen die der fünf äusseren Sinne ; das des sechsten ist das System der Ganglien der Brust- und Bauchhöhle. Alle Sinne wirken, indem ein Reiz auf die IVervenl'achen erfolgt, die sich dem Aeussern darbieten, und gleicluei-

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tig , nach dem polarischen Gesetz, eine innere Tliätigkeit des Gehirns hervorgerufen wird. Diese Fähigkeit nennen wir Perceptibilität ; ohne sie wäre alles Vorstellen unmög- lich. Sie ist also die erste basische Kraft des Vorstellungs- vermögens ( basisch nennen wir solche Kräfte, ohne wel- che die anderen Erscheinungen und Aeusserungen nicht geschehen können, die ihnen also zum Grunde liegen). Die erste Wirkung der Sinne ist also die unmittelbare sinn- liche Empfindung. Sie ist ihrer Natur nach qualitativ, denn alles kann nur an seinen Merkmalen wahrgenommen werden, an seinen Qualitäten. Jede Reizung hat aber ih- ren Grad, der entweder in directem oder in indirectem Verhältniss mit dem Grad des Reizes steht ; darnach ist sie mehr oder minder lebhaft. Mehr lässt sich von der einfachen Empfindung nicht sagen.

45.

Dem Gesetz der Reihenbildung gemäss erregt die Em- pfind ung eine Reihe von Vorstellungen; aber damit sie dies könne, muss das Gehirn einen Vorrath von Vorstellung haben ; es muss folglich fähig sein, die schon einmal ge- habten Vorstellungen zu reproduciren. Ohne diese Fähig- keit wäre nichts möglich, als lauter unmittelbare Sinnem- pfindung — es gäbe also zwar ein Vorstellen , aber nur des in den Sinn fallenden Gegenstandes, kein Denken. Da ohne diese Fähigkeit das Denken unmöglich wäre, so nen- nen wir sie die zweite basische Kraft, als welche aller Möglichkeit zu denken nothwendig zum Grunde liegt. Wir bezeichnen sie mit dem Worte Erinnerungskraft und thei- len sie in das Gedächtniss , wenn wir uns bei der Erinne- rung zugleich bewusst sind, diese Vorstellung schon ge- habt zu haben, und in Phantasie , wenn wir gehabte Vor- stellungen hervorrufen ohne dies Bewusstsein. Natürlich muss die Erinnerungsfähigkeit erst nach und nach wach- sen, wie die Masse der äusseren Eindrücke und Vorstel- lungen wächst; das Kind hat anfangs blosse Perceptionen;

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erst nach und nach vermehren sich seine Erinnerungen. Wir können das Erinnerungsvermögen üben, stärken, aus- bilden, gerade so wie jede Fertigkeit, auch der Muskeln; jeder Mensch hat mehr Erinnerungsvermögen für gewisse Arten von Vorstellungen, als für andere, und hierauf be- ruht hauptsächlich der Unterschied der Talente der Men- schen. Doch zu behaupten, dass diese Talente in irgend einer mehr oder minder entwickelten Hirnform begründet sind, ist etwas kühn, die Beweise dafür schwierig.

46.

Wären jedoch alle menschlichen Vorstellungen nur Empfindungen oder Erinnerungen, so wäre das Vorstellen eitel und ohne Resultat. Es muss durchaus die dritte ba- sische Kraft zutreten, damit ein Zweck im Verstellen sei; die, aus mehreren Vorstellungen eine neue zu erzeugen, Vorstellungen zu verbinden , zu vergleichen und dadurch zu einem Resultat des Vorstellens zu gelangen. Es wäre ausserdem unmöglich zu wollen , ja nicht einmal begehren würde möglich sein» Wir nennen das Vermögen, Vorstel- lungen zu einem Resultat zu verbinden, Combinat ionsver- mögen, oder auch niedere Urtheilskraft. Denn jedes Re- sultat aus mehreren Vorstellungen ist ein Urtheil» Diese drei Kräfte, Perceptibilität, Erinnerungskraft und Combi- nationsvermögen , hat der Mensch mit allen Thieren ge- mein. Das Thier könnte sonst nicht leben. Wie wollte es z. B. seine Nahrung sich verschaffen? Es muss sie ausser sich gewahr werden, also percipiren; es muss sich erinnern, dass es schon früher was ähnliches genossen hat; es muss sich bestimmen können, sie zu fassen und zu essen. Dies letzte setzt aber Vergleichung des sinn- lichen Eindrucks mit der Erinnerung und daraus entsprin- genden Willen voraus. Da jedes Thier ohne Willen nicht existiren kann, so muss es diese drei basischen Vorstel- lungskräfte haben wir nennen dies Kräfte, ob wir gleich wohl wissen, dass es nur Aeusserungen Einer Kraft sind.

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47.

Das Thier und der Mensch im ersten Kindesalter ist blos fähig, die Dinge nach ihren Qualitäten wahrzunehmen, denn etwas anders stellen ihm die Sinne nicht dar; selbst ihre Grösse erscheint als blosse Qualität. Aber der Mensch allein von allen Thieren kann, sobald er aus der ersten Kindheit getreten ist, alle Erscheinung als im Raume und 'alle Reihefolge als in der Zeit messen; er beurtheilt sie quantitativ. Dies Maass hat er aber in sich, als die Form seiner Anschauung, wie Kant sagt, deshalb sind dessen Resultate, als Formenurtheile, auch absolut und allgemein* Er hat also ein Mittel, das qualitative mit einem Maasse zu durchmessen , das er ihm selbst giebt und das deshalb nicht trügen kann. Die sinnliche Erscheinung kann es, er will ihre Richtigkeit prüfen, wozu das Thier weder je- mals den Willen, noch die Mittel hat dies ist die erste Spur des Vermögens der Ideen er hat die Idee von Wahrheit. Diese Fähigkeit ist dem Arzte besonders wich- tig, denn sie ist das Mittel, gesunde und kranke Vorstel- lungen zu unterscheiden. Nämlich das fremde, quantita- tive Gesetz der Anschauung beherrscht das qualitative und so lange der Mensch im Stande ist, die qualitative Vor- stellung nach dem Maass der Qualität zu prüfen und zu be- urtheiien, ist seine Vorstellung gesund. Er braucht diese Fähigkeit nicht immer ; eine Menge seiner Vorstellungen bleiben blos qualitativ, aber er kann sie brauchen, er kann über die sinnliche und gegebene Seite der Vorstellung herrschen durch sein formales Gesetz, das er in sich selbst hat, und das ist genug. Sobald er es nicht mehr kann; ist er im verrückten Zustande , obgleich alles andere in seinem Vorstellungsvermögen bleiben kann, wie vorher, namentlich das Vermögen der Ideen, die analytische Kraft, die Fähigkeit, das Gelüsten zu beherrschen, selbst der sittliche Wille. Es liegt mir nicht ob, eine vollständige Psychologie zu schreiben, daher ich mich in Absicht auf

4 *

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das intuitive Vorstellen hierauf beschränke , allein es war unerlässlich , die Lehre von den drei basischen Kräften des Vorstellens, von dem Unterschied zwischen dem qua- litativen materiellen und dem quantitativen formellen und von dem doppelten Glauben des Menschen ins Auge zu fassen, weil ohne sie die Erklärung der Vorstellungskrank- heit unmöglich ist. Es war ebenfalls nothwendig, der ail- mähligen Entwicklung des Vorstellungslebens in der Lebens- periode zu gedenken , weil in ihr ein grosser Theil der disponirenden Ursachen zu Vorstellungs - überhauqt zu Hirnkrankheiten liegt. Noch eins ist übrig : die Betrach- tung der Richtung der Vorstellung. Ich erwähne des Zwecks der bisherigen Untersuchung schon hier , damit nicht der Leser, der gewohnt ist, alles, was nicht auf der Stelle den praktischen Zweck ankündigt, zu überschlagen , mich tadle, dass ich mich in Untersuchungen verliere, die den Krankheiten des Gehirns fremd sind. Sie sind es nicht, vielmehr ist diese Lehre noch immer verworren, darum , weil die Aerzte diese Untersuchung scheuten.

48.

Die Richtung anlangend, welche die Combinationsrei- hen nehmen können, so ist diese entweder blos eine innere oder eine äussere. Nach aussen hat sie aber zwei Rich- tungspunkte, entweder ins Muskelsystem, um bestimmte Bewegungen auszuführen , oder ins Gangliensystem. Die Bedeutung des letzteren ist uns besonders wichtig. Wir müssen uns nämlich erinnern, dass das Gangliensystem das Organ ist, durch welches das Thier von dem Zustand und Bedürfen seines Vegotationslebens unterrichtet wird. Das Gefühl des Bedürfens gewährt Unlust und reizt das Thier zum Handeln; es erzeugt das Begehren; das Gefühl der Befriedigung gewährt Lust und beruhigt das Thier so musste es sein bei dem Zweck und Wesen der thierischen Schöpfung. Allein nicht blos vom Gangliensystem nach dem Gehirn hin kann die polarische Richtung gehen , sondern

sie kann auch umgekehrt vom Gehirn nach dem Ganglien- systcin gehen. Dadurch aber wird jedesmal das Gefühl von Lust und Unlust rege und zugleich wird irgend eine Thätigkeit des vcgetirenden Lebens auffallend verändert. Der Sprache mangelt ein Wort für diese Thätigkeit; nur die höchsten Grade derselben pflegt sie Leidenschaft zu nennen. Wenn also eine Vorstellung ins Gangliensystem wirkt, so wirkt sie in einen bestimmten Theil desselben viel stärker, als in alle andere, allein da zwischen den Ganglien vielfache Verbindungen sind, so erregt sie auch die übrigen einigermassen , in verschiedenem Verhältnis, je nach der speciellen Verbindung des am meisten gereiz- ten Ganglions mit den andern. Wir sind noch nicht so weit in Erkenntnis des menschlichen Wesens vorgedrun- gen, dass wir die Bestimmung jedes einzelnen Ganglions nacliw eisen können ; die wir nachweisen , sind : Reflexion in das grosse Bauchganglion (semiluiiare, plexus coeliacus) erregt entweder Esslust oder Ekel; Reflexion in das grosse Brustganglion erregt Angst oder Freude ; Reflexion in den Nierenplexus erregt Geschlechtslust oder Abscheu ; Refle- xion in den pes anserinus erregt Lachen oder Schaamge- fiihl, Schaamröthe. Wir glauben noch, dass Reflexion ins Lebergeflecht Zorn oder Neigung errege , doch wissen wir das nicht. Die Bestimmung der anderen Ganglien kennen wir noch weniger. Bemerkt muss werden, dass bei der Reflexion in ein Ganglion vom Gehirn aus die Wirkung entweder central oder peripherisch werden kann und dass sie danach entgegengesetzte Erscheinung erregt, Esslust und Ekel, Freude und Angst u. s. w. , nämlich entweder geht vom Ganglion aus die Wirkung in seine Vorberei- tungsflächen und ist belebend , angenehm , oder umgekehrt sie bewirkt eine verkehrte Bewegung ins Centrum und ist widrig , das Leben zurückhaltend , hemmend.

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49.

Die Richtung der Vorstellung in» Muskularsystem bringt die Bewegung hervor. Nur im Krankheitszustande kann die Richtung sich ändern und vom Muskelsystem aus nach dem Gehirn gehen. Rei den äusseren Sinnen geht die Richtung allemal von dem Sinnorgan nach dem Gehirn, jedoch ist die umgekehrte Richtung im gesunden und kran- ken Zustande möglich. Im gesunden Zustande tritt sie während des Traumes ein; wir sehen, hören, fühlen, kom- men in Leidenschaft, begehren, haben Abscheu, Freude, Schrecken, alles wie in der Wirklichkeit, ohne äussere Reizung ; die Richtung des Reizes geht offenbar vom Ge- hirn in die Sinnorgane. Geschieht dies im wachen Zu- stande , so nennen wir dies Krankheit , wacher Traum , der mehrere Sinne zugleich befallen kann , wo man dann einen solchen Menschen als im Zustand der Ekstase be- trachtet , oder nur einen einzigen Sinn , wodurch er ent- weder sieht, oder hört, oder sonst empfindet, wozu kein äusserer Grund vorhanden ist. Diese verkehrte Richtung der Vorstellung in die Sinne ist eine Hauptquelle kranker Vorstellungen, sehr häufig, ja fast gemein gegen die Sin- nenempfindung aus dem Gangliensystem , häufig gegen die Augen, seltener gegen die Ohren, noch seltener gegen die drei übrigen Sinne. Das Kunstwort Hallucination passt nicht für die Sache , denn bei diesen liegt der Fehler im Sinnorgan, z. B. im Ohr bei dem Glockenläuten, im Auge beim Funkensehen u. s. f. Hier ist aber von Sinnentäu- schungen die Rede, bei welchen die Sinne ganz gesund •ind und der Mensch glaubt, Stimmen zu hören , Gestalten zu sehen, wie im Traume, doch ohne zu träumen.

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Cap, V. Verhältnis des Gehirns zu den

übrigen Organen.

50.

Im Vorhergehenden ist zwar schon öfter das Verhält- nis des Gehirns zu den übrigen Organen des Individuums angedeutet worden , allein die Sache ist zu wichtig , als dass sie nicht besondere Betrachtung erfordere. Ehe wir jedoch sie im einzelnen betrachten, ist nothwendig , bei dem Verhältnis des sensiblen und vegetirenden Leben§ überhaupt zu verweilen. Dies ist weder in den Lehens- perioden noch in den Individuen gleich, vielmehr äusserst verschieden.

Im Fötus ist das sensible Leben Null , das vegeti- rende alles. Im neugebornen Kinde erwacht zwar das er_ stere, aber sehr schwach, und in der ganzen Kindheit bis zum siebenten Jahre prädominirt die Vegetation. Vom siebenten Jahre an bis zur Pubertät möchte ich behaup- ten, dass bei der Mehrzahl der Kinder die Sensibilität über die Plastik prädominirt* Sie sind rastlos thätig, ihr Gedächtniss nie stärker, als jetzt; selbst in ihrem Muth- willen, in ihrem Spiel, entwickelt sich grosse, geistige Kraft. Dagegen wachsen sie langsam, werden magerer; ihre Muskelkraft, die sie unglaublich üben, hält dennoch nicht lange aus. Mit dem Eintritt der Pubertät erhebt sich wieder die Plastik ; wenigstens eine Weile herrscht sie jetzt offenbar wieder vor, wodurch der Kampf zwischen der Begierde und dem schon erkannten Sittengesetz, der natürliche Zwiespalt des Menschen, heftiger wird, als je- mals; der Sieg der Begierde, wenn er vollständig ist, ent- scheidet für die Gemeinheit des Menschen auf immer ; lernt er sich verbergen und behauptet er den Schein, wäh- rend er doch wirklich im geheimen sich der Sinnlichkeit Preis giebt, so entscheidet er für die sittliche Verderb-

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niss. Der Sieg der Sittlichkeit aber entscheidet für den Werth des Menschen , um so gewisser , je schwerer er ist. Allmählig geht das Jünglingsalter in die Lehens- periode über, in welcher die Sensibilität offenbar prädomi- nirt, bis zum verlöschenden Greisenalter , wo für kurze Weile die Plastik wieder die Oberhand gewinnt, aber sie erlischt.

51.

So verhält es sich im Ganzen, aber ein grosser Un- terschied findet zwischen den Individuen statt. Man nennt ihn den Unterschied der Temperamente und pflegt dabei lächerlicher Weise noch immer den alten Galenischen Un- terschied aufzusuchen dieser ist so ins Leben überge- gangen, dass selbst das Volk ihn überall zu verstehen glaubt , ihn im Munde führt und die Gelehrten , die doch seinen Ungrund einsehen müssen, bringen ihn in anthro- pologischen und andern Schriften immer wieder. Bei Galen ist er höchst consequent, wie sein ganzes System, das sich auf die vier Elemente gründet, die die Zeit alle vier vernichtet hat. Wie er allen Unterschied zwischen den Dingen in das Vorherrschen eines Elements vor den andern setzt, so den zwischen den Menschen; das Vor- herrschen des Lufteliments bildet den sanguinischen, des Wasser elements den pflegmatischen, des Feuerelements den cholerischen , des Erdelements den melancholischen Men- schen, denn die Galle repräsentirt das Feuer, und wenn Cruor sich ihr beimischt , auch die Erde. Es ist wohl einmal Zeit, solche Mährchen in die Ammenstuben zu verweisen , oder auch aus denselben , damit die Kinder sie nicht zu vergessen brauchen, wenn sie gross wachsen und Professoren werden. Offenbar kann das sensible Leben zum plastischen in dreifachem Verhältniss stehen ; entwe- der sind beide gleich energisch , oder das plastische herrscht vor, oder das sensible herrscht vor. Noch giebt der Ver- gleich zwischen den Individuen einen Unterschied: es kann

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nämlich das plastische wie das sensible Leben zwar gleich, aber gegen das in andere gehalten gleich schwach sein ; gegen einen Engländer z. B. , bei dem beide Lebensäusserungen gleich energisch sind, können wir einen Eskimo halten, bei dem sie beide gleich schwach sind. Sonach giebt es allerdings ein vierfaches Verhältnis beider Lebensäusse- rungen und dies bestimmt die Temperamentsunterschiede. Dass dabei Wohlsein oder Unwohlsein, kräftige äussere Erregung oder ihr Mangel, vorübergehende Stimmung je- der Art, auch vorübergehende Verschiedenheit und Ver- änderung zur Folge habe, ist klar, allein für den Normal- zustand kehrt immer das Haupt- oder Grundverhältniss wieder.

52.

Das Verhältnis des Gehirns zum Herzen fordert zu- erst zu besonderer Betrachtung auf, da das Herz als das wichtigste Centrum des plastischen Lebens die erste Rück- sicht verdient. Lange hat man gemeint, das Herz, als der erste Hohlmuskel, erhalte seine Reizbarkeit durch seine Nerven und deren Lähmung raube ihm die Fähigkeit, sich zu bewegen. Neuere, sorgfältige Experimente haben ent- schieden, dass die Reizbarkeit des Herzens zwar durch die weichen Nerven sehr verändert wird , doch für sich be- steht und nicht erlischt, wenn auch diese Nerven durch- schnitten sind. Es hat demnach selbständiges Leben , nicht blos abhängiges, wie alle andere Hohlmuskeln. Doch ist diese Entdeckung blos physiologisch wichtig ; gewiss ist, dass die Bewegung des Herzens durch blosse Vorstellung im höchsten Grade verändert wird, ja man hat Beispiele dass sie durch sie auf der Stelle gehemmt worden ist. Alle Leidenschaften verändern den Herzschlag, eine Folge der engen Verbindung aller Ganglien mit dem Ganglion thracicum, dem plexus cardiacus. Am stärksten wird es durch Freude und durch Angst bewegt, daher wir vermu- then, dass diese beiden Affecten durch Reflexion von Vor"

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Stellungen auf das grosse Brustganglion entstehe. Ausser diesem unmittelbaren Einfluss des Gehirns auf das Herz finden mehrere mittelbare statt , von denen hier zuerst des Einflusses des Hirns auf die Arterien gedacht werden muss, den wir jedoch nicht genau würdigen können, weil die Herrschaft des Herzens über die Arterien sich damit ver- mischt. Er ist aber nicht minder gewiss, denn alle Arte- rien haben Gangliennerven, und nicht eher gehen sie in kleine Gefässe über, als bis sie ihre ursprünglichen Ner- ven verlieren und sich mit denen der Organe verbinden, denen sie Nahrung bringen. Umgekehrt übt das Herz un- ter allen Organen den grössten Einfluss auf das Gehirn aus; das ohne dasselbe keinen Augenblick existiren könnte. Erwägt man die grosse Masse Blut , die zum Herzen geht, den schnellen Uebergang der Arterien der inneren Schä- delbasis in kleine Gefässe, die sich, unendlich zart, durch die ganze Masse vertheilen und in der grauen Substanz, besonders aber in der weichen Hirnhaut und in der Mem- bran der Höhlen wieder in Venenanfänge sammeln, so muss man zweifeln, dass das Blut blos zur Ernährung des Hirns bestimmt sei. Der gleiche Antheil, den Hirn und Herz an der Vorbereitung der thierischen Wärme durch den ganzen Körper haben, macht noch wahrscheinlicher, dass das Blut dem Gehirn noch viel mehr leiste, als dass es nährt. Es ist demnach eine wahrscheinliche Vermu- thung, dass die Verwandlung des Blutes im Gehirn nicht blos Hirnmasse bilde , sondern dass ein Theil des Blutes , in die vierte Form der Materie übergehend, Wärme bilde, zugleich aber auch Licht, welches jedoch nicht als leuch- tend erscheint, sondern als sich in sich selbst refiectirend, als das Material des Vorstellens , und dass gerade darin die grösste Eigenthümlichkeit des Hirns bestehe, dass in demselben das Blut in Wärme und Licht verwandelt wer- de, welches letzt« sich im Gehirn als Vorstellung äussert. So wäre der Geist mit dem Lichte eins.

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53.

Die wichtigste mittelbare Verbindung zwischen Hirn und Herz ist die durch die Respiration. Sie wird durch den Reiz der Atmosphäre auf die Bronchialmembran zuerst erregt, auch unterhalten, aber zugleich durch das Ein- strömen des Blutes in die Lungen und das rechte Herz. Wie das alles aber die Thätigkeit des Zwerchfells, der Zwischenrippenmuskeln und der Bauchmuskeln hervorrufe, zugleich die einiger Muskeln des Kehlkopfs, ist nicht recht klar , eben so wenig als der Grund , aus welchem diese genannten Muskeln niemals ermüden, ganz dem Gesetz anderer Muskeln entgegen» Das Zwerchfell ist von diesen Muskeln allein zugleich mit Cerebral- und Gangliennerven versehen; ein Gangliennerv vertheilt sich in die Lungen und den Kehlkopf, der übrigens durch willkührliche Mus- keln bewegt, aber durch diesen Ganglienantheil zugleich Organ des Gefühls wird. Dass die menschliche Stimme alle Modificationen der Leidenschaft ausdrückt, verdankt sie dem Gangliennerven ; dass sie eines der Hauptorgane des Verstandes ist, überhaupt des Ausdrucks der Vorstel- lung, den Cerebralnerven. In Bezug auf den Inhalt des vorigen Paragraphen ist zu erwähnen, dass wahrscheinlich die Respiration nicht blos der Process der Blutbereitung und darum in jedem Augenblick der Lebensdauer nothwen- dig sei, sondern dass sie aus der Atmosphäre dem Blute das unmittelbar zuführen , was sich im Gehirn in Licht und Wärme verwandelt , also diesem letztem eben so un- umgänglich und unmittelbar nothwendig sei , als dem Her- zen. Uebrigens haben Erfahrungen nachgewiesen , dass das verlängerte Mark die Respiration beherrscht. Ver- wunden desselben endet sie auf der Stelle. Die wichtige pathologische Erscheinung, dass Convulsionen, die mit Be- wusstlosigkeit verbunden sind , sogleich dasselbe wieder frei lassen, wenn sie in Convulsionen der Respirations- jnuskeln übergehen, und dass das Buwusstsein im Augen-

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blick wieder verloren ist, wenn sie diese verlassen und in andere Muskeln übergehen, beweist mehr als alles die ganz vollkommen verschiedene Einrichtung der Respira- tionsmuskeln von allen übrigen und deren verschiedenen und eigenthümlichen Centralpunkt im Gehirn.

54.

Höchst wichtig , unmittelbar und nahe ist die Verbin- dung des Hirns mit den äusseren Sinnen, sie sind des Ge- hirns wegen da ; sie sind die Pforten , durch welche alle Empfindungen eingehen, durch welche das Material gelie- fert wird, an dem der Geist sein Gesetz übt, die Verbin- dungsorgane zwischen der Aussenwelt und dem Inneren. Da bei dem Thiere der Nahrungstrieb Hauptzweck der Sensibilität ist, so steht der Geruchsinn bei ihm höher, als beim Menschen, denn er zeigt das Object der Nahrung von fern, zugleich aber auch reizt er die Begierde, mehr wie Auge und Ohr, die alle Farben und Töne reflectiren. Die Nasenhaut liegt dem Gehirn so nahe und ist so un- mittelbar mit ihm verbunden , dass man sie als einen Theil des Hirns selbst betrachten könnte. Beim Vogel steht je- doch der Lichtsinn höher er muss seine Beute aus grösserer Ferne wahrnehmen, als der Geruch sie anzeigen kann. Beim Menschen ist er offenbar der höchste und ge- bildetste, durch die meisten Nerven mit dem Gehirn ver- bunden. Der Sehnerv breitet sich als durchsichtige Mem- bran über der schwarzen Blendung im Hintergründe des Auges aus. Ueber ihm gehen noch drei Nervenpaare zum Auge allein und der fünfte Nerv, der wichtigste des gan- zen Körpers , beherrscht die Bewegung des Augensterns , zum Sehen nicht minder nothwendig, als der Sehnerv. Auch verbinden sich diese Nerven zu einem Nervenknoten, der ins Auge den Ausdruck aller Modificationen der Lei- denschaft legt. So wird es eben so sehr zum Organ des

Ausdrucks der Empfindung, als es Organ der LichtauL

%

nähme ist.

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55.

Der Tonsinn ist im Menschen nicht viel weniger künst- lich verbreitet, als der Lichtsinn; die Verbindung dessel- ben mit dem Gehirn geschieht durch die kürzeste aller Nervenleitungen und sein Sitz ist die Knochenhülle des Gehirns, so dass die Schallbebungen des Knochens das Ge- hirn selbst bewegen. Zugleich liegt das innere Centrum des Tonsinns , das vom anatomischen Messer noch nicht nachgewiesen ist, ohne Zweifel in der Nähe des verlänger- ten Marks, dem innersten Heiligthum des Lebens. Der Tonsinn ist noch näher und inniger mit dem geistigen im Menschen verwandt, als der Lichtsinn; er zerstreut weni- ger, und ungeachtet das sympathische System mit keinem Sinn weniger verbunden ist, bringen doch Töne die Em- pfindung viel unmittelbarer und stärker hervor, als Gestal- ten; es scheint, als sei da* innere Centrum des Tonsinns eins oder doch innig verbunden mit dem Centrum des sym- pathischen Nervensystems. Der Geschmacksinu ist der einzige von allen, der immer feiner, immer empfindlicher und reizbarer wird, je länger der Mensch lebt, während alle übrigen stumpfer werden. Der Grund hiervon liegt gewiss in der Lage und dem Verhältnis seines inneren Centrums, das wir ebenfalls nicht genau kennen. Ob der Tastsinn eines habe, ist zu bezweifeln, da er durch die ganze Hautfläche sich ausbreitet. Aber zuverlässig hat das sympathische Nervensystem eines, der sechste Sinn, des- sen Wechselwirkung mit dem Gehien indessen viel weiter geht. Nicht nur, dass es dem Gehirn eigentümliche Ge- fühle vom Zustand und Bedürfen des plastischen Lebens mittheilte, es kann auch diese Mittheilung hindern, ja im Normalzustände, wo kein Bedürfniss der Nahrung, Aus- leerung u. s. w. statt findet, gewährt es gar keine Empfin- dung, z. B. aus dem Magen, der bei allem Reichthum an Gangliennerven doch gar nichts anzeigt, so lange er ge- sund ist und so lange kein Hunger eintritt. Alle unmittel-

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bare Empfindung wird nur in das dazu gehörende Ganglion reflectirt und es ist uns nicht bekannt, unter welchen Be- dingungen aus diesem Ganglion Reflexionen nach dem Ge- hirn erfolgen, unter welchen nicht. Erst seit Kurzem ha- ben wir erfahren , dass es welche gebe , aus denen nie- mals Reflexionen nach dem Gehirn gehen, namentlich sämmtliche der dünnen Därme, die zwar nicht ohne viele Nerven, aber ganz ohne Gefühl sind. Noch wichtiger als die sinnliche Mittheilung aus dem Gangliensystem in das Gehirn ist die Einwirkung des Gehirns in das Ganglien- system. Sie ist dreifach:

a) Durch sie wird die Begierde oder Leidenschaft möglich. Dass diese zur Erhaltung der thierischen Schö- pfung nothwendig sei , ist schon früher erwähnt worden. Alle Reflexion einer Hirnthätigkeit nach aussen kann ent- weder ins System der willkuhrlicheu Muskeln gehen, oder ins Gangliensystem, oder in beide zugleich. So wie sie aber ins Gangliensystem geht, erhält sie den Charakter der Begierde oder Leidenschaft; in den Organen ihrer Ausführung ist sie niemals begründet, sondern allein im Gehirn. Der Hunger z. B. beruht zwar auf dem Ner\en- eindruck , den das Nahrungsbedürfniss in die Nerven der Magenwände macht und auf deren Reflexion nach dem Ge- hirn, aber die Begierde, etwas bestimmtes zu gemessen, ist mit Vorstellung veruunden und muss nothwendig vom Gehirn ausgehen. So auch die Geschlechtslust. Der Reiz zu derselben geht zwar vom Organ nach dem Gehirn, aber ohne dessen Einwirkung auf die Organe wäre die Begierde unmöglich.

b) Durch sie wirkt das Gehirn in das System der Hohlmuskeln. Begierde, also Vorstellung, verändert die Thätigkeit aller Hohlmuskeln des Herzens, das vor Angst entweder erstarrt , oder äusserst heftig zu palpitiren be- ginnt, das von jeder Leidenschaft verändert wird; des Ma- gens, der durch blosse Vorstellung selbst zu antiperistalti- scher Bewegung , zum Erbrechen gezwungen werden kann;

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der Därme, welche durch Furcht zu verstärkter peristalti- scher Bewegung vermocht werden, auch der Arterien, der Harnblase, also aller Hohlmuskeln. Das Band zwischen ihnen und dem Gehirn ist aber das Gangliensystem , wel- ches sie unmittelbar beherrscht und durch das Gehirn den Anstoss zu diesen Veränderungen ihre Bewegung erhält.

c) Durch sie wirkt das Gehirn in die sämmtlichen Secretionen* Diese stehen zwar regelmässig unter dem Ein- fluss der Gangliennerven allein, welcher unumgänglich er- fordert wird, ihnen ihre Qualität zu geben, wie daraus hervorgeht, dass Unterbindung des Gangliennerven sogleich totale Verwandlung der Qualität des Secretums nach sich zieht. Erfolgt aber eine Reflexion vom Gehirn aus in das Ganglion, welches der Secretion vorsteht, so wird diese ebenfalls sofort entweder beschleunigt oder aufgehalten, aber allemal zugleich qualitativ verändert. Den allerauffallendsten Beweis hievon geben die Thränen, die im Augenblick, in welchem eine Vorstellung in die Thränendrüsen reflectirt wird, gewaltsam hervorstürzen. Dasselbe gilt aber von allen andern Secretionen, als des Speichels bei der Ess- lust, der Galle beim Zorn, des Samens bei der Geschlechts- lust, des Magensafts beim Hunger und beim Ekel, der Milch bei nährenden Frauen , die durch widrige Leiden- schaften sogar eine giftige Qualität annehmen und den Säugling durch Convulsionen tödten kann.

56.

Mit dem System der willkührlichen Muskeln steht das Gehirn in eben so unmittelbarem Zusammenhänge, wie mit den Sinnen. Im Muskelfleisch sind die kleinen Ge- fässe mit den Nervenflächen und dem Zellgewebe so iden- tificirt und verschmolzen, dass hierin die Ursache liegen muss , warum sie sich auf einen Reiz im Gehirn in die Breite dehnen, und so die Glieder bewegen. Bedenkt man die Ordnung, mit der sie das bei zusammengesetzten Bewegungen thun , die Bestimmtheit des Grades der Be-

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wegung jeder einzelnen Muskelfiber, wodurch die feinsten Modificationen der Bewegung möglich werden, die Uebung, welcher die Muskeln durch Gewöhnung fähig sind, so möchte man glauben, sie seien selbst Organe des Bewusst- seins, und doch hebt ein Band, um den Nerven gelegt, der zu ihnen führt, ihre Bewegung auf, folglich ist sie gewiss aus dem Gehirn mitgetheilt. Wie vielfach übrigens die Muskeln und ihre Bewegung, auch die Respiration unge- rechnet, in das vegetabilische Leben eingreifen, bedarf hier keiner besondern Erwähnung. Da die Muskeln nicht wirken können ohne Knochen, Sehnen, Bänder und das System der aponeurotischen Häufe, so sind sie das Band, mittelst welches diese Organe ebenfalls im Verhäliniss zum Gehirn stehen ; unmittelbar sind sie nur sehr schwach mit dem Gehirn verbunden und nervenarm, sogar die aponeu- rotischen Häute, ob wir sie gleich sehr heftiger Schmer- zen fähig sehen. Mehrere Organensysteine sind mit dem Gehirn gar nicht verbunden, namentlich das Hornsystem, also Oberhaut, Nägel und Haare, denn das System der serösen Membranen und das Zellgewebe, durch welches Nerven hinlaufen, ohne sich in ihm auszubreiten. Das System der Schleimmembranen gehört fast ganz dem Gang- liensystem an, das reichliche Nerven in sie verbreitet, die Schleimmembranen der Sinne ausgenommen, die die Ver- breitungsflächen der Sinnnerven selbst sind.

Cap. VI. Begriff und Eintheilung der Krankheiten des Gehirns.

57.

Wenn das Gehirn Irgend eine Thätigkeit übt, welche der Idee des Normallebens des Menschen nicht entspricht, so ist es krank. Es ist klar, dass mit dieser Erklärung

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noch nichts gewonnen ist ; die Bestimmung muss hinzu treten , wie sie die Idee des Normallebens verletzt. Da alles Leben eine blosse Annäherung an seine Idee ist, so giebt es für jede mögliche Lebensthätigkeit eine gewisse Breite, innerhalb welcher sie von der Norm abweichen kann ohne Krankheit. Diese ist besonders bei den intel- lectuellen Functionen sehr beträchtlich; man bedenke, dass alle Grade der geistigen Bildung sich innerhalb der- selben befinden. - Ein gemeiner Kosak steht aber in gei- stiger Rücksicht dem Affen gewiss näher, als Friedrich dem Grossen ; dennoch sind beide gesund.

' 58.

Da das Gehirn ein doppeltes Leben lebt, ein vegeti- rendes und ein sensibles, so ist offenbar, dass seine Krank- heiten zerfallen in die seiner Vegetation und in die seimer Sensibilität. Krankheiten seiner Vegetation können seine sensiblen Thätigkeiten hindern; Krankheiten seiner Sensi- bilität können auch Aenderung seiner Vegetation zur Folge haben , aber dennoch sind beide verschieden. Die Krank- heiten seiner Vegetation sind :

a) angeborene unvollkommene Bildungen. Hier kann wiederum die Unvollkommenheit der Bildung im Gehirn selbst liegen, oder in dessen Hüllen. Der angeborne Was- serkopf ist durchaus letzterer Art. Die Wucherung der Membranen und ihre Secretion ist so stark , dass sie die Entwicklung der Markmasse hindert, zu deren Einhüllung sie wesentlich bestimmt sind. Selten sind akepha fische Missgeburten etwas anders, als angeborne Wasserköpfe. Schiefheit des Schädelg , Mangel an Symmetrie der Schä- delknochen, unvollkommene Bildungen der Schädelbasis scheinen weit mehr ihren Grund in widernatürlicher Form des Gehirns selbst zu haben, denn dies bildet die Gestalt der Hüllen , nicht diese jene.

b) Unvollkommene Ausbildung im Wachsthum. Von solcher Art scheint der Cretinismus zu sei n , denn alle

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Cretinen , die ich habe untersuchen können, waren gesund geboren und erst nach einem halben Jahre frühestens, nach dem fünften Jahre spätestens , in den Cretinismua zerfallen.

c) Afterbildungen. Als Beispiel nenne ich nur die Steatomenbildung im Gehirn , die selten im Kindesalter , aber leider oft im männlichen bemerkt wird. Die Stein- bildungen, die Verknöcherungen gehören liieher.

d) Krankheitsproductionen. Die allergemeinsten sind Extravasate, die bald mechanische, bald innere Ursachen haben* Auch die Eiterablagerungen mit den sie umschlies- senden Häuten gehören hieher.

e) Entzündung und ihre Folgen. Von dieser wird speciell im Laufe dieses Werks gehandelt.

f) Hydropen. Ebenfalls ein weitläufiges Capitel, dem in der Folge besondere Aufmerksamkeit gebührt.

g) Degeneration an der Hirnmasse. Die gemeinsten sind das Zähewerden und das Erweichen der Hirnmasse.

h) Verwundungen des Gehirns durch äussere Ursachen.

i) Congestionen nach dem Gehirn und Ausdehnung der Blutgefässe desselben.

k) Schwinden der Hirnmasse. Es entsteht allemal nach lange dauerndem Blödsinn und nach Epilepsien. Das Dickwerden und das Abplatten der Schädelknochen ist seine Folge.

l) Verwachsungen und Verklebungen natürlich getrenn- ter Hirnmassen. Sie sind wohl nur Folgen von Entzün- dung.

59.

Krankheiten der Sensibilität des Gehirn* sind:

a) Unrichtiges Verhältnis der Sensibilität zur Vege- tation. Ein äusserst häufiger Fehler, der immer gemeiner wird ; je weiter die Völker in der Civilisation vorschreiten, desto gemeiner muss er werden, so nämlich, dass die Sen- sibilität viel stärker ist, als ihre Basis, die Vegetation,

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erträgt. Dadurch werden die Kräfte der Völker verändert und dies ist der Grund des nothwendigen Kreislaufs ihres Erhebens und Sinkens,

b) Fehlerhafte Sinnenempfindung. In so fern diese in. den Sinnenorganen gegründet ist, hat sie wohl mangelhafte Sinnlichkeit zur Folge, gehört aber nicht zu den Krank- heiten des Gehirns, Doch ist sie sehr häufig in diesem, begründet, bei Integrität der Sinnenorgane.

c) Fehlerhafte Leitung, sowohl aus den Sinnen nach dem Gehirn , als aus dem Gehirn in die Muskeln, Läh- mung mit ihren Unterarten.

d) Verkehrung der Polarität, Das Muskularsystem wirkt reizend ins Gehirn, nach Art der Sinne, oder das Gehirn wirkt reizend auf die Sinne , wie es normal in die Muskeln wirkt.

e) Unrichtiges Verhältniss der basischen Kräfte des Vorstellens, der Perceptivität , der Erinnerungskraft und des Combinationsvermögens. Sie können alle drei zu ener- gisch wirken, so dass sie die Herrschaft des formalen Denkens über das materielle , das Qualitätsgesetz , das die Sinnlichkeit beherrschen muss, überwältigen; sie können alle zu unthätig sein, als dass überhaupt Vorstellen mög- lich wäre.

f) Vorherrschen einzelner Vorstellungen oder Vorstel- lungsreihen, die sich dem formalen Gesetz entziehen.

g) Vorherrschen von Begierden oder Leidenschaften, die den Menschen so hinreissen , dass er nicht im Stande ist, sie dem formalen Gesetz zu unterwerfen.

60.

Iln Rücksicht auf die Ursachen müssen sämmtliche Krankheiten des Gehirnes getheilt werden in idiopathische und consensuelle ; oder in solche, deren Ursache im Ge- I hirn selbst liegt, und in solche, deren Ursache andeiswo liegt, aber Störung im Gehirn veranlasst. Bei dem innigen Zusammenhänge des gcsammlen Nervensystems mit dem

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Gehirn zerfallea die letztere in zwei Unterabteilungen, nämlich in solche, die ihren Grund zwar im Nervensystem haben, aber nicht im Gehirn, und in solche, die blos in den Organen der Vegetation liegen* Die ganze Unterschei- dung hat mehr praktischen Werth, als theoretische Rich- tigkeit, denn auch die deuteropathischen Krankheiten des Gehirns sind darum nicht minder - Krankheiten des Ge- hirns. Allein da das Aufheben der Ursache die Bedin- gung der Heilung jeder Krankheit ist, so haben die Prak- tiker mit Recht stets zuerst nach dieser geforscht. Doch haben sie nicht selten dies zu weit getrieben und dadurch den Erfolg gehindert. Namentlich bei den Krankheiten der Sensibilität forschten sie gewöhnlich so lange, bis sie in der vegetativen Sphäre ein Ereigniss oder einen kran- ken Zustand auffanden, von dem sie entweder blos vermu- theten, er habe Gelegenheit zum Erkranken der sensiblen Sphäre gegeben, oder von dem dies wirklich der Fall war, obgleich seitdem dies Ereigniss völlig gehoben, vergangen war und nur noch diese Folge fortdauerte* Nun richteten sie lächerlicher Weise ihre Cur gegen jene vergangene Krankheit, um die gegenwärtige zu heilen. Das ist gerade so, als wenn jemand ein Haus damit zu bauen meinte, wenn er Wasser über die Stelle spritzt, wo vor zehn Jahren das Haus verbrannt ist; oder eine erfrorne Pflanze wieder zu beleben sucht, wenn er sie ins Gewächshaus setzt. Ist die Folge einmal entwickelt, so muss diese gehoben werden, die Ursache möge gewesen sein, welche sie wolle. Ueber- dies bleibt obige Eintheilung auch unvollständig, weil sie keine Stelle hat für das Verhältniss der organischen Krank- heiten des Gehirns und der rein sensiblen.

61.

Diesen Unterschied, der in organische und dynami- sche Krankheiten, hat man neuerdings auf den Leuchter gestellt; die Alten waren kluger und mochteu ihn nicht, denn er findet wirklich nicht statt. Muss nicht nothwen-

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dig jede Veränderung der organischen Form, die nicht durch Gewalt und Verletzung geschieht, dynamische Ur- sache haben? Ist nicht die organische Form und ihre Entwicklung, ihre Erhaltung das Werk der lebendigen Thä- tigkeit? Folglich hat dieser Unterschied der Krankheiten, nach welchen man sie trennt in solche mit und ohne Form- Veränderung, keinen Sinn, zudem giebt es gewiss keine Vegetationskrankheit, die nicht die Form ändert; wo dies nicht ins Auge fällt, ist sicher das innere Gewebe der Theile, die Krasis der Säfte verändert. Denn wie kann die bildende Kraft ihre Thätigkeit oder deren Richtung ändern, ohne dass die Bildung, ihr Product, sich ändert? Anlangend die Krankheiten der Sensibilität, so sind diese ohne Formenänderung, da die Sensibilität nur ein Mittel zum Bildungszweck , aber nicht bildend ist. Wendet man die obige Eintheilung auf diese Krankheiten an, so kann sie nichts anders bedeuten, als dass es Krankheitsäusserungen der Sensibilität giebt, deren Krankheit der Plastik voraus- geht, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist.

62.

Da die Polarität das Grundgesetz der sensiblen Thätig- keiten ist, so muss jede Krankheitsäusserung der sensiblen Sphäre entweder im inneren Pol, oder im äusseren Pol, oder in der Leitung zwischen beiden begründet sein. Diese Abtheilung wäre wichtig, wenn wir nur von der Einrich- tung und der inneren Thätigkeit des Enkephalons genaue Kenntniss hätten. Denn es ist kein Zweifel, dass polare Actionen innerhalb desselben Vorgehen und ein Theil in ihm sich gegen den andern als innerer zum äusseren Pol verhält. Allein es ist uns unmöglich, dies näher nachzu- weisen. Daher läuft für uns diese Eintheilung auf die hinaus, nach welcher die Sensibilitätskrankheiten entweder im Gehirn begründet sind , oder ausser demselben. Noch unfruchtbarer ist ihre Abtheilung in acute und chronische, welcher also die Zeit der Dauer ihrer Aeusserungen zum

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Grunde liegt. Schon in der Vegetationssphäre passt diese alte, einmal hergebrachte und immer wiederholte Eintei- lung schlecht, denn da mischt man das Fieber ein, was die Sache noch mehr verwirrt. Ist z. B. ein Wechselfie- ber chronisch oder acut? oder das hektische Fieber: macht es, wenn es sich zur knotigen Schwindsucht gesellt , eine acute Krankheit aus ihr? Ist der Karbunkel, der Wasser- krebs acut oder chronisch ? Er tödtet doch schnell genug. In den Sensibilitätskrankheiteil aber ist diese Einteilung völlig unbrauchbar. Convulsionen z. B. gehen schnell vor- über, kehren auch vielleicht nie, vielleicht sehr spät und in langen Intervallen wieder: sind sie chronisch oder acut? Ueberdies ist diese Einteilung völlig müssig und ohne al- len praktischen Werth; sie gewährt nichts, was die Be- stimmung der Ursache klar macht , noch weniger das Heil- verfahren, ja nicht einmal die Prognose. Niemand kann wissen, ob z. B. ein Wuthanfall, der von kurzer Dauer war, je wiederkehre oder nicht.

63.

Brauchbarer ist die Einteilung der Sensibilitätskrank- heiten nach den Aeusserungen der Sensibilität. Diese sind Empfindung, Bewegung und Vorstellung und dein gemäss teilt man sie in Krankheiten der Empfindung, der Bewe- gung und der Vorstellung. Wenigstens gewinnt man da- durch eine wichtige Bestimmung der Haupterscheinungen , obgleich auch hier alles in einander fiiesst, wie bei der obigen Einteilung selbst. Denn weder Empfindung ist möglich ohne Vorstellung, noch auch willkührliche Bewe- gung , wie dies das Wort selbst ausdrückt. Dazu sind die Lebenserscheinungen im Gebiet des Gangliensystems hier- durch nicht richtig bezeichnet: es empfindet und die Hohl- muskeln bewegen sich, allein der Vorstellung ist es ganz unfähig, was auch immer die Magnetiseurs vom Denken, Hellsehen und Prophezeihen der Bauchganglien geträumt haben. Bei aller Unvollkommenheit habe ich doch diese

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Eintheilung brauchbar genannt, denn wirklich sind die Er- scheinungen der Krankheit der Sensibilität entweder un- vollkommene Empfindungen, oder kranke Vorstellungen, oder kranke Bewegung. Sie gehen zwar häufig in einan- der über, so dass kranke Bewegung bei Veitstanz, Epilep- sie, Hysterie, auch mit falscher Vorstellung und falscher Empfindung verbunden ist u. s. w. Doch prävalirt in jeder sensiblen Krankheit eine von diesen Haupterscheinungen , so dass z. B. bei der Epilepsie, dem Veitstanz die Bewe- gungssymptome die Hauptgruppe bilden , bei der Hysterie, ausser den Anfällen, die Empfindungssymptome, in den Anfällen die der Bewegung u. s. f.

04.

Beinahe in allen Krankheiten, auch in denen des Hirns , folgen die praktischen Aerzte der Eintheilung in Hauptgruppen von Symptomen, ohne Rücksicht auf die Ursachen der Symptomen , die sehr verschieden sein kön- nen, und in therapeutischer Rücksicht besonders ziehen sie weit mehr solche Krankheiten in Betracht, die Gegen- stand der Heilung sein können, indem sie die Betrachtung der unheilbaren den Pathologen überlassen. So beschäfti- gen sie sich z. B. mit den angebornen Fehlern der Hirn- bildung gar nicht, mit dem Cretinismus wenig und nur in polizeilicher Hinsicht. Von den Bildungskrankheiten des Gehirns ist ihnen die Hirnentzündung mit ihren Ausgän- gen die wichtigste, nächst ihr die Hydropenbildung in ih- rer Mannichfaltigkeit. Der Hirnerschütterung und den Kopf- und Hirnwunden, dem Extravasat, weihten sie eben- falls ihre Aufmerksamkeit. Ob sie die Apoplexie zu den plastischen oder zu den sensiblen Hirnkrankheiten rechnen sollen, lassen sie ungewiss, eben so Schlafsucht und Läh- mung. Die Sensibilitätskrankheiten des Hirns unterschei- den sie gewöhnlich in Manie, Melancholie und Blödsinn; manche fügen noch Wahnsinn, Narrheit hinzu. Schwin- del, Delirium werden als symptomatische Erscheinungen

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behandelt, die Mos zur Symptomengruppe anderweiter Krankheiten gehören. So sehr diese Eintheilung auch an Unrichtigkeiten aller Art leidet, so muss man doch geste- hen, das» sie hinreicht, um alles zu erklären und zu be- jsierken, was bei sämmtlichen Krankheiten des Hirns in Betracht kommt. Doch werden wir hier die im 58. und 59. §§. Torgetragene Eintheilung nie ganz aus dem Ge- sicht verlieren, um Wiederholungen zu vermeiden und das Gaussalverhältniss der Erscheinungen genauer zu be- zeichnen, Es ist freilich bequemer, wenn man jedem vor- kommenden Falle vor allem einen Namen giebt und nun erst bestimmt, welche abweichende Zustände unter diesem Namen Vorkommen können, allein man kommt dabei zu oft in die Nothwendigkeit , einerlei unter verschiedenen Namen wiederholen zu müssen. So kann z. B. Blödsinn Folge von mangelhafter Hirnbildung, von Hydrops, von Extravasat, von Hirneiterung und noch einer Menge ande- rer Zustände des Hirns sein, die alle schon speciell abge- handelt sind.

Cap. VIT. Pathogenie der Hirnkrankhei- ten überhaupt.

65.

Angeborne Fehler des Gehirns sind ohne Zweifel am häufigsten Folgen einer ungleichen, normwidrigen Ernäh- rung der Hüllen des Gehirn». Man findet nie Wucherun- gen , sondern immer nur Defecte der Hirnmasse , ein an sich sehr merkwürdiger Umstand. Wenn aber die Mem- branen, die das Hirn einschlie«sen , Wasser absondern, so ist das Resultat hievon sehr verschieden , je nach der Pe- riode der Entwicklung des Fötalleben«, in welcher dies vor sich geht. Geschieht es gleich bei der ersten Anlage,

73

so drängt das Serum so auf die sich bildende Hirnmassc, dass diese gar nicht zu Stande kommt: entweder nämlich bildet sich die gedrückte Masse nicht aus, oder die Wu- cherung der Membran absumirt die Thätigkeit des plasti- schen Triebes, der zur Hirnbildung dienen sollte nnd hin- dert diese. Zugleich pflegt die Membran auch nach aussen zu wirken und die Bildung der Schädelknochen eben so zu hindern, als die des Hirns. Dann entsteht ein förmlicher Akephalos, der auf die übrigen Organe ebenfalls nachthei- lig zu wirken pflegt, so dass eine vollkommene Missgeburt zur Welt kommt, die wenig von menschlicher Bildung an sich trägt. Je später die Serumabsonderung beginnt, desto weniger weicht die Form von der normalen ab und ent- steht sie nicht in den letzten Wochen der Schwangerschaft, wenn das Gehirn schon gebildet ist, so sehen wir nichts entstehen , als den gewöhnlichen angebornen Wasserkopf. Da die Knochen des Schädels sich später bilden , als das Gehirn, so kommen enorm grosse Wasserköpfe vor, die zwar Gehirn haben, aber keine Schädelknochen, ausser die der Schädelbasis. Schwer ist zu bestimmen, welche Membran eigentlich zu dieser Serumbildung Anlass giebt; in der neuesten Zeit hat man vorzüglich die Spinnweben- haut dafür gehalten , aber alle übrige Membrane sind eben so wie sie selbst völlig verbildet, weshalb diese Vermu- thung sehr ungewiss bleibt. Noch schwerer ist zu sagen, was zu solcher seröser Absonderung den Anlass geben kann. Zu vermuten ist, dass dies eine mechanische Ursache sei, allein sehr oft ist keine Spur davon nachweislich. Man hat die Phantasie der Mutter bei allen Missgeburten in Verdacht, aber auch davon ist oft kein Beweis. Da wir bei der spina bifida eine ganz ähnliche Degeneration der Hüllen des Rückenmarks sehen, die ebenfalls den Kno- chen hindert, sich zu bilden und das Mark selbst entwe- der verzehrt oder verändert, so können wir annehmen, dass die Nervenhüllen des Fötus zuweilen von eigentümlicher, nicht näher nachweislicher Krankheit ergriffen werden.

74

66.

Seltener sind die Fälle, in welchen das Hirn ganz oder zum Theil atrophisch ist. Stets ist dessen Wachsthum vor der Geburt sehr beträchtlich, allein zuweilen nimmt der bildende Trieb eine verkehrte Richtung und das Gehirn wächst nicht ; öfter noch wächst nur ein Theil des Hirns nicht so wie das übrige. Auch davon sind die Folgen sehr verschieden, je nach der Periode der Fötalentwicklung. Man sieht entweder den Schädel ganz unsymmetrisch, die eine Hälfte viel kleiner als die andere, oder die Schädel- knochen schieben sich über einander, so dass entweder die Scheitelbeine, statt sich durch die Pfeilnaht zu ver- einigen, unter einander stecken, oder sie sind in der Ge- gend der Kronen- oder Lamdanaht unter das Stirnbein oder Hinterhauptsbein geschoben. Zuweilen tritt die Atro- phie des Hirns erst nach der Geburt ein ; dann verdicken sich die Knochen des Schädels; angeborner Idiotismus ent- steht, wovon der Cretinismus in allen seinen Abstufungen die Folge ist. Man kann sicher den Grund jeden ange- bornen Blödsinns, oder eines solchen, der in den Kinder- jahren schon entstand, in unvollkommenem Wachsthum de* Gehirns suchen. Entweder ist zugleich die ganze plasti- sche Kraft vermindert, so dass das ganze Individuum klein, verkümmert und missgestalt bleibt, oder es bildet sich ir- gend anderswo eine grosse Wucherung, wie bei manchen Cretins der Kropf, statt dass das Gehirn wachsen sollte, oder es entsteht jetzt erst innerer Hydrop*: die seröse Membran sondert Wasser ab, drückt das Gehirn und dies schwindet. Die Ursachen solchen Zustandes sind alle die, welche überhaupt die Ernährung hindern, also schwächende Schädlichkeiten aller Art, unvollkommene Gefässbildung, und namentlich beim Cretinismus alles was die Bedingun- gen der menschlichen Existenz und Entwicklung von der äusseren Natur entgegengesetzt wird. In den Polarländern, die von langer Nacht in den Wintermonaten verhüllt, den

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grössten Theil des Jahres mit Schnee bedeckt und von Frost gehärtet sind, können nur wenig Pflanzen leben und der Mensch verkümmert dort. Er wird klein, schwach, seine Geisteskräfte sind stumpf, seine Sprache unvollkom- men ; diese Polarmenschen gleichen den Cretins , auf wel- che die Höhe ihres Wohnplatzes, der ewige Schnee der Berge, die Qualität der Bergwässer, der Luftzug durch die Thäler und Klüfte, ähnliche Wirkung hat, wie das Klima der Polarländer. Der Mensch ist nicht geboren , um in- nerhalb der Schneelinie zu leben: erzwingt er sich da ei- nen Aufenthalt, so degenerirt er, aus denselben Gründen, aus welchen die schlanke, hohe Fichte des Thaies in der hohen Region zur Zwergfichte wird.

67.

Es geschieht auch wohl, dass das Gehirn zu stark wuchert und wächst für das Verhältnis der übrigen Or- gane. Der Erfolg ist dann ganz der entgegengesetzte, grosse Lebhaftigkeit der Sensibilität auf Kosten der plasti- schen Kraft, in der Kindheit grosse Gefahr des Wasser- kopfes, der Hirnentzündung; ist die erste Kindheit glück- lich überstanden, Neigung zu Convulsionen , im späteren Leben grosse Reizbarkeit bei Hinfälligkeit und Schwäche des Körpers. Als pathogenetisches Moment kommt dieses zu starke Wachstimm in Betracht, in wie fern es Anlass giebt, dass sehr leicht Hydropen oder andere Entzündun- gen entstehen. Je grösser die plastische Kraft eines Theils, desto leichter kann sie durch äusseren Anlass bis zur Ent- zündung getrieben werden. Bildet sich diese in den Hirn- häuten aus, so entstehen Verdickungen, Verklebungen und

[Ausschwitzungen, also das, was man Hydrocephalus acutus nennt. Mit Recht sagt man daher selbst im gemeinen Le- ben, dass Kinder mit vorzüglicher Geistesanlage zum Was- serkopf geneigt sind. Die Entzündung der Hirnmassen selbst kommt seltener vor, als die der Hirnmembrane und hat ganz entgegengesetzte Folgen. Wäre sie total, so würde

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sie gewiss dem Leben ein schnelles Ende machen, was auch bei Entzündung der Hirnhäute zu geschehen pflegt, aber hier weit schneller. Gewöhnlich aber ist sie partiell, und da die Entzündung eines Hirntheils stets das Weicher- werden seiner Masse zur Folge hat, so wuchern die übri-

j

gen Hirntheile auf Kosten des erweichten , nehmen dessen Raum ein, drücken denselben und hinterlassen auch nach dem Ende der Entzündung Verbildung des Hirns, die das- selbe gewöhnlich unfähig zu seinen sensiblen Functionen macht. Degenerirt die entzündete Hirnmasse, so bilden sich entweder Eiterablagerungen , oder Caries des Schädels von innen nach aussen, deren Wirkung notliwendig Con- vulsionen, Sopor, seltener Delirien, Fieber und endlich der Tod sind.

68.

Ich habe schon erwähnt, dass Entzündung des Gehirns viel seltener vorkommt, als die seiner Häute. Noch ist es uns Geheimniss, wie es kommt, dass Hirn, Herz und Magen sich so selten entzünden ; besonders letzterer ist so grossen Insulten ausgesetzt, wird so häufig gereizt, hat dabei solchen Ueberfluss an Blut, einen ao hohen Grad von Vitalität, dass man glauben sollte, er entzünde sich alle Augenblicke, und es geschieht das Gegentheil. Sollte nicht gerade der hohe Grad von Vitalität dieser Organe hievon der Grund sein? Wir sehen noch ein Beispiel, das dies wahrscheinlich macht, den weiblichen Uterus. Dieser entzündet sich nie in der Schwangerschaft , wohl aber sehr leicht nach der Geburt, gewiss aus keinem andern Grunde, als weil im schwangeren Zustande seine Vitalität aufs höchste gesteigert ist, aber nach der Geburt schnell sinkt. Es erhellt hieraus, wie irrig die Meinung derer ist, die das Wesen der Entzündung in erhöhte Vitalität setzen. Dieser Irrthum ist es vorzüglich, der zu einer oft sehr verkehrten und lebensgefährlichen Behandlung der topi- schen Entzündung geführt hat und der deshalb verdient,

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überall bekämpft zu werden; nicht Erhöhung der Vitalität ist Entzündung, sondern Ungleichheit der Wirkung ihrer Grundkräfte, Prävalenz der Ausdehnung über die Zusam- menziehung. Wo daher beide Kräfte energisch wirken, kommt so leicht keine Entzündung zu Stande ; sie setzt weit eher Schwäche des Organs, Mangel an Contractilität in demselben voraus. Deshalb wird ein Organ , das» ein- mal entzündet war, sehr leicht noch einmal entzündet; ge- rade das Gegentheil müsste geschehen , wenn wirklich die Entzündung Folge erhöhter Vitalität wäre, denn das ent- zündet gewesene Organ hat ohne Zweifel geringere Vitali- tät , als es früher hatte. Deswegen entzünden sich so sehr leicht die aponeurotischen Häute ; ihre Vitalität ist gering, und alles, was ihre Contractionskraft nur im mindesten abnehmen macht, entzündet sie, daher die ungeheure Fre- quenz der Reumatismen. Im Alter wird die Contractilität noch geringer; sie werden daher Sitz der Gicht. Eben so leicht und häufig entzünden sich die Schleimhäute, beson- ders da, wo ihre Vitalität geringer ist, als die der zunächst liegenden Theile, also in der Nase, im Kehlkopf, in der Rachenhöhle. Die Schleimhaut der Zunge, des Schlunds, des Magens , der dünnen Därme entzündet sich viel selte- ner, denn hier ist sie aufs innigste verbunden mit Organen, deren Vitalität sehr hoch steht. Bei der Zunge stehen zu bleiben , so verträgt sie weit mehr Reizung , als der weiche Gaumen, der sich viel leichter entzündet. Niemand be~ kommt Glossitis, wenn er kalt trinkt, aber Angina be- kommt er. Doch ist ohne Zweifel die Vitalität der Zunge viel grösser, als die des veli penduli palati. Daher erregt alles sehr bedeutende Entzündung, was die Contractilität stark schwächt, z. B. die Kälte, das sogenannte Erfrieren, (denn das wirkliche Erfrieren bringt Sphacelus hervor.) Hier ist doch gewiss die Vitalität nicht erhöht, sondern gewaltig vermindert. Möchten doch die Aerzte dies be- herzigen , die wider alle Entzündungen nichts wissen , als

78

Blutvergie»sen, und die noch obendrein überall Entzündung sehen! Sie arbeiten dem Tode vor, nicht der Genesung.

69.

Das Gehirn entzündet sich so schwer, dass dies selbst bei traumatischen Anlässen oft nicht erfolgt, wo alle an- dere Theile sich entzünden würden. Dies erlilärt die Er- scheinung der Ilirnerschütterung, der Wirkung einer star- ken mechanischen Gewalt, welche die Fähigkeit des Ge- hirns zu sensiblen Actionen aufhebt. Gewiss ist da die Contractilität des Organs aufs höchste geschwächt und doch ist nicht immer Entzündung die Folge, sondern Erbrechen, nach welchem in einiger Zeit bei passender Behandlung das Bewusstsein wiederkehrt. Die mechanische Gewalt kann so stark auf das Gehirn wirken , dass Extravasate er- folgen und dennoch keine Entzündung. Auch die wichti- gen Erscheinungen der Congestion nach dem Gehirn er- klären sich aus dieser geringen Geneigtheit des Gehirns zur Entzündung. Es können die Gefässe turgesciren, da- durch partielle , selbst totale Aufhebungen der sensiblen Thätigkeiten erfolgen und dennoch hebt sich schnell diese Folge wieder auf, wenn das Blut wieder abfliessen kann. Die grosse Sorgfalt, welche die Natur bewiesen hat, in- dem sie einen doppelten Venenapparat anlegte, um da« Blut aufs schleunigste nach der Benutzung aus der Schädelhöhle zu schaffen, ist in mechanischer Hinsicht die Ursache der Schwierigkeit, mit welcher das Ilirn in Entzündung übergeht. Doch dies schnelle Abfliessen des Blutes findet auch in der Leber, in den Lungen statt und dessenungeachtet entzünden sich diese Eingeweide häufig, zum Beweis, dass in dem Gehirn auch ausser der mecha- nischen Vorrichtung etwas ist, was die Entzündung hindert.

70.

Man pflegt besonders seit etwa zwanzig Jahren die meisten Degenerationen, die man antrifft, als Folgen von

79

Entzündung zu erklären, obgleich die Erfahrung dies Vor- urtheil täglich widerlegt. Auch im Gehirn kommen deren vor, die ganz gewiss ohne alle Entzündung entstehen. Man kann zwei Hauptarten unterscheiden: solche, die als perverse Bildungen eindringen, und solche, die durch das Bestreben entstehen, die Normalbildung, wenn sie gefähr- det ist, zu erhalten. Die erste Art umfasst die häufig vor- kommenden Verknöcherungen der dura mater und ihrer Nebenbildungen, die Verdickung und Verwachsung der Hirnhäute, die Steatomenbildung im Gehirn selbst, das Schwinden der Hirnsubstanz , das Zähewerden , auch das Erweichen derselben. Diese Art zeigt sich besonders in den Metamorphosen der Extravasate , die Marshall mei- sterhaft beschrieben hat. Es bildet sich allmählig aus dem Blutgerinsel selbst, wenn dessen bei weitem grösster Theil verzehrt ist, eine Membran, die wiederum auf beiden Flä- chen von einer andern Membran gedeckt ist, offenbar in dem Bestreben, ihr Grenzen zu setzen. Ganz auf dieselbe Art hemmt auch die Natur die Verbreitung des Eiters, doch nur zuweilen ; wir treffen manchmal mitten in den Hemisphären , auch in andern Hirntheilen , Eitermassen , die gerade so wie eine vomica clausa rund umschlossen sind von einer stellenweis sehr dichten Membran. Daher können solche Eitermassen zuweilen sehr lange liegen, ohne das Leben zu gefährden. Ich habe anderwärts die Ge- schichte eines Kaufmanns mitgetheilt, der gegen sein fünf- zigstes Jahr starb, einer der gebildetsten, lebhaftesten und klügsten Menschen war, die man sehen konnte, und in dessen linker Hemisphäre sich nach dem Tode eine be- trächtliche Eitermasse, von derber Membran umschlossen, fand: in seinem sechzehnten Jahre hatte er nach einem star-

Iken Stoss an den Kopf mehrere Tage bewusstlos zugebracht, aber nach seiner Herstellung nie wieder einen Unfall er- litten , der diese Eiterung hätte hervorbringen können. Das Streben , einer als fremder Körper wirkenden Substanz Grenzen zu setzen, folglich die Normalbildung so viel als

80

möglich zu wollen, bringt solche Membranen hervor, die ihn einschliessen ; man findet also, wo sich Afterbildun- gen der ersten Art erzeugen , mchrentheils auch Bildungen der zweiten Art, die jenen entgegen wirken. Die ziemlich häufige Steatomenbildung scheint hier überall das Werk eines Wurms zu sein, des cysticercus colonialis. Er bil- det Anfangs eine kleine mit Serum gefüllte , durchsichtige Blase; auf einem Puncte derselben streckt er seine Köpfe hervor, wenn es nicht Säugrüssel sind. Allmählig wächst das Bläschen, die Membran desselben wird undurchsichtig und das helle Serum gerinnt innerhalb derselben , sehr langsam, endlich zu fester, gallertartiger Masse. Es ist um so wahrscheinlicher , dass diese Massen von diesem Wurm herrühren, weil er in Thiergehirnen deutlich vor- gefunden worden ist und weil sehr selten solche Steatome einzeln Vorkommen ; fast immer trifft man deren mehrere zugleich. Von aussen kann dieser Wurm unmöglich ins Gehirn kommen; nichts gewisser, als dass er sich im in- nern erzeugt, durch generatio aequivoca, wie alle Wurm- bildungen. Was seine Entstehung begünstige, ist ein Ge- heimniss , eben so warum er zuweilen Blödsinn und Läh- mungen begründe , zuweilen nicht ; ich habe Steatomen in Gehirnen von gnnz verständigen Leuten gefunden, denen kein Mensch eine Krankheit des Hirns zugetraut hätte.

NB. Keineswegs kann man behaupten, dass alle Hirn- erweichung von Entzündung herrühre; man findet oft ge- nug die ganze Masse erweicht , wo an solche gar nicht zu denken ist, z. B. bei hydropischen. Es ist uns schlechter- dings unbekannt, woher dies zuweilen komme, denn we- der Entzündung, noch Serumbildung allein sind die Ur- sachen.

n.

Auf welche Weise das Gehirn zuweilen zähe und hart* Zuweilen breiartig weich wird, wissen wir nicht, eben so wenig, wie es kommt, dass Entzündung es allemal brei-

si

artig weich macht und schwärzlich färbt; wir kennen blos das Factum. Flourens bezeugt zwar , das» das verwundete Gehirn anschwelle und härter werde ; ich berufe mich auf das Zeugniss aller, die Kopfwunden behandelt haben, ob sie nicht allemal sahen , dass das Hirn an der verwun- deten Stelle breiweich ward und eine schwarzgraue Farbe annahm. Eben so habe ich es auch allemal gesehen, wo Caries des Schädels einen Theil desselben verdorben hatte. Eine sehr schwer pathogenetisch zu erklärende Erscheinung ist der Hirnschwamm . Man hat behauptet, er komme aus den Membranen, die das Hirn umschliessen ; ich kann es nicht glauben, denn jedesmal drängt er sich aus der Tiefe hervor und Obductionen zeigten das Gehirn an der corrup- ten Steile durch und durch verdorben, den Schwamm durch die ganze Substanz desselben in ziemlich runder, vielmehr cy lind rischer oder konischer Form fortgesetzt. Es ist wahr, dass ich Hirnschwamm nach blossen Verlez- zungen der dura mater habe entstehen sehen, wo das Hirn blos unbedeckt, aber nicht verwundet war, allein bei weitem häufiger entsteht er nach Hirnwunden, und zwar nicht nach grossen, sondern stets nur nach kleinen Verletzungen deg Gehirns. Ich habe grosse, gewaltige Hiebwunden d^s Schädels , wobei nicht unbeträchtliche Hirnparthien verlo- ren waren, heilen sehen ohne allen Hirnschwamm, wäh- rend er nach kleinen Hirnwunden fast immer zu fürchten ist. Diese grauliche, fester als die Hirnsubstanz erschei- nende Masse hat zuweilen innerlich kleine Höhlen, zuwei- len ist sie ganz dicht und ohne hohle Zellen. Sie erscheint selten vor dem dritten Tage nach der Verwundung, wu- chert unglaublich schnell und tödtet fast immer den drit- ten , vierten Tag nach ihrem ersten Erscheinen ; gelesen habe ich zwar hier und da von glücklich ausgt edrehten oder sonst geheilten Hirnschwämmen, aber die ich g esehen habe, waren allesammt tödtlich. Diese Erscbeinun ig lässt sich

ilkaum anders erklären, als durch das Hcrvon’reten eine» Wucherungsprocsise» in einem Theile der Ms nrksubstanz,

6

82

die zugleich degenerlrt. Sei es die Atmosphäre oder me- chanische Heizung, die diese Wucherung hervorbringt: an- ders als nach Verwundung entsteht sie nie. Jn therapeu- tischer Rücksicht halte ich sie für unheilbar, um so ge- wisser, da sie die Marksubstanz selbst verwandelt, folglich die Bedingung des Lebens eher zerstört, als sie abgeson- dert werden könnte,

72.

Die Hydropcnbildung setzt zwar oft und raehrentheils Entzündung der Hirnhäute voraus, doch nicht immer: es giebt manifeste Fälle, wo sie ohne alle vorgängige Ent- zündung zu Stande kommt. Und wo diese wirklich statt findet, entsteht sie als, Ausgang der Entzündung, nicht in deren Verlauf, als Exsudation, welche das natürliche Ende aller membranösen Entzündungen ausmacht. Nicht leicht ist die Beantwortung der Frage, weiche der drei Membra- nen die ausschwitzende ist. Die harte Hirnhaut gehört dem System der Flechsenhäute an , und wir sehen aus dem Beispiel der arthritischen und rheumatischen Anschwel- lungen, dass diese Serum abzusondern fähig sind. Dass die Arachnoidea es vermöge, leidet keinen Zweifel. Aber auch die geiassreiche pia kann es ohne Frage ; sie gehört zu keinem der drei Membranensysteme, sondern macht eine Ausnahne von allen andern Membranen. Dass sie Se- rum absondern könne, beweisen die serösen Anhäufungen in den Hirnhöhlen,* die hyaloidea der Seitenventrikel ist nothwendig ihre einzige Quelle und diese selbst ist nichts als eine Modification der pia. Wir sind berechtigt, als Quelle der Absonderung die Membran zu erkennen, die wir verändert antretfen, aber wir finden alle drei zuweilen verändert, ja alle drei zugleich. In therapeutischer Rück- sicht ist die Frage raüssig, denn auf die Behandlung kann es keinen Einfluss haben, wenn wir wissen, au* welcher Membran das Serum ausgeschwitzt ist. Sehr oft schwitzt Serum in der SchädeihöhJe au*, das sogleich wieder auf-

83

g esogen wird ; besonders io den Seitenhöhlen finden wir welches, wenn blos Todesfurcht, sonst gar keine Krank- heit, auf den Hingerichteten gewirkt hat, dagegen finden wir nie welches bei Menschen, die in voller Gesundheit plötzlich getödtet werden, z. B. durch den Blitz, oder ira Gefechte. Sein Vorkommen ist so häufig, dass der be- rühmte Sömm erring es für normal hielt und ihm eine Wichtigkeit zuschrieb, die es gewiss nicht hat. Es lässt sich aber mit Sicherheit erwarten, dass im Laufe des Le- bens ursprünglich oft Serum ausgeschwitzt wird, welches ohne alle Folgen bleibt. Es genügt aber hier zu bewei- sen, dass die Hirnmembranen Serum ausschwitzen, ohne entzündet zu sein, was aus einer Menge von Beispielen klar ist

n.

Sehr viel schwieriger als die Pathogenie der plasti- schen Krankheiten des Gehirns ist die der sensiblen. Von jeher hat man vorausgesetzt, dass sie allemal von plasti- schen ausgehen und mit diesen verbunden sind , die Er- fahrung lehrt durchaus das Gegentheil. Allein der Blöd- sinn macht Ausnahme ; der hat oft seinen Grund in Form- änderungen des Hirns und bewirkt deren allemal , wenn er längere Zeit fortdauert. Die Pathogenie soll übrigen* entwickeln, wie aus Fehlern der Normalform Fehler im sensiblen Leben hervorgehen und dies vermag sie noch weniger. Wir können nicht einmal im allgemeinen sngen, gesunde Aeusserung des Geistes und der Sensibilität be- dürfe ein gesund gebildetes Gehirn, denn wir sehen ihäufig genug Gehirne , die von der Normalform beträchtlich ab- weichen, bei Menschen, deren sensible Functionen käme Krankheit verrathen. Was noch mehr ist: wir sehen bei organischen Fehlern des Gehirns sehr häufig periodisc he Krankheiten der Vorstellung; dieselben Menschen sind also bei fortdauernden Biidungsfehlern in ihren sensiblen Aeus- •erungen bald gesund, bald krank, wovon wir 4ie

6 #

84

lichkeit gar nicht zu erklären wissen. Da die Unters«« chung der Hirnform bei Menschen mit kranker Sensibilität so verworrene Resultate giebt, ist man darauf gefallen zu behaupten, dass nicht veränderte Plastik des Gehirns, son- dern anderer Organe müsse die Krankheiten der Sensibili- tät erzeugen, weil man wie festgeüannt war in dem Wah- ne, dass sich allemal die Plastik eher oder doch gleichzei- tig krankhaft verändern müsse, wenn die Sensibilität krank- haft erscheine. Hier lehrt die Erfahrung blos, dass ge- wisse Entzündungen der dünnen Därme jedesmal Delirien eigener Art hervorbringen. Aber diess hebt nicht die Möglichkeit auf, dass häufig Entzündungen der dünnen Därme auch ohne Delirium verkommen, überdies sind wir nicht im Stande, das Factum pathogenetisch aufzuklären. Wir wissen zwar, dass Consens zwischen den Ganglien des Unterleibs und dem Gehirn statt findet, sehen deshalb aus Leiden des Bauchgangiions Kopfschmerzen und aus Leiden des Gehirns Erbrechen entstehen ; wie aber aus dem Lei- den der Mesenteriaiganglien bei Entzündung der dünnen Där- me Delirien entstehen, wissen wir nicht. Es ist uns viel leichter, die Ursachen anzugeben, welche Schwindel, De- lirien, Convulsionen , andere Symptome kranker Sensibili- tät, ja Apoplexie, Lähmung hervorbringen, als zu ent- wickeln, wie sie wirken. Die pathogenetische Frage müs- sen wir fast immer ganz abweisen und in eine blos ätio- logische verwandeln. Am besten erklären wir noch die schlafsüchtigen Krankheiten , die auf Blutüberfüllung oder Extravasat folgen, indem wir sagen, dass hier das Blut, in den ausgedehnten Gefässen, oder ausser denselben er- gossen, die freie Bewegung des Hirns hindere und dies aus dem Träger der Sensibilität in ein blos vegetirendes Organ verwandle.

74.

Da das allgemeine Gesetz, nach welchem die Sensibi- lität wirkt, das Polaritätsgesetz ist, so roüsseu alle Krank-

65

heiten derselben ausgehen von einem oder dem andern Pole, oder durch Interceplioa der Leitung von einem zum andern entstehen. Noch ist ein dritter Fall möglich: die Pole können sich umkehren. Wenn nun von den Leiden der äusseren Pole die Rede ist, so beantwortet sich die pathogenetische Frage meistens leicht; z. B. wenn in den Sinnorganen irgend etwas vorgeht, was sie zur Aufnahme der Qualitäten der Materie, der sie gegenüber stehen, mehr oder weniger unfähig macht , so geben sie keine oder unvollkommene sinnliche Erscheinung, oder wenn die Muskeln durch irgend etwas in ihrer Bewegfähigkeit be- einträchtigt werden, so hindert das die Bewegung. Aber ganz anders verhält sich das bei dem inneren Pol. Wie geschieht cs, dass dieser hei Normalität der Plastik ganz oder zum Theil unfähig wird zu wirken? oder dass er enorm wirkt? oder dass das Verhältniss der einen Wir- kung zur andern abnorm wird? Wie geschieht es, dasa die Pole sich verw echseln , der äussere zum inneren wird und umgekehrt? Wenn wir auch unsere Zuflucht zu den Gesetzen der Sympathie und der Gewohnheit nehmen , so kommen wir nicht weiter, weil wir die Art, wie diese Gesetze wirken, selbst nicht kennen, sondern blos sagen können , dass sie sich thätig äussern. Wo ist der Mensch, der z. B. vom Gesetz der Sympathie sagen kann, wie es zugeht, dass die Zeichen der Idee des einen, vom andern bemerkt , in diesem dieselbe oder eine ähnliche Idee erre- gen, wie die bezeichnete ? Das Factum ist so gemein,

[dass jeder es kennt, aber wie es geschieht, weiss nie- mand. Wo wir aber die normalen Aeusserungen eines Lebensgesetzes blos dem Resultate nach, aber nicht nach der Modalität ihres Zustandekommens verstehen, können wir die abnormen noch weniger entwickeln. Anlangend die Hindernisse des Leitungsapparals, so können wir die beurtheilen, die mit plastischen Veränderungen verbunden sind, aber nicht die, welche in der Sensibilität der Ner- ven selbst liegen. Angenommen, dass die ganze polare

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Action auf Verwandlung thierischen Stoffs in die vierte Form der Materie beruhe, was doch nichts weiter ist, als wahrscheinliche Vermuthung, keineswegs erwiesene That- aache, so kommen wir auch damit nicht weiter* Denn wie können wir bestimmen, welcher Theil der thierischen Materie zu dieser Verwandlung am geeignetsten ist, wa- rum sie blos innerhalb des Nervensystems vorgehe , und weiche Hindernisse dieser Verwandlung entgegenstehen? Wir müssen bekennen, dass uns alle diese Fragen zur Zeit un- beantw'ortlich sind* Möglich, dass wir jedoch nicht an die Grenzen unsers Wissens rühren und die Folgezeit einst manches hierin aufklärt,

?5,

Am allerschwersten ist das pathogenetische Urtheil über die kranken Aeusserungen des Denkvermögens. Sie sind im allgemeinen begründet :

a) in den plastischen Thätigkeiten des Gehirns. Diese begreifen wir am besten, z. B. das Delirium, den Schwin- del, die Schlafsucht , die Lähmung, .wenn nämlich sinn- liche Reize , der Blutandrang , Extravasate die Thätigkeit des Gehirns entweder reizen oder stören, so dass dasselbe zur sensiblen Function überhaupt mehr oder geringer un- fähig wird.

b) In verkehrter Polarität, wenn namentlich entweder die Muskeln, statt vom Gehirn aus bewegt zu werden, das Gehirn bewegen, wie bei vielen Arten der Convulsionen der Fall ist, oder die Sinne, statt Bilder in das Gehirn zu reflectiren, umgekehrt die Ilirnbilder als äussere dar- e teilen, wie beim falschen Hören , bei der Vision geschieht. Da wir die Modalität hievon gar nicht kennen, so wissen wir blos das Factum, aber nicht wie es zu Stande kommt.

c) In abnormem Wirken der basischen Kräfte. Sie sind entweder in exaltirter Thätigkeit, wie bei der Ma- nie, oder in verminderter, wie beim. Blödsinn. Auch da«

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Ton wissen wir nur den Vorgang, nicht wie er möglich wird: wir können disponirende Ursachen aufsuchen, aber nimmermehr erklären , wie sie wirken.

d) Im Vorherrschen des qualitativen, äusserlichen, über das quantitative, innerliche. Um es kurz zu wie- derholen , so besteht jede Vorstellung aus ihrem ausser- liehen Tlieil, aus dem Ich, auf das sich dies äussere be- zieht und aus dieser Beziehung selbst, eine alte Wahrheit, die keiner Erörterung bedarf. Zur menschlichen , verstän- digen Vorstellung wird sie, wenn das Ich, das innere, das äussere seinem Gesetz unterordnet. Dies äussert sich in sinnlichen Dingen als Maas, oder als Zeit und Raum, in andern als Unterordnung des besondern unter das Allge- meine. Wenn dem Menschen die Möglichkeit dieses Un- terordnens verloren geht, ist seine Vorstellung krank. Der Verlust kann sich nur theiiweis auf einzelne Vorstellungen, er kann sich auf alles Vorstellen überhaupt erstrecken, aber es ist die Bedingung der Gesundheit des Vorstellens, dass der Mensch vermögend sei, seine Vorstellung dem allgemeinen Gesetz, das in ihm liegt, zu unterwerfen. Er kann es Millionmal unterlassen und blos sinnlich oder thie» risch vorstellen, nur fähig muss er sein, dass er es könne, wenn er w ill. Dadurch allein unterscheidet sich der Irrthum von der kranken Vorstellung. Der irrende kann an seine Vorstellung das Maas anlegen, sie prüfen und berichtigen; ob er es thut oder nicht, darauf kommt es nicht an, son- dern darauf, dass er es könne. Kann er es nicht, so ist er wahnsinnig, und seine Vorstellung kein Irrthum, son- dern eine Krankheit. Jeder kann sich z. B. verrechnen, aber wenn er nachrechnet und prüft, findet er den Fehler und berichtigt ihn. Der Wahnsinnige aber kann es nicht ; er hat kein Maas, nach dem er seine Vorstellung prüfen kann. So weit sehen wir wohl die nächste Ursache, das Wesen dieser Art von Vorstellungskrankheiten ein , aber wie es zugeht, dass dem Menschen dies Maas ver~

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loren gehen kann, «ehen wir io wenig ein , als wir wissen, woher eg ihm kommt

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Cap, Vlir. Allgemeine Aetiologie der Himkrankheiten.

7«.

Streng genommen ist eine allgemeine Aetiologie der Himkrankheiten unmöglich: denn die Ursachen plastischer Krankheiten des Gehirns sind von denen der sensiblen Krankheiten gänzlich verschieden* Da jedoch die ersteren fast nur Wichtigkeit haben , in wie fern sie die Sensibili- tät stören und die letzteren fast ausschliesslich gemeint sind, wenn man von Krankheiten des Gehirns spricht, ist es nicht abzuweisen, dass man die generellen Ursachen der gestörten Aeusserung der Sensibilität ins Auge fasse. Die plastischen Krankheiten des Gehirns haben ohnehin dieselben allgemeinen Ursachen, wie die aller andern Or- gane, bieten folglich nichts besonderes dar, ausser in Be- zug auf die Sensibilität. Hier kommen sie in Betracht als Krankheitsursachen selbst, in wie fern sie die Fähigkeit des Gehirns zur Sensibilität mehr oder weniger beschrän- ken. Wir haben schon zum öfteren erwähnt, dass bedeu- tende Zerstörungen , Formänderungen, Eiterungen statt fin- den können, ohne dass sofort die Functionen der Sensibi- lität aufhören: die häufigen Beispeile, die dies beweisen, setzen in Erstaunen. Ich habe drei Fälle gesehen, wo eine Kugel durchs Stirnbein eingedrungen war und eine ganze Hemisphäre zerstört hatte , ohne dass der Kranke im mindesten die Besinnung verlor; noch auffallender war ein Beispiel, das sich 1827 in der Königl. Charite zu Ber- lin ereignete. Ein Mann hatte sich aus Verdruss über «eine Gattin ein Pistol gerade mitten zwischen beide Augen

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gesetzt: vermuthlich war es mit Wasser geladen gewesen. Es hatte das ganze Stirnbein, beide Augen und den vor- dem Theil beider Hemisphären völlig zerstört: Tausende von Knochensplittern allein steckten in der Hirnmasse. Doch respirirte er. Der Arzt, der ihn sah, fragte miss- muthig: »Was ist hier zu thunlu Zu aller Anwesenden

nicht geringem Erstaunen antwortete der grässlich Verwun- dete: »Mich je eher je lieber sterben zu lassen.« Dann kam die Gattin schluchzend ans Lager; als er sie hörte, sprach er: »Ihr Werk, Madame!« Erst nach mehre- ren Stunden delirirte er, verlor das Bewusstsein und starb zwölf Stunden nach der Verwundung. Dies ist der aulfal- lendste Fall, den ich erlebt habe; ähnlicher könnte ich jedoch noch eine Menge anführen. Noch unerklärlicher ist , dass Destructionem des Schädels periodische Krank- heiten der Sensibilität veranlassen, wie das Beispiel eines schwedischen Hauptmanns, um einen Fall aus vielen zu erzählen, beweist, der nach einer Schusswunde am Hin- terhaupt Anfälle von Wuth, in unregelmässigen Zwischen- räumen, bekam, deren jeder genau sechs Tage dauerte: waren diese vorüber, so war der Kranke wieder eine Weile gesund. Ganz dasselbe sieht man bei Epilepsien, die einen Glassplitter oder etwas dem ähnliches zum Grunde haben, der irgendwo einen Nerven des Arms, des Fusses reizt. Obgleich dieser Reiz immer da ist, macht doch die Epi- lepsie nur Anfälle, die vorübergehen und lange Perioden von Gesundheit zurücklassen. Und ein Tröpfchen Blut, in die Nähe der gestreiften Körper ergossen, erregt Apo- plexie und Lähmung; ist der Erguss so, dass er das ver- längerte Mark berührt, erfolgt schneller Tod.

77.

Die nächste Ursache jeder Krankheitsäusserung im sen- siblen Leben muss nothwendig im Nervensystem liegen, aber im allgemeinen ist darüber nichts näher zu sagen; alle Untersuchung der nächsten Ursachen der Krankheiten

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ist speciel. Hier ist nur zu erwähnen, dass selbst in dem Falle, wo die Veranlassung der kranken Sensibilität durch andere Krankheit gegeben ist, die nächste Ursache dieses Symptoms doch im Nervensystem liegen muss , z. B. wenn ein narcotisches Gift im Magen liegt, so ist das Delirium doch allein Folge der Wirkung ins Nervensystem, also die nächste Ursache desselben in diesem. Eben so wenig, als sich etwas haltbares über die nächsten Ursachen der Hirnkrankheiten im allgemeinen sagen lässt , kann man auch von den Gelegenheitsursachen etwas allgemeines sa- gen: jede wirkt speciell. Alles generelle beschränkt sich darauf, dass, die wenigen Fälle ausgenommen, wo der Blitz, wo Kälte, Hitze, die Imponderabilien überhaupt, dann mechanische Gewalt die sehr starken isolirenden und schützenden Apparate des Hirns überwältigen, jede Gele- genheitsursache nicht anders in das Gehirn wirken kann, als entweder durch das Blut oder durch die Sinne, denn nur mittelst dieser beider Verbindungen steht das Gehirn mit der Aussenwelt in Berührung. Manchmal bleibt eg sehr schwer zu bestimmen, ob ein Reiz durch das Blut oder durch die Sinne wirke, z. B. beim Vergiften durch Blausäure, durch einige Krankheitsgifte. Der Tod erfolgt hier so schnell, dass kaum möglich ist, die Qualität de9 Blutes als dessen Ursache anzunehmen und die Vermuthung entsteht, dass schnelle Lähmung der Gangliennerven sich bis auf die Ganglien und von diesen aufs Hirn fortsetzend, das Leben aufhebe.

78.

Folglich, da Gelegenheitsursachen, wie nächste Ursa- che, immer speciell sind, so kann in der allgemeinen Aetio- logie der Hirnkrankheiten blos von den disponirenden Ur- sachen die Rede sein. Was disponirt das Gehirn zum Er- kranken? Dies ist die eigentliche Frage, welche hier Rücksicht erfordert. Wir schliessen dabei die nochmalige Erwähnung der Desorganisationen und mechanischen Krank-

91

heitsursachen aus, die zwar allerdings dazu disponiren, von welchen aber schon die Rede gewesen ist. Die erste und wichtigste disponirende Ursache zu Hirnkrankheiten liegt im Verhältnis* der Entwicklung des Gehirns zur Entwicklung der übrigen Organe. Dies Verhältnis ändert sich nach dem Le- bensalter; ferner wird es durch eine Menge individueller Umstände verschieden bestimmt. Im Kinde ist die Vegetation des Gehirns sehr viel stärker, als die aller anderer Organe, daher die Disposition der Kinder zu Convulsionen und zu Entzündung und Ausschwitzung der Hirnhäute : sie vermin- dert sich mit dem Wachsthum und erreicht ihr Minimum zurZeit der Entwicklung der Pubertät, weswegen sehr oft convulsive Krankheiten der Kinder, auch wenn sie fort- dauerten , um diese Lebensperiode aufhören. Dagegen tritt zuweilen um die Pubertätsperiode Geneigtheit zu Convul- lionen ein, die ihren Grund im Rückenmark haben, wenn das Verhältniss des Wachsthums der Knochen nicht dem des Marks selbst gemäss bleibt. Doch ist dieser Fall nicht sehr häufig, und überhaupt ist diese Lebensperiode am wenigsten zu Krankheiten aller Art disponirt. Im Laufe des Lebens entstehen die meisten Krankheiten des Gehirns von Aufreizungen des Gefässlebeng , hinter welchen die des Nervensystems Zurückbleiben. Im späteren Alter welkt das Gehirn eher als der übrige Körper; in vielen Theilen des letzteren stellt sich Neigung zu Verknöcherung ein; die Zahl und die Weichheit der kleinen Gefässe vermin- dert sich allenthalben; die Sinnorgane werden allmählig immer ungeschickter zu ihren Functionen.

79.

Wie aus diesen Umständen ein Heer von Möglichkei- ten entsteht, die das Gehirn zum Erkranken bringen, ist klar; allein es giebt auch ein anderes Entwicklungsver- hältniss, das nicht minder fruchtbar, als jenes im Erzeu- gen von Hirnkrankheiten ist, das der Ausbildung der kör- perlichen und der geistigen Kräfte überhaupt. Das höchste

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Ziel menschlicher Bildung, gleichförmige des Körpers und Geistes zugleich, ut sit mens sana in corpore sano, wird selten erreicht ; fast immer wird der eine über den an- dern vergessen und gelbst das Schicksal , die Summe der Aussenverhältnisse, bestimmen zur Einseitigkeit der Bil- dung. Der bei weitem grösste Theil der Menschen muss durch körperliche Arbeit sein Brod erwerben und wird da- durch gezwungen, den Gebrauch der Mittel aufzugeben, der nothvvendig wäre, den Geist zu bilden. So wird der Mensch stumpf gegen alles edlere, höhere, menschliche Gefühl, blos empfänglich für Genüsse, die ihm Abwechs- lung und Erholung von ermüdendem Einerlei der gewohnten Arbeit verschaffen und zugänglich für kleinlichen Eigen- nutz : solche Menschen gehen dann an Krankheiten oft un- ter, welche die rohe Befriedigung sinnlicher Gelüste, bald in der somatischen, bald in der sensiblen Sphäre, hervor- bringt. Schlimmer als diese sind die daran, bei welchen geistige Anstrengung, oft wider Talent, das Mittel zur physischen Erhaltung werden soll : mit ängstlicher Mühe bilden sie einzelne intellectuelle Kräfte zwar aus, aber in- dem sie den Körper darüber gänzlich verabsäumen und zu- gleich den Abstand zwischen ihrem Verhältniss im Leben und dem der gebildeten Welt inne werden, fühlen sie sich unglücklich ; die physische Kraft in ihnen wird geschwächt, und die einseitig gebildete geistige bleibt niedergedrückt, ihrer Basis beraubt, und ersetzt ihnen nicht, waa sie durch vernachlässigte physische Bildung verlieren. Daher so viele Nervenkranke unter dieser Klasse von Menschen. Einiger- massen gesellt sich zu ihnen die grosse Zahl der Frauen, deren physische Kraft ebenfalls gänzlich verabsäumt wird, die, in Stuben erzogen und zum Nichtsthun privilegirt ■ich verweichlichen, aber durch übelgcwählte Lectüre die Phantasie entzünden und einen Anstrich intellectueller Bil- dung erlangen, dem zugleich Basis und Zusammenhang fehlt. Natürlich werden sie durch die gänzlich fehlende Uebereinstimmung in ihrem Wesen nervenkrank.

9$

80.

Endlich ist der Widerstreit im Menschen zwischen Neigung und Pflicht eine fruchtbare Quelle von Hirn- und Nervenkrankheiten. Jedes Thier hat ein bestimmtes Ziel seines Lebens; es will sich ernähren, sich beschützen, al- les unangenehme von sich abwehren, seines gleichen zeu- gen und sich angenehme Genüsse verschaffen , jedes nach seiner Art und Eigenheit. Der Mensch allein ist mit sich selbst von Natur im Widerspruch; er möchte das alles auch, wie jedes andere Thier, und muss es auch, wenn er nicht untergehen soll, allein er trägt in sich ein Gesetz, nach welchen er alle sinnliche Genüsse sich zu versagen, ja das Leben selbst zu opfern verpflichtet ist für einen Zweck, der darum ideell genannt werden muss, weil ihm in der sichtbaren Natur nichts entspricht , sondern allein die Idee des Menschen selbst ihn enthält, weshalb dessen Befolgung dem gemeinen Menschen oft lächerlich dünkt, ob er gleich selbst nur nach ihm andere richtet und selbst gerichtet wird. Denn warum gehorchen Tausende ihrem Feldherrn, der sie zu Entbehrungen und in Gefahren führt? Warum unterwerfen sich Nationen ihren Obrig- keiten? — Man sage nicht: weil sie müssen, indem die Macht der Gesellschaft den einzelnen zwingt; die Macht der Gesellschaft würde nicht entstehen, wenn nicht in je- dem einzelnen die Ueberzeugung lebte, dass er sich dem Gesetz unterwerfen müsse. Gleichwohl siegt im Einzelnen oft die Sinnlichkeit über die Pflicht und der Kampf im i inneren des Menschen verwickelt ihn in Widersprüche.

IBald künden diese sich ihm an durch Vorwürfe, die er sich selbst macht, bald treibt ihn der Wunsch, die Sinn- lichkeit zu überwinden , zu Entsagungen , unter denen sein physisches Wohlsein leidet: in beiden Fällen gestalten sich die Folgen als Krankheiten des Nervensystems. Das Thier hat Leidenschaften, wie der Mensch, aber die Handlun- lungen, zu welchen eie es treiben, verwickeln es nicht

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in Vorwürfe wider sich selbst, nicht in beschämende, nie- derschlagende Folgen. Ihrer Befriedigung kann sich nichts entgegenstellen, als der Mangel an Gelegenheit; beim Men- schen aber beschränkt sie seine Kraft, sich selbst zu be- herrschen , die, wenn sie auf Abwege geräth, zuweilen die Basis seines Daseins angreift. Wir sehen daher die Schuld mit ihrem niedergedrückten Bewusstsein auf der einen, und das Niederkämpfen thierischer Neigungen , die zur Existenz des Menschen gehören , auf der andern Seite gleich oft als Quellen fortdauernder Krankheiten des Ge- hirns»

81.

Zuletzt muss noch ausser dem Glauben des Menschen an Pflicht und Recht auch der zweite Glaube des Men- schen an höhere Wesen als er selbst ist, unter den Ursa- chen der Nervenkrankheiten eine wichtige Stelle finden. Dieser Glaube wird mit ihm geboren ; keine Erfahrung be- stätigt ihn er würde ihn haben, und wenn niemand eine Spur desselben gegen ihn äusserte. Nicht die Noth- wendigkeit, sich eine Wcltursache zu denken , nicht die Erkenntniss des Höchsten, so natürlich sie ihm ist, führt ihn dazu; den denkenden Menschen, den, dessen rcflecti- renden Kräfte entwickelt sind, führt sie zur Ahndung der Gottheit, aber diese kündigt sich allen, auch den gedan- kenlosen , sinnlichen und niedrigen , durch eine unwider- stehliche, allen Menschen gemeine Ueberzeugung an und der Zweifel daran erscheint jedem als eine widernatürliche Ruchlosigkeit» Weil aber diese Ueberzeugung keiner Gründe bedarf, ja allen Gründen voraus in jeder Men- schenbrust lebt, so wirkt sie nicht auf einzelne Kräfte des Menschen, besonders nicht auf seine intellectüellen allein, sondern auf den ganzen Inbegriff seines Wesens, weshalb wir sie mit Recht als das tiefste Gefühl der Menschen- natur anerkennen. In jedem Individuum gestaltet sie sich anders, aber innig verwandt mit allem, was ihm wichtig

iat, führt sie ihn oft zum Wahn, zur Leidenschaft, zu Erschütterungen, in welchen die Integrität seiner Kräfte untergeht.

Cap. IX. Diätetik zur Verhütung von N ervenkrankheiten.

82.

Nationen, deren geistige Kraft, im Laufe der Zeiten entwickelt, endlich ihren Culminalionspunkt erreicht hat, sinken wieder , denn die geistige Entwicklung wird immer mehr die vorzügliche, zuerst in der obersten Klasse, dann auch in der mittleren, endlich selbst in der unteren; in dem Maasse, in welchem die Entwicklung der Körperstärke vernachlässigt wird, verfällt sie und mit ihr die Basis der geistigen Kraft; folglich verfällt auch diese bei aller Ent- ** Wicklung. Die Kunst wird Dienerin des Luxus , die Wis- senschaft darf nur Spitzlindigkeiten nachjagen, aber die grossen Objecte des menschlichen Forschens nicht anrüh- ren, damit die mächtigen nicht in Unruhe gerathen; Klug- heit wird zur List, Tugend zur Fabel; nichts bleibt, als die Leidenschaft und die Sucht nach Vergnügen und alle Geistesbildung läuft auf die Geschicklichkeit im Befriedi- gen jener, im Erfinden von neuem Reiz für diese hinaus. So sinkt die Sittlichkeit immer tiefer und selbst der Glaube verwandelt sich in ekelhaftes Streben, durch Zauberfor- meln und Gebete den inneren Vorwurf zu beschwichtigen. Also sanken Griechen und Römer, also die Italiener der neuern Zeit und alle Europäer werden ihnen folgen. Mag es im natürlichen Entwicklungsgang des Menschen unver- meidlich begründet sein ,' so ist doch Pflicht der Gesetz- gebung, so lange sie Kraft genug behält, Vormünderin der Volk«r zu fein, dass sie den Verfall so «ehr als möglich

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aufhält und mindestens Frist gewinnt, wenn sie ihn nicht abwenden kann. Es muss also der allgemeinen Polizei da- ran liegen, die Mittel zu kennen, wie sie dies erreicht und die Corruption des Volkes entfernt, die in Folge der edelsten Erhebung selbst erst langsam einschleicht, dann wächst und endlich alles überwältigt. Inniger und näher berührt die Kenntnis« der Mittel, die einzelnen vor der Corruption zu bewahren, jeden sorgsamen Vater und Er- zieher: thäten diese alle, was ihnen obliegt und möglich ist, so würde das Ganze nicht verfallen, denn das Uebel geht vom Einzelnen aus und verbreitet sich allmählich über das Ganze, wie die Zahl der einzelnen verdorbenen zunimmt.

83.

Der Grund der Corruption liegt in der Erziehung. Diese ist nichts anders, als Gewöhnung, und die zweck- mässige ist allein, wenn der junge Mensch gewöhnt wird, seine Kräfte gleichförmig und in dem Verhältniss zu üben, in welchem sie die Natur in ihm entwickelt. Das stärkste Wachsthum des Gehirns findet aber statt im ersten Le- bensalter bis zum siebenten Jahre; je jünger der Mensch, desto kräftiger vegetirt das Gehirn. In dieser Lebenspe- riode wird dem Menschen gewöhnlich die Richtung er- theilt , die er für sein ganzes Leben behalten soll: da«, was man Charakter, Anlage, vorherrschende Neigung nennt, ist viel wahrscheinlicher die Folge der Art, wie das Kind bis zum siebenten Jahre behandelt worden ist, als späterer Gewöhnung, oder irgend einer besondern Hirnbildung. Jetzt, da das Hirn am stärksten wächst, bildet es sich und bekommt Organe, die, wenn sie nicht entwickelt werden, sehr viel kleiner bleiben würden. Das Kind , das an seiner Wiege nur abscheulich und falsch singen hört, das heran- wächst, ohne Musik zu hören, bekommt gewiss in seinem Leben nie Talent zur Musik, wird nie sicher Töne unter- scheiden , nie leicht Melodien merken ; gegentheils das

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Kind, das stets Musik um sich 211 hören gewohnt ward, wird gewiss musikalisches Talent zeigen. So wird ein Kind, das seine unbarmherzige Wärterin schreien und sich erzürnen lässt, ohne darauf zu achten, gewiss leidenschaft- lich und heftig. Man hört oft, der Charakter der Am- men habe Einfluss auf die Kinder und ist geneigt, ihn durch eine Art von Wunder aus der Qualität der Milch herzuleiten, während gewiss nur die Art, wie sie die Kin= der behandeln, diesen Einfluss ausübt. Das Beispiel, das wir vom ersten Erwachen der Sinnlichkeit an den Kindern geben, bildet sie so oder anders aus und bleibt der Grund, 1 auf welchem der ganze Einfluss des Lebens weiter fort baut. Das noch weiche Gehirn nimmt jetzt Modificationen der Form an, die fürs ganze Leben bleiben.

84.

Es ist daher ein grosses Glück, wenn Kinder im ersten j Lebensalter gesund, und von gesunden, heiteren Menschen umgeben sind, denn eignes Kränkeln giebt ihnen eine Rich= tung fürs Leben, die sich am Ende in Klagen und Leiden gefällt und kränkelnde Umgebungen rauben dem Kinde Frohsinn und Lebensmuth. Es ist höchst wohlthätig, wenn sie ihren Willen dem der Aeltern frühzeitig unterwerfen lernen, damit es ihnen in der Folge zur leichten Gewohn- heit werde, ihr Gelüsten der endlich erwachenden Ver- nunft zu unterwerfen. Es ist ein grosses Glück , wenn sie nie Zeugen von Ausbrüchen heftiger Leidenschaften wer- den, noch weniger unter solchen leiden , wenn sie früh- 1 zeitig einer Wärterin in die Hände fallen, die ihnen mit Liebe begegnet, die die Kunst versteht, ihnen, wenn sie Unpassendes heftig begehren, andere Gegenstände unterzu- schieben, die sie zufrieden stellen und nicht die Heftig- 1 keit aufs äusserste kommen lassen. Doch dies und vieles t andere gehört wesentlich zur Charakterbildung der Kinder; wesentlicher für unsern Zweck ist zu beachten, was jetzt dafür geschehen könne, das Kind vor Hirn- und Nerven-

I

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krankheiten , vor verkehrter Anlage zu bewahren, die es späterhin unbrauchbar und unglücklich macht. Hier muss also die Frage beleuchtet werden, ob es zweckmässiger ist, Kinder vor dem siebenten Jahre ohne Unterricht aufwach- sen zu lassen, oder ob sie schon in diesem Alter der Schule unterworfen werden sollen. Man ist jetzt gewohnt, dies letzte so zu verwerfen, als wenn es ein Verbrechen wäre, das den Kindern die Freuden ihres Alters verkümmere, mich dünkt, mit grossem Unrecht. Ja, wenn die Rede vom Unterrichten der Kinder in Dingen ist, deren Zweck sie durchaus nicht begreifen können, so ist es gewiss höchst unrecht, widernatürlich und zwecklos, sie damit zu plagen, besonders sie zum Stillsitzen anzuhalten , wenn ihre er- wachende Kraft gerade das Gegen theil dringend fordert. Aber das Kind hat, so wie es thätig sein kann , zwei Be- dürfnisse, das eine, stets beschäftigt zu sein, so lange es nicht schläft, das zweite, mit dem Gegenstand der Beschäf- tigung oft zu wechseln. Die Art, wie diese beiden Triebe im ersten Lebensalter benutzt oder gehindert werden, be- stimmt die Handlungsweise der Menschen für ihr ganzes Leben. Sind sie verwöhnt, nichts ordentlich zu thun, so wird die Pflicht wohl sie in der Folge bei Arbeiten fest- halten, allein nie wird ihnen die Arbeit lieb werden; nie können sie anders als durch Zwang, wider Neigung, sich an sie binden. Sind sie aber schon früh, im zartesten Alter, gewöhnt, ihr Spielzeug nicht gleich fortzuwerfen, sondern hat man sie auf dies und das daran aufmerksam gemacht und sie dadurch gereizt, es interessant zu Anden, bis es endlich ermüdete, wo man, ohne dies aufs höchste kommen zu lassen, ihnen bei Zeiten etwas anderes unter- schob, das man wieder nach der Ordnung ihnen zeigte, bis sie alle sinnliche Eigenschaften daran wahrgenommen, so werden sie die Arbeit lieben lernen. Zugleich ist nicht einzusehen, warum man nicht durch ihr Spiel sie Fertig- keiten, selbst Ideen, entgegenführen soll, die ihnen in der Folge nützlich werden. Freilich muss dies nie in Pedau-

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terie ausarten, die keinem Alter so schlecht gedeiht, als dein Kindesalter, aber gewiss, man wird schon selbst eine Menge Kenntnisse und Fertigkeiten sehr leicht dem Kinde vor sieben Jahren mittheilen können, die ihm in den fol- genden Lebensjahren grosse Anstrengung ersparen. Hört z. B. ein Kind mehrere Sprachen sprechen, so spricht es sie alle nach ohne sie je zu verwechseln. Ich kannte ei- nen neunjährigen Knaben, der in Constantinopel geboren war und vollkommen fertig neugriechisch sprach, wie dort jedermann, eben so fertig italienisch, wie seine Mutter, eben so fertig türkisch und arabisch, und endlich von sei- nem Wärter und Bedienten, einem Polen, auch vollkommen fertig polnisch gelernt hatte.

85,

Den Grad der Kraft des Gehirns giebt der äussere Einfluss in der frühesten Jugend dem Kinde nicht; den bringt es als Anlage mit zur WTelt. Ihn bestimmt vor al- lem der Grad der Geisteskraft des Vaters, dessen Stim- mung im Augenblick der Zeugung, die mehr oder minder glückliche Form des Kopfs, der Gefässe desselben. Aber die Richtung, die diese Kraft nimmt, wird durch die Ein- wirkung nach der Geburt bestimmt. Soli man sie dem Zufall überlassen wollen, oder nach Absicht leiten? Wer kann im Zweifel stehen, dass verständige Leitung besser ist, als der Zufall? Freilich, verständige; denn bemäch- tigt sich die Pedanterie der armen Kinder in der Wiege schon, so sorgt gewiss der Zufall tausendmal besser für sie, als diese, die besondere Erbtugend unserer deutschen Landsleute, denen niemand einen grösseren Dienst erwei- sen könnte, als wer ihnen die Pedanterie au« den Gliedern triebe. Dass der Einfluss des Vaters auf Hirn und Ner- vensystem des Erzeugten überhaupt grösser sei, als der der Mutter, geht aus der Analogie der Thiere hervor; nach dieser theilt der Vater dem Sohne alle Organe der sensiblen Sphäre mit, die Mutter die der plastischen. Das

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Füllen der Pferdestute, die vom Esel belegt wird, hat ei- nen Eselskopf und Eselsriicken , aber im übrigen die Ge- stalt und Grosse des Pferdes; das Füllen der Eselsstute, die vom Hengst belegt wird, hat einen Pferdekopf und Rücken, aber sonst die Eselsgestalt. Das Lamm des spani- schen Mutterscliaafs vom inländischen Bock hat an Kopf und Rücken grobe Wolle, aber feine an den Seiten, der Brust; das Lamm des spanischen Bocks mit dem inländi- schen Mutterschaaf hat feine Wolle auf Kopf und Rücken, grobe an der Brust und den Seiten. Vermuthlich gilt im Ganzen beim Menschen dasselbe Gesetz, obwohl die Aehn- lichkeit ganz zufällig scheint und manchmal bei Söhnen das Gesicht und die Gestalt der Mutter, bei Töchtern die des Vaters; ja wohl bei Enkeln die eines ihrer Grossväter, einer ihrer Grossmütter wieder zum Vorschein kommt. Nervenkrankheiten der Väter erben immer auf die Kinder fort; Kinder nervenkranker Mütter aber, deren Väter recht gesund sind, erben nicht diese NervenübeJ, dagegen Lun- gensucht der Mutter allemal forterbt , Lungeusucht des Vaters aber nicht, wenigstens viel seltner.

80.

Da die Glieder viel später sich entwickeln, als das Gehirn, besonders die Fiisse im Wachsthum am längsten Zurückbleiben, so schickt sich das Kindesalter vor dem sie- benten Jahre noch nicht zu Uebungen, die den Körper stärken. Laufen, Ringen, nach dem Ziele werfen und ähnliche gymnastische Künste sind für das spätere Kna- benalter, aber Uebungen des Gedächtnisses, der Aufmerk- samkeit, passen viel früher. Man wird für Thorheit hal- ten, wenn ich behaupte, das Kind lerne in der Regel vor dem siebenten Jahre viel mehr, als im ganzen folgenden Leben, und doch ist es sehr richtig. Welche Masse von Begriffen setzt allein das fertige Reden einer Sprache vor- aus, und dies lernt doch ziemlich jedes Kind bis zu die- sem Alter! Ausserdem lernt es sich in der häuslichen

Einrichtung zurecht finden , die Handlungen der Erwach- senen nachahmen, alles vernehmen, was es diese thun i sieht. Es lernt übrigens viel besser der Natur gemäss , was es vor dieser Zeit lernt, als was es später absichtlich lernen muss, denn cs lernt alles praktisch, selbst handelnd, selbst versuchend ; der rastlose Trieb zur Thätigkeit spornt i das Kind: cs sitzt nicht da, um sich etwas vorsagen zu lassen, sondern es thut sogleich, was es lernt, unvollkom- men, aber doch mit dem Willen, es recht zu thun. Der grosse Wechsel von Gegenständen allein zerstreut seine Thätigkeit; der Wunsch, alles zu versuchen, treibt das Kind von einem zum andern ; je grösser die Mannigfaltig- keit von Gegenständen ist, die es ungiebt, desto schlech« i ter wird es alles lernen , was es versucht. Daher gerathen die Kinder weit besser, die unter einfachen Umgebungen aufwachsen, als die der Reichen, deren Sinne stete Ab- wechselung haben. Findet sich vollends eine Schaar von Dienern, die alles gleich machen, was das Kind haben will und ihm die Mühe ersparen, es selbst zu versuchen, so wird aus dem Kinde sicher ein Taugenichts. Es ist gut, dem Kinde zu helfen, aber nur, indem man ihm zeigt , wie es zum Zweck gelangen kann , übrigens es selbst handeln lässt, nie aber ihm die Mühe abnimmt, und das beste, was man für seine Erziehung thun kann, ist, dass

Iman es nicht von einem Vornehmen zum andern flattern lässt, sondern bei Einern festhält, ihm die Freude des Ge- lingens erfahren lässt, es aber auch nicht ermüdet oder zugiebt, dass ihm zum Ekel werde, woran es erst Lust empfand. Es lernt auf diesem Wege zugleich die Erwach- senen achten, weil ihnen alles leichter und besser gelingt, und ihnen gehorchen, wenn sie ihm, als unabsichtlich und aus Gefälligkeit , Anleitung geben. Wider die Natur ist, wenn es die Erfahrung macht, dass Erwachsene ihm ge- horchen, dass es sie überlisten kann, und verbittert, ent- muthigt wird es , wenn es sich bei seinen Versuchen aus- gelacht und verspottet sieht.

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87.

Vom siebenten Jahre an werden die Glieder allmählig fester, die Schritte sicherer, daher kann man nun die Ge- schicklichkeit und Kraft ihrer Bewegungen üben. Vor dieser Zeit fällt das Kind ieicht und je jünger es ist, desto gefährlicher ist dies Fallen, bei der überwiegenden Schwere des Kopfs, der durch die Erschütterung allein schon tödt- lieh verletzt werden kann. Wie manche Kopfwassersucht ist nicht blos durch das Fallen der Kinder veranlasst wor- den ! Man lasse daher die Kinder lange kriechen ! Die frühzeitigen Versuche des aufrechten Gangs sind nicht ohne Gefahr eher sollte man sie davon abhalten, als »ufmuntern. Erst mit dem siebenten Lebensjahre übe man die Glieder, in dem Maase, wie sie sich entwickeln! Man »chärfe die Sinne zugleich , lehre die Kinder richtig se- hen, die Tone, die Entfernungen unterscheiden! Ge- wöhnlich werden sie in Schulen geschickt, und für die Volkserhebung ist dies unumgänglich nöthig. ln diesen wirkt das Beispiel der Kameraden viel mehr auf sie , als der Unterricht des Lehrers und die Spielstunden, das was sie auf dem Wege nach der Schule treiben , ist ihnen weit nützlicher , als das , was sie in den Lectionen ver- nehmen. Hier lernen sie Menschenkeimtniss ; hier lernen sie mit andern umgehen , auf andere wirken. Zwar wo viel Kinder beisammen sind, kann schwerlich ausbleiben, das ihnen auch das Beispiel des schlechten gegeben wird, durch welches einzelne zu Grunde gehen. Allein die blei- ben, fest stehen und das schlechte verachten und verwer- fen , werden dadurch um so besser ; wie von den Bäumen im Wald nur die zu hohen Stämme werden, deren Kraft überwiegt , die schwächeren aber ersticken , so bringt die Schulerziehung auch nur die kräftigeren Menschen in die Höhe und verderbt die schlechten vollends ganz, wodurch dem Geschlecht im Ganzen weit mehr gedient ist, als durch isolirte Erziehung, die dem Treibhaus mehr gleicht.

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in dem freilich auch die schwächeren Pflanzen erhalten werden, das aber allen nur ein kränkelndes Dasein, eine mangelhafte Entwicklung gestattet. Nur Eine reelle Ge- fahr ist von der Schulerziehung unzertrennbar, die, das« die Kinder zusehen, wenn eines oder das andere pnter ihnen von Convulsionen befallen wird. Diese beweiset? eine wahrhaft ansteckende Kraft; die Mehrzahl der con- vulsivisch Kranken ist dadurch erkrankt, dass sie andere in gleichem Zustand sahen. Den Vorstehern der Schulen muss daher viel daran liegen , solche Unglückliche zu ent- fernen, die unwillkührlich allen andern schaden. Diese Gefahr ist in Mädchenschulen grösser, als in Knabenschu» len , weil Mädchen viel häufiger von Convulsionen ergrif- fen werden , als Knaben , und weil sie zugleich leichter nachahmen, als diese.

88.

Die Hauptsache , auf welche alles ankommt, ist, dass nicht eine Kraft des Menschen auf Kosten der andern ent- wickelt werde. Zwar die grosse Mehrzahl wird zu allen Zeiten und in allen Völkern mehr körperlich entwickelt, als geistig, denn die Bedürfnisse der Gesellschaft machen eine Masse körperlicher Arbeit nöthig, die allergrössten- theils von den niederen Ständen geleistet werden muss und der geistigen Entwicklung nicht Zeit genug verstauet, sie nicht zürn Gegenstand des Interesse der arbeitenden werden lässt : daher wird es nie an rohen Menschen feh- len. Allein der Mittelstand , noch mehr die höheren Stän- den der Gesellschaft, die den Werth der geistigen Ent- wicklung einsehen und sich zu dieser erheben können, verfallen sehr leicht in das entgegengesetzte Extrem. Kör- perliche Arbeit für gemein und ihrer Kinder unwürdig haltend gehen sie darauf aus , diesen blos eine geistige Erziehung zu geben: die Masse der Gegenstände, die sie lernen sollen, schreckt sie und um die schnell vorüber- eilenden Jahre der Jugend zu benutzen , überladen sie sie

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mit höchst verschiedenen geistigen Uebungen und Anstren- gungen zugleich. Davon ist die Folge, dass die Jugend nicht« lernt und allein ihre Phantasie gewöhnt wird , bei der Oberfläche der Dinge nach Laune zu weilen , der Kör- per aber bis auf einzelne Fähigkeiten vernachlässigt wird. Man lehrt Zeichnen, Musik, Tanzen, schärft also einzelne Sinne und giebt dem Körper Haltung und Anstand , aber mail sorgt nicht für die Ausbildung der Muskelkraft, der Geschicklichkeit ihres Gebrauchs, die Abhärtung gegen unvermeidliche Lasten, die uns zuweilen die Natur auf- legt, für die praktische Kenntniss der Schwierigkeiten, die besiegt werden müssen , damit unsere tausendfältigen Be- dürfnisse befriedigt, die Erzeugnisse, deren wir un« freuen, gewonnen werden. Ein noch viel schlimmerer Fehler drückt die Erziehung der Vornehmen und Reichen : sie lernen früh die Menschen verachten , ihren eigenen Werth überschätzen und dabei sich alles Gelüsten erlauben, wenn es ihnen nur glückt, den Anstand zu schonen: sie werden also gerade zu schlecht, denn die Selbstbeherrschung folgt bei ihnen nicht aus der Achtung für die Pflicht, sondern aus der Achtung für ihr äusseres Verhältnis in der Ge- sellschaft, und ihre Ueberlegenheit lernen sie blos als Mittel schätzen, ihre Gelüste im Stillen um so sicherer zu vergnügen» Man sollte nie vergessen, dass die Gewöh- nung des jungen Menschen an Erfüllung der Pflicht und LJ eberwinden der Lust die einzige wahre Erziehung ist. Den Unterricht aber betreffend sollte man fürs erste be- denken, dass kein Mensch einen andern unterrichten kann, der sich nicht selbst unterrichten will, dass man also zu- erst die Lust am Erlernen dessen wecken muss, was man dem Jüngling beibringen möchte. Thäte man dies, so würde man bald finden, dass jeder nur geneigt und fähig ist, Eine neue Begriffsreihe auf einmal sich bekannt zu machen, dass man also nie vielerlei zugleich treiben darf; man würde ferner finden , dass man die intelligenten Kräfte nach und nach in Anspruch nehmen muss. Zuerst die

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drei basischen; Auffassungsgabe, Erinnerungsfähigkeit, Urtheilskraft ; dann erst das analytische Vermögen. End- lich würde man einsehen, dass nichts thörichter ist, als wenn man sich begnügt , dem Menschen vorzupredigen , dass man ihn durchaus selbst handeln lassen und sein Handeln blos leiten muss, wenn man ihn unterrichten will. Würde man die Zeit zwischen Uebung in Kenntnissen und in körperlichen Geschicklichkeiten theilen , aber immer nur eine Kenntniss auf einmal einüben , dann erst zur an- dern fortgehen, wenn diese erste gelungen wäre und nur von Zeit zu Zeit auf das Früher erlernte zurückgehen, indem man zugleich den inneren Zusammenhang aller Kenntnisse, und wie eine stets der andern bedarf, zeigte, eo würde man ganz andere Menschen hervorgehen sehen, i als jetzt.

89.

Alles eigentlich wissenschaftliche, was die höheren Kräfte des Menschen in Anspruch nimmt und zum Zweck hat, den Menschen zur Thätigkeit für die Gesellschaft auszubilden , muss erst nach dem Eintritt der Pubertät vorgenommen werden ; alsdann erst bekommt die Welt für den Jüngling Wärme und Leben. Hat er von dem frühe- sten Alter an sich im Selbstbeherrschen , im Unterwerfen der sinnlichen Neigung unter das Pflichtgebot geübt , ist ihm diese geläufig worden, so kommt dies ihn jetzt erst recht zu statten und man kann sicher sein, dass er nicht in dem Strudel der Leidenschaft untergehen werde. Zu- gleich wird durch diese Gewöhnung der Gefahr am kräf- tigsten vorgebeugt, dass der Mensch je das Opfer von Geisteskrankheit werde, besonders von Manie, sofern diese

I nicht rein körperlichen Ursprungs ist, oder von Wahnsinn, von Schwermuth, von Krankheiten des Willens. Im Jüng- lingsalter ist übrigens die Pflicht, die körperliche Kraft

Iund Ausdauer, das Ertragen des Ungemachs der Natur, die Schärfe der Sinne zu üben, noch grösser, als im Kna-

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benalter; der Körper wird immer fähiger und kräftiger, deshalb muss er jetzt am meisten in Anspruch genommen werden. Das Gehirn hat jetzt seine Vollendung erreicht, aber der übrige Körper ist im Begriff, sie zu erreichen, darum das Vorherrschen körperlicher Gefühle über den Geist, diese Sehnsucht, diese Neigung zur Schwermuth, die mit grösster Heiterkeit seltsam abwechselt. Das Er- wachen des Sexualtriebs wirkt jetzt gewaltig ein und er- füllt die Phantasie mit Bildern , die sie sich ausmalt, nicht ohne vielfache Gefahr für das Individuum; wider sie giebt es kein besseres Gegengift , als Arbeit und Ermüdung.

90.

Hat der Mensch seine physische Vollendung erreicht, so bedarf er doch fortwährend der Sorge für die Unter- haltung seiner geistigen Kraft, damit er sie zum möglich höchsten Grad von Nützlichkeit für sich und andere bringe. Es giebt nur sehr wenig Menschen , denen nicht die Ge- genstände ihrer Thätigkeit vorgeschrieben werden. Ist dies der Fall,* wie fast immer, so hat der Mensch zuerst die Abneigung zu überwinden, die eben dadurch in ihm ent- steht, dass von ihm gefordert wird, was er leisten soll. Denn jeder Mensch strebt nach Freiheit in der Wahl sei- ner Beschäftigungen und erträgt ungern deren Beschrän- kung; das unangenehme Gefühl, das diese veranlasst, geht unmerklich auf die Gegenstände über, mit welchen er sich zu beschäftigen genöthigt wird. So wohlthätig ihm dieser Zwang ist, indem er allein vermag, seiner Beschäftigung Regelmässigkeit zu geben, so muss doch nothwendig die Berufsarbeit mit freiwillig gewählter abwechseln, aus zwei Gründen. Erstens, damit ihn das Gefühl der Freiheit vom gewöhnlichen Berufsjoch stärke; zweitens, damit er überhaupt die Gegenstände der Beschäftigung wechsle. Kein Mensch kann einerlei Dinge immer thun, was es auch sei, und sich mit den Unterbrechungen des Essens und Schlafs begnügen : zwingt er sich dazu , so thut er es

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schlecht. Das müssen alle bedenken , die die Thätigkeit anderer zu ordnen haben ; sie und das Geschäft gewinnen beide, wenn sie dem Arbeiter Erholungsfrist gönnen. Je länger ein Mensch bei einerlei Arbeit bleiben kann, desto grösser ist die Kraft seines Geistes; immer ausharren kann auch der stärkste nicht. Erholung aber erlangt der Mensch nicht durch Ruhe, durch absolute Unthätigkeit, sondern durch Beschäftigung mit einem Gegenstand ganz anderer Art, als der gewöhnliche ist. Daher lieben so viele, die von der Last ihrer Tagsgeschäfte schwer gedrückt werden,

I '

das Spiel: es ist auch ein Geschäft, aber ganz disparat

!von allen vorigen. Jeder Mensch, der recht thätig sein und das, was er thut , recht thun will, muss wenigstens zweierlei zugleich thun und mit beiden Arbeiten abwech- sein, um so öfter, je geringer seine Kraft ist; findet er, dass seine Arbeit nicht vorwärts gehen will , so muss er nicht gewaltsam sich dazu zwingen , sondern eine Pause machen und diese mit etwas anderem ausfüllen. Der ge- schwächte Mensch muss Öfter mit seinen Beschäftigungen abwechseln, als der gesunde und kräftige.

1)1.

Höchst wichtig für die Diätetik des Geistes ist die Benutzung des Schlafes, ln der Regel : je jünger der t Mensch, desto besser und erquickender schläft er; hat er das männliche Alter erreicht, so bedarf er weit weni- ger Zeit zum Schlafen. Die Individuen sind zwar hierin einander sehr ungleich, doch kann man annehmen: je ge- sunder und kräftiger das Gehirn, desto weniger Zeit reicht hin, es durch den Schlaf zu erquicken. Ist der Mensch über das fünfzigste Jahr hinaus, eo bedarf er in demsel- ben Verhältnis öfter des Schlafs , in welchem ihm un- möglich ist, lange nach einander zu schlafen. Die mei» ßten schlafen in dieser Lebensperiode einige Stunden der Nacht nach einander, wachen dann auch einige Stunden and schlafen gegen Morgen wieder eine Weile nach ein-

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ander fort. Sind die Schlafperioden des Nachts zu kurz, so muss die Tageszeit noch eine Stunde dem Schlafe ab- geben. Im höhern Lebensalter werden die Schlafperioden immer kürzer , müssen daher immer öfter wiederholt wer- den. Aufenthalt im Freien, besonders Arbeit im Freien, befördert den Schlaf; schon darum ist das stete Weilen in verschlossenen Zimmern nachtheilig. Ganz undienlich ist das Kämpfen wider die Schläfrigkeit : sie kündigt das Bedürfnis des Schlafes an , wenn sie nicht durch Sinnen- eindruck hervorgebracht ist , als durch das Fahren in ei- nem sanften Wagen, die Ofenwärme, eintöniges Geräusch, Anhören ganz uninteressanter Dinge u. dgl. Solche Schläf- rigkeit muss man verscheuchen. Was man vom Schlaf vor Mitternacht spricht, ist eine Fabel; es kommt in Ab- sicht auf die Zeit des Schlafs allein auf Gewohnheit an.

92.

Frauen müssen ganz nach denselben Gesetzen wie Männer ihre Beschäftigungen wechseln. Es ist ein Glück, dass die häuslichen Geschäfte schon durch ihre Natur viel Abwechslung gewähren, wodurch dies Bedürfniss von selbst erreicht wird und das weibliche Geschlecht im Gan- zen viel besser daran ist, als das männliche. Im Zustande der Schwangerschaft bedürfen sie der Ruhe und des Schla- fes weit öfter, eben so, wenn sie ihre Kinder selbst näh- ren , allein wenn sie ihre Zeit nicht auszufüllen wissen , wenn sie sich der Unthätigkeit überlassen , wozu sie be- sonders alsdann grossen Ilang haben , bereiten sie sich Nervenkrankheiten. Ganz gewiss würde die Last der Hy- sterie dem Geschlecht sehr erleichtert und die Masse des Unmuths und Unheils, die diese Krankheit über die Frauen häuft, sehr vermindert werden, wenn sie sich mehr zu beschäftigen und bei der Arbeit festzuhalten wüssten. Dass den Frauen die bestimmte Arbeit fast gänzlich fehlt, die dem Manne sein Beruf, sein Amt, sein Yerhältniss im bürgerlichen Leben auflegt, ist ein Unglück für viele; es

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ist die ergiebigste Quelle der vielen Nervenleiden der Frauen. Verschlimmert wird dies noch dadurch, dass die meisten weiblichen Arbeiten höchst geistlos und mecha- nisch sind, daher blos mit den Iländen gethan werden, ohne dass der Geist daran den mindesten Antheil nimmt; daraus entsteht, dass die Phantasie auch während der Be- schäftigung ihre Spiele spielt. Es ist rein unmöglich, hysterische Frauen zu heilen, wenn man nicht vermag, sie an bestimmte, zweckmässige Ueberlegung und Auf- merksamkeit erfordernde Geschäfte zu binden.

Cap. X. Von den Haupterscheinungen bei Hirnkrankheiten.

93.

Die Erscheinungen, welche durch Krankheit des Hirns erregt werden und sie verrathen , theilen sich in zwei Hauptgruppen, nämlich in solche, die als Störungen der sensiblen Functionen bemerkbar werden, und in die Er- scheinungen gestörter Plastik. Da jedoch diese letzte iii wesentlichen Dingen von der Sensibilität, so wie diese von jener abhängt, giebt es auch gemischte Erscheinungen und ihre Beurtheilung ist keineswegs immer leicht und einfach , vielmehr giebt es keine Art topischer Krankhei- ten , die nach ihren Erscheinungen so schwer zu beurthei- len wäre, als die des Gehirns, woher es sich erklärt, dass noch heute so manche Verwechslungen hier statt finden, dass z. B. wahre Entzündungen Wassersüchten genannt werden und ähnliche Fehler. Von dem merkwürdigen Umstande , dass die grössten Störungen der Hirnplastik Vorkommen können ohne alle Störung der sensiblen Functionen, ist schon zum öftern die Rede gewesen. Sie sind aber auch oft ohne Störung aller Erscheinungen im

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plastischen Leben vorhanden ; wiederum andere sehr aus- gezeichnete Erscheinungen, von welchen man ehedem die Ursache im Gehirn suchte, sind ganz ohne alles Leiden desselben ; um nur eines anzuführen, nennen Mir den Kopf- schmerz, der höchst selten von Krankheit des Ilirns zeugt. Das Hirn ist, wenigstens seinem grössten Theil nach, voll- kommen empfindungslos gegen äusseren Reiz: man kann es stechen, Stücke abscLneiden, ohne dass der Kranke da- von mehr Empfindung hat, als wenn dies bei einem ganz andern Individuum geschähe. Nach Flourens theilen allein die Vierhügel diese allgemeine Unempfindlichkeit nicht. Es ist wahrscheinlich, dass noch mehrere Hirntheile em- pfindlich sind, namentlich die Commissuren. Ob die Hirn- häute , alle oder zum Theil, empfindlich sind, ist nicht ganz klar: meiner Ueberzeugung und Erfahrung nach sind sie alle drei vollkommen eben so unempfindlich , als die graue und die Marksubstanz der grossen Hemisphären selbst; dem kleinen Gehirn möchte ich einen schwachen Grad dumpfer Empfindlichkeit zuschreiben ; doch habe ich kei- nen Beweis dafür , als die Beobachtung schwer verwunde- ter, die bald starben. Bei Tliieren kann man hierüber nicht sichere Experimente anstellen. Wiederum giebt es Erscheinungen , bei welchen man gewöhnlich gar nicht darauf fällt, dass sie ihren Grund allein im Gehirn haben, und doch ist es so. Wer denkt nicht z. B. dass das Stam- meln oder Stottern allein in den Sprachorganen begründet sei 1 Doch ist dies gänzlich falsch ; es hat seinen einzi- gen Grund im Gehirn, die wenigen Fälle ausgenommen , wo die Sprachorgane verbildet und zur Rede unfähig sind, wodurch aber etwas ganz anderes entsteht, als Stammeln. Denn dies ist die Folge einer Uebereiiung des Willens, wodurch die Sprachmuskein Laute, die erst in den folgen- den Selben oder Worten Vorkommen, mitten unter die einmengen, die ihnen vorausgehen sollen. Daher komrats, dass niemand stottert, wenn er singt, dass ein sehr deut- lich sprechender Mensch stottert, wenn er heftig erzürnt

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ist, dass überhaupt die Aufregung sehr mächtiger Ge- fühle, besonders wenn man sie unterdrücken will und ganz etwas anderes spricht, als man denkt, leicht Stam- meln veranlasst, und dass man bei schnellem Schreiben auch mit der Feder stammeln und Buchstaben folgender Worte in die früheren mengen kann.

M.

Ob Symptome kranker Empfindung Krankheit des Ge- hirns oder vielmehr des Sinnorgans verratheil, oder ob sie symptomatische Erscheinungen sind, die ein andcrwei- tes Leiden bezeichnen, ist oft sehr schwer zu beurtheilen. Um beim niedrigsten , aber treuesten Sinn des Menschen anzufangen, der an Schärfe zunimmt, wenn die anderen abnehmen und ihn im Alter nicht leicht verlässt, beim Geschmacksinne f so gehen dessen krankhafte Sensationen am seltensten vom Gehirne aus. Da die Schleimhaut der Zunge sein Sitz ist , diese aber leicht idiopathisch erkran- ken oder an Krankheit der Schleimhaut des Magens oder Schlunds oder des Kehlkopfs, der Nasenhöhle Theil neh- men kann , so bezeichnet in der Regel ein krankhafter Geschmack nichts als Krankheit der Schleimhaut Ist er anhaltend, nicht mit sichtbar kranker Absonderung der Schleimhaut, wohl aber mit gleichzeitiger Alteration des Geruchs verbunden, so kann man nicht verkennen, dass dessen Ursache im fünften Nerven liegt, in welchem Fall eine ganz andere Heilart noiliwendig wird, namentlich eine solche , die auf Veränderung der Thätigkeit des fünf- ten Nerven durch Gegenreiz oder unmittelbares Einwirken berechnet ist. Weit öfter besteht dann die Krankheit in Stumpfwerden oder gänzlichem Mangel des Geschmack- und Geruchsinns zugleich, als in Alienation beider Sinne, wiewohl auch hievon Beispiele Vorkommen. Dann kann die

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Ursache allerdings im Gehirn liegen , obgleich dieser Fall nur selten ist. Offenbar liegt sie im Gehirn, wenn zu- gleich Symptome des Wahnsinns sich zeigen. Auch wenn

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die kranke Empfindung- nicht beständig fortdauert, sondern nur zuweilen eintritt, ferner wenn die alienirte Empfin- dung nicht blos im Wachen, sondern auch in Träumen dem Kranken lästig wird, hat man Ursache, sie für Sym- ptome einer Hirnkrankheit zu erklären.

95.

Der Geruchshin hängt gleichfalls viel zu nahe von dem Zustand der Schleimhaut der Nase ab , als dass des- sen alienirte Empfindung nicht grötstentheils Symptom des sehr veränderlichen Zustandes dieser sein sollte. An seine innige Verwandtschaft mit dem Geschmacksinn und an die Abhängigkeit beider vom Zustande des fünften Ner- ven ist schon erinnert worden. Doch ist es dieser Sinn, der auch Veränderung der Vegetation des Hirns sehr treu verkündigt. Namentlich wird er äusserst fein, seine Em- pfindlichkeit schnell und ungewöhnlich erhöht, wenn Ent- zündung der Hirnhäute einzutreten im Begriff ist. So ge- hört es bei Kindern, die dieser Art von Entzündung am leichtesten unterworfen sind , zu den auffallendsten Er- scheinungen, die deren Eintritt verrathen , wenn sie über heftige, unangenehme Gerüche klagen, um so mehr, da Kinder in der Regel wenig Geruchempfindung haben und dieser Sinn sich erst mit der Mannbarkeit recht entwickelt. Je leichter es möglich ist, beginnende Hirnentzündungen der Kinder mit Gastrose zu verwechseln und nicht eher au erkennen, als bis schon Exsudation geschehen und sel- ten nur Hülfe geleistet werden kann, desto sorgfältiger muss man auf die ersten , charakteristischen Zeichen die- ses gefährlichen Zustandes aufmerksam machen. Wenn zumal in Krankheiten, die leicht in Hirnentzündung über- gehen, als im Scharlachfieber, im Rothlauf des Gesichtes, auf einmal der Kranke über allerlei auffallende, heftige Gerüche klagt, zu welchen kein äusserer Grund vorhanden ist, kann man sicher sein, dass Hirnentzündung nahe be- vor steht und ihr leicht zuvorkommen.

113

96.

Das Gefühl spielt in der Semiotik der Hirnkrankheiten eine wichtige Rolle. Stumpfheit des Gefühls, begleitet toi» Lähmung, ist entscheidendes Zeichen des Schlagflusses , der seinen Grund in Extravasationen in der Schädelhöhle hat. Daher nach Kopfverletzungen ist dies Zeichen eines der vielen, die diesen Zustand gewiss machen. Nach Hirnerschütterungen mangelt das deutliche Gefühl entwe- der ganz , oder doch wenigstens in den Füssen. Sobald bei Entzündung der Hirnhäute Exsudation erfolgt, wird das Gefühl der ganzen Haut stumpf; Vesicatorien leisten keine oder geringe Wirkung , die meiste noch an der Kopfhaut. Auch chronische Hirnkrankheiten begründen eigenthümliche Stumpfheit des Gefühls ; so ist nichts be- kannter, als dass alle Arten der Manie mit Unempfindlich- keit gegen die Kälte verbunden sind: von andern Geistes- krankheiten der Vorstellung gilt dies weniger. Erhöhte Lebhaftigkeit des Gefühls geht sehr gewöhnlich Convul- sionen voraus und kann als prognostisches Zeichen sehr wichtig werden. Alienationen des Gefühls verkündi- gen in der Regel schwere Hirnkrankheiten, namentlich Apoplexie, besonders wenn sie plötzlich eintreten und an- dauern. Sind sie indessen blos topisch, so haben sie auch meistens blos topische Ursachen.

97.

Das Gehörorgan steht mit dem Gehirn in so enger Verbindung , dass kaum eine Veränderung in diesem mög- lich ist, ohne gleichzeitige in jenem. Dessenungeachtet sind auch so viele Einflüsse anderer Art auf dasselbe wirk- sam, dass aus den Gehörsymptomen allein nicht leicht ein sicherer Schluss auf den Zustand des Gehirns zu machen ist. Aber desto wichtiger werden sie in Verbindung mit andern Symptomen. Unerklärt ist bis jetzt die Erschei- nung. dass Dumpfheit des Gehörs fast in allen Hirnkrank-

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heiten Ton guter Vorbedeutung ist und eine geringe Hef- tigkeit derselben anzeigt , ausser bei allgemeiner Betäu- bung, wo das Gehör gänzlich zu fehlen pflegt, sich aber von allen Sinnen am ersten wieder einstellt, wenn dai Uebel nachlässt. Dagegen erhöhte Schärfe des Gehörs ist in allen acuten Ilirnkrankheiten von der übelsten Vorbe- deutung: sie zeigt sich oft bei Sterbenden, selbst wenn sie schon lange vorher mehr oder weniger taub waren. In der Manie ist Erhöhung der Schärfe des Gehörsinnes fast eben so gewöhnlich, als die Stumpfheit des Gefühl- sinns. Alienation des Gehörsinns ist so häufig und so mannichfaltig , dass es sehr schwer ist, über ihre Bedeu- tung etwas allgemeines zu sagen. Sie hat in der Regel topische Ursachen, namentlich zeigt sie kranken Zustand der Paukenhöhle an. Doch manche Arten «ind desto be- deutender, z. B. das Hören eines schwirrenden, fast zischen- den Tons; in der Regei begleitet dies jede schnell eintre- tende grosse, dem Tode nahe fühlende Schwächung, als durch Blutverlust, durch grosse Erschütterungen u. dgl. Ohrenklingen und Glockenläuten ist gewöhnlich ein höchst unbedeutendes Symptom , aber es kann auch ein Vorläufer der Apoplexie sein ; es begleitet immer den Schwindel und macht einen Haupttheil der Erscheinungen desselben aus. Es giebt Alienation des Tonsinns, die eine Krank- heit eigner Art ausmacht; wenn nämlich die Polarität der Wirkung sich umkehrt und der Kranke Töne als äusser- lich vernimmt, Stimmen hört, die sich in seinem inneren bilden, wenn er im wachen Traume Töne als ausser sich hört, deren Grund allein im Gehirn ist. Doch dies ge- hört ins specielle,

m.

Es giebt kein Organ, an dem alle Krankheitsersehel- aungen so genau ausgemessen sind , als am Auge s gleich- wohl sind die, welche vom Hirn ausgehen, immer noch unbestimmt genug- M*n hat das Auge viel zu sehr wie

115

i einen Staat im Staate, wie ein Leben für sich, betrachtet i und damit selbst der Therapie häufig’ geschadet. Nicht nur das Publikum, selbst Aerzle, sind oft noch der Meinung, Au- genkrankheiten müssen immer topisch behandelt werden. Allenfalls hört man bei den Klassifikationen der Amaurose von einer sprechen, die ihren Grund im Sehnerven oder im Gehirn habe, und in der Semiotik erst wird man er- innert, dass man aus Erscheinungen am Auge berechtigt sei, auf den Zustand des Gehirns zu schliessen. Erwägt man, dass jede Leidenschaft sich deutlich im Auge malt, so begreift man leicht, dass dies viel weiter gehen müsse, als die oberflächliche Beobachtung angiebt. Da jedoch auch der Zustand der Vegetation des Ganzen im Auge sich ausdrückt, so ist es zuweilen unmöglich anzugeben, worin gerade bestehe , was das Auge zum Verkündiger des Zustands des Gehirns macht. Man muss vor allem unterscheiden die Symptome des Lichtsinns und die des äusseren Ansehens. Erhöhte Empfindlichkeit des Auges gegen das Licht (Photophobia ) hat oft blos locale Ursa- chen, namentlich eigenthümlichea Leiden der Clioroidea, auch wohl blos der Bindehaut : aus letzterem Grunde ist sie das gemeinschaftliche Symptom aller Augenentzündun- gen, denn keine bleibt leicht ohne Theilnahme der Binde- haut. Wenn aber erhöhte Empfindlichkeit gegen das Licht

Iohne alle Spur von Entzündung eintritt, während zugleich Fieber und die übrige Symptomenreihe heftige Krankheit ,i,pverräth , so zeigt sie Entzündung der Hirnhäute an. Das ;|]h entgegengesetzte Symptom, Verdunklung der Sehkraft bei f ü Integrität des Auges hat sehr verschiedene Bedeutung. pWenn sie bei acuten Krankheiten eintritt, kündigt sie den nahen Tod sehr sicher an. Phthisische sterben ohne dies Symptom ; dem Tode durch Brand ist es gleichfalls nicht j# eigen. Bei Erstickung kommt es nur selten vor ; beim apoplektiachen Tode können wir es nicht beobachten. Sterben aber die Kranken nach Fiebern den Tod des Her- zens, so fehlt es selten. Sonst ist es allgemeine« Symptom

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11Ö

des Schwindels und in allen den vielen Fällen , welchem Schwindel vorausgeht, fehlt es nicht. Das alienirte Sehen kann eben so wie das Stiminenhören eine eigenthiimliche Art des Wahnsinns sein ; es kann aber auch bei Conge- ■tion nach dem Gehirn und als sicheres Symptom dersel- ben eintreten. Rührt es von Localfehlern im Auge her, so erscheinen im Auge farbige Punkte , auch wohl dunkle, oder leuchtende, die sich über das Sehfeld hin, mehren- theils von oben nach unten, bewegen; rührt es von Blut- congestionen nach dem Gehirn her, so sieht der Kranke Farben, die sich über alles ausbreiten und nicht vor dem Sehbild vorüber fliegen oder zittern. Druck auf die Choroidea bringt immer die Empfindung der rothen Farbe hervor ; bei Congestionen ohne solchen Druck sind die Farben grün, gelb oder violett, braun. In höherem Alter erscheinen solche Farben oft beharrlich durch län- gere Zeit. Bei grosser Schwäche, schnellen Verblutungen z. B. erscheinen dem Kranken alle Gegenstände weit ent- fernt, wie er denn auch alle Töne als wie aus der Ferne vernimmt. Ganz anders sind die Sy mptome aus dem Anblick des Auges ; sein Glanz , seine Rothe, die Richtung des Blicks, die Starrheit oder Bewegung des Augapfels, Trübheit der Au- gen, Schmutz derselben, Erweiterung oder Verengung der Pupille, leidenschaftlicher Ausdruck in den Augen, oder im Gegentheil Passivität derselben geben eine unendliche Mannichfaltigkeit specieller Zeichen , auf deren viele wir bei den specielien Krankheitsformen zurückkommen wer- den. Besonders hat jede Art der Vorstellungskrankheiten i ihren ganz eigenthümlichen Ausdruck im Auge , Manie ; und Blödsinn am auffallendsten. Schmerz in der Tiefe des Auges ist oft blos spastisch und dann mit Zurückzie-* hen des Auges und Verengung der Pupille verbunden; das» Auge ist unbeweglich. Das ist es auch, wenn sich die Sklerotica entzündet. Ist das Auge dabei beweglich und ohne Entzündung, co pflegt es zugleich zu schielen und: in diesem Falle ksnn man mit Sicherheit auf Krankheit'

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der Orbita rechnen. Verliert es aber die Sehkraft, ohne zu schielen, so beweist es einen organischen Fehler, raeh- rentheils Hydatidenbildung im Gehirn. Zuweilen ist je- doch mit dieser ebenfalls Schielen verbunden, doch als- dann schielen beide Augen zugleich, und es fehlen alle Schmerzen.

Die krankhaften Erscheinungen des sechsten Sinnes, die wir unter dem Namen Hysterie und Hypochondrie be- greifen , werden uns bald näher beschäftigen. Die Schwer- muth (Melancholie der älteren Aerzte) ist nur ihr höch- ster Grad. Es würde unpassend sein, hier der Symptome umständlich zu gedenken, da hieraus blos Wiederholun- gen entstehen müssten : ich begnüge mich daher blos mit der vorläufigen Andeutung, dass wir aus keiner Art von Sinnenerscheinungen sicherer auf Hirnleiden schliessen können, als aus dieser, ganz der gemeinen Meinung der Aerzte entgegen, die ln ihnen nur körperliche Leiden sieht , von welchen das gleichzeitige Leiden des Hirns Symptom ist. Diese verkehrte Ansicht führt zu verkehr- ter Curart : man will das körperliche Leiden heben , giebt sogenannte Auflösuiigsmittel aller Art, Ausleerungsmittel, i zapft Blut ab u. dgl. und macht dadurch das Uebel ärger, weil man gerade das Gegentheil von dem thut, was man thun sollte und die Folge für die Ursache hält, indem : man sich obendrein auf seinen Scharfsinn nicht wenig zu gute thut. Es giebt zwar Fälle , in welchen die Ursache i der Verstimmung der Gangliennerven in den Organen liegt, f aber sie sind weit seltener als die, wo sie im Gehirn liegt. Gerade wie das Heimweh gewiss tödtet, wenn man eg als Schwindsucht ansieht und so behandelt, während psychi- di sehe Einwirkungen es schnell und leicht heben, verfehlt man tausendmal auch bei der Hypochondrie sein Ziel, wenn man auf den Unterleib des Kranken wirkt, während alle Unterleibssymptome blos psychischen Ursprungs sind.

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100.

Die Symptome aus der Bewegung der willkührlichen Muskeln sind nicht weniger schwer zu bcurtheilen, als die der Sinnlichkeit. Wir können sie im allgemeinen eben so wie jene in die der erhöhten, der verminderten und der alienirten Beweglichkeit abtheilen. Ihr Grund kann entweder im Muskel selbst, oder im Hirn, oder im Lei- tungsapparat zwischen Muskeln und Hirn liegen: der erste Fall ist leicht erkennbar und verräth sich theils dadurch, dass alsdann der Bewegungsfehler nur local bleibt, theils dass er mit gleichzeitigen anderen Localsymptomen ver- bunden ist, wie z. B. die Unfähigkeit zur Bcwegang wegen i Entzündung eines Muskels, wegen Erkältung desselben, Convulsion eines einzelnen Muskels wegen eines fremden Körpers &c. Doch giebt es auch Bewegungssymptome in einzelnen Muskeln, die lange in diesen beschränkt bleiben und nichts weniger als topisch sind: man denke nur an den Kinnbackenkrampf! Desto schwerer sind die Bewegungs- fehler zu unterscheiden, die ihren Grund im Gehirn ha- ben, von denen, die blos durch Fehler des Leitungsappa- rats veranlasst werden : nur dann , wenn andere gleichzei- tige Hirnsymptome eintreten , wissen wir das erstere ge- wiss. — Die Ursache gehinderter Bewegung ist wesent- lich doppelt ; entweder beruht sie auf Ueberwiegen der Contractilität des Muskels über die Expansibilität und heisst dann Krampf , oder sie beruht auf Mangel des Willensein- flusses und heisst Lähmung. Jedoch hat diese Theiiung ihre grossen Unvollkommenheiten : nicht nur , dass ent- zündete Muskeln auch unfähig zur Bewegung sind, so kann

auch Verminderung der Contractilität *. B. durch Kälte,

/!■

Unbeweglichkeit herbeiführen; jedermann weiss , dass ihm in der Kälte die Finger steif werden. Krampf ist allemal blos local oder befällt nur einzelne Muskeln ; selbst beim heftigsten Tetanus sind wenigstens die Respirationsmuskeln frei ; fast immer sind es auch die meisten Gesichts - und

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Sprachmnskeln. Doch berechtigt die* nicht tu dem Schlosse, dass deshalb nur der Leitungsapparat und nicht das Ge- hirn selbst die Ursache enthalte : wir verrauthen das wohl, haben aber darüber nicht volle Gewissheit. Rein locale Krämpfe einzelner Muskeln sind mit Schmerz derselben Verbunden, wie z. B. der Wadenkrarapf: liegt der Fehler im Leitungsapparat, so sind sie fast schmerzlos, selbst beim Trismus klagt der Kranke nur über sehr geringe Schmerzen in den Kaumuskeln. Auch Lähmungen kön- nen nur einzelne Parthien des Muskelsystems befallen; verbreitet sich die Lähmung auf die Respirationsmuskeln, so ist sie sogleich tödtlich. Dennoch ist ihre Ursache sehr oft im Gehirn selbst, namentlich bei allen Lähmungen nach Apoplexien. Vom Gehirn ausgehende Lähmungen zeigen sich fast immer halbseitig (hemiplegiae) befallen sie die untern Extremitäten, zumal beide zugleich, so ha- ben wir grossen Grund , ihre Ursache im Rückenmark und nicht im Gehirn zu suchen. E* gicbt auch schmerzhafte Lähmungen, besonders der unteren Extremitäten , bei wel- chen in der Regel die Vegetation des Körpers ganz unge- stört ist. Alsdann findet gar keine wahre Nervenkrankheit statt, sondern nur Verdickung, Anschwellung des Neuri- lem8 , der Nervenhüllen , die Druck auf das in ihnen lie- gende Mark ausüben, weshalb solche Lähmungen immer nur unvollständig sind und einen gewissen Grad von Be- wegung zulassen. Dies letztere ist jedoch auch oft der Fall bei Lähmungen, deren Grund gewiss im Gehirn liegt, t. B. bei halbseitigen Lähmungen nach Apoplexien. Ueb- rigens ist die Frage nach dem Sitz der Ursache der Läh- mung keine eitle, wie mancher wohl glauben möchte: man sieht die Aerzte sehr häufig topische Mittel auf den gelähmten Theil anwenden , wo sie offenbar nichts helfen können , weil die Ursache im Gehirn oder Rückenmark liegt; richtige Kenntnis« de« Sitzes der Ursache würde sie vor solchen lächerlichen Missgriffen bewahren. Zu- ckungen der Muskeln haben leiten rein locale Ursachen;

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bei weitem in den häufigsten Fällen gehen sie Tora Gehirn aus. Sie werden uns bald umständlicher beschäftigen»

101.

Die Erscheinung kranker Vorstellung ist allemal zu- zerlässig im Gehirn begründet. Dies widerspricht zwar der gemeinen Meinung, doch nur scheinbar, denn es wird damit nicht geläugnet, dass es Kranit heiten der plastischen Sphäre geben könne, die Vorstellungskrankheiten veran* lassen , allein nur in sofern sie aufs Gehirn wirken und dies in den Kreis der Krankheit ziehen. Wer würde z. B. läugnen, dass Fieberdelirium , das ein Exanthem oder eine Entzündung begleitet, nur symptomatisch sei? Damit aber dies Symptom eintreten könne, muss das Fieber auf das Gehirn wirken; es muss einen kranken Zustand desselben heiworbringen , der sich als Delirium äussert. Sehr merk- würdig ist die Erfahrung, dass Entzündung der dünnen Därme allemal und unfehlbar Delirien und Neigung zum Sopor erregt, ohne alle Schmerzen in den Därmen* Alle soporöse Erscheinung , desgleichen Agrypnie, ist gleichfalls offenbares Symptom von Hirnleiden; unter Agrypnie ver- steht man freilich nicht den Zustand , w enn man wegen äuäserer Ursachen , oder wegen eines Schmerzes in den Knochenhäuten u. dgl. nicht schlafen kann, sondern den, wenn ohne alle Schmerzen oder äussere Störungen doch durchaus kein Schlaf erfolgt oder dieser nur momentan ist. Den Anfang der Manie begleitet sie symptomatisch, sehr oft auch die höheren Grade der Hysterie und Hypo- chondrie.

102.

Anlangend die Erscheinungen gestörter Plastik so ist fast keine denkbar, die nicht zuweilen durch Krankheit des Hirns erregt werden könnte, wahre Entzündungen allein ausgenommen; selbst Hydropen entstehen zuweilen durch sie . z. B. nach langem Kummer , nach Agrypnie. Man

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denke nur an die Erscheinungen des Heimwehs, die oft genug für wahre Phthisen der Lungen gehalten werden und doch hei Erfüllung der Sehnsucht nach dem Vater- lande schnell und vollständig verschwinden; man denke an die unendliche Mannichfaltigkeit hypochondrischer Erschei- nungen. Doch sind gewisse Krankheitssymptome dadurch ausgezeichnet , dass sie sich immer mit bestimmten Hirn- leiden verbunden zeigen und von diesen allein kann hier die Rede sein. Ein solches ist das Erbrechen bei Kopf- verletzungen, während sonst weder organische Fehler des Ilirns, die allmählig entstehen, noch dynamische, beson- ders chronische Krankheiten desselben jemals mit diesem Symptom verbunden sind. Bios plötzlich eintretende Ent- zündungen der Hirnhäute sieht man zuweilen , aber nicht immer, von Erbrechen begleitet. Wir sehen dies consen- suelle Erbrechen zuweilen bei dynamischen Leiden der galea teudinea, die gewöhnlich schmerzt, wenn der Magen nicht verdaut, doch kann sie zerschnitten werden, ohne dass Erbrechen entsteht, z. B. bei der Trepanation, die bei weitem nicht immer Erbrechen nach sich zieht, ausser wenn die harte Hirnhaut zerschnitten werden muss. fehlt nicht an Versuchen, dies consensuelle Erbrechen zu erklären, aber den Versuchen fehlt es an überzeugender Kraft; es sind zu viel widersprechende Erscheinungen in Harmonie zu bringen. Leichter erklärt es sich , dass Entzündung der sehnigen Ausbreitung allemal erysipelatöse Entzündung der Kopfhaut veranlasst. Dass bei plötzlich eintretenden Hirnalfectionen aller Art der Puls sich jedes- mal sehr bedeutend verändert, ist ebenfalls sehr begreif- lich, aber diese Veränderung selbst geht beinahe durch alle mögliche Formen. Chronische Hirnkrankheiten ver- ändern den Puls nicht.

Cap. XI. Von der kranken Vorstellung

im allgemeinen.

103.

Alle Krankheiten des Gehirns sind entweder als Stö- rungen der Sensibilität oder der Plastik aufzufassen. Da die Sensibilität bei weitem der wichtigste Zweck des Ge- hirns, da es ihr Mittelpunkt ist, da ferner das Urtheil über die kranken Erscheinungen derselben viel schwieriger ist, als das über ihre plastischen Krankheiten, endlich da die Erforschung der letzten auf die ersten kein Licht ver- breitet hat, so beginnen wir mit diesen als dem Haupt- gegenstand, auf den jeder am meisten gespannt ist, der ein Werk über Krankheiten des Gehirns in die Hand nimmt. So grossen Fleiss man seit etwa vierzig Jahren besonders, namentlich seit Pinel , auf die Vorstellungs- krankheiten gewendet hat, so viel ist doch noch zu thun übrig ; man ist weder in ihrer pathologischen Bestimmung weit vorgerückt, noch zu einiger Sicherheit in ihrer The- rapie gekommen , vielmehr begegnet man allenthalben noch den auffallendsten Widersprüchen. Während die eine Parthei von rein psychischer Heilmethode spricht, will die andere durchaus jede Vorstellungskrankheit aus der plastischen Sphäre herleiten und zieht dazu oft die Mittel sehr gewaltsam herbei: es giebt Aerzte, denen genügt zu erfahren, dass ein vierzigjähriger Geisteskranker als Kind einmal an der Krätze gelitten und sie bald verloren habe, um den Entschluss zu fassen, ihn, so Gott will, durch Herstellung der Krätze zu heilen. Wenn solche Verkehrt- heit nur noch möglich ist, hat man offenbar noch keine wissenschaftlich sichere Ansicht der Krankheit. Die da gedenken, Geisteskranke durch gute Ermahnungen oder Predigten, ja gar durch Religion und Bussübungen zu hei- len, sind wo möglich noch weiter von der Wahrheit ent«*

12t

fernt und scheinen selbst einer Cur bedürftig. Es ist mir viel Gelegenheit worden , Vorstellungskranke genau zu be- obachten; unter ungünstigen Umständen und Schwierig- keiten, die wohl hätten muthlos machen können, sind viele Heilungen erfolgt; ich glaube eine Schuld abzutragen, in- dem ich hier die Resultute meines Studiums dieser Krank- heiten niederlege.

104.

Sie zu verstehen muss man vor allen Dingen den Gang verfolgen, in welchem sich die Vorstellungsfähigkeit ent- wickelt. Ihre erste Bedingung ist die Sinnlichkeit; ohne sie ist alles Vorstellen unmöglich. Daher muss zuvör- derst auf die Formen fehlerhafter Vorstellung Rücksicht genommen werden , die aus der Sinnlichkeit hervorgehen. Zweitens ist alles Vorstellen abhängig von den drei als basisch erklärten Kräften, der Perceptivität, der Erinne- rungsfähigkeit und dem Combinationsvermögen , deren Thä- tigkeit oder Unthätigkeit sehr verschiedene Formen von Vorstellungskrankheiten darstellt. Drittens muss auf die Richtung der Vorstellung Rücksicht genommen werden, nach welcher sie entweder im Inneren beschränkt bleibt oder sich nach aussen wendet. Viertens müssen die Ei- gentümlichkeiten des menschlichen Vorstellens besonders ins Auge gefasst werden, denn alle früher genannten Vor- stellungsarten sind dem Menschen mit den Thieren ge- mein: die ihm aber besonder« zustehen, sind die Fähig- keit der quantitativen Urtheile, das analytische Vermögen, das Vermögen der Ideen und der Glaube an das Ueber- sinnliche und das Sittliche. Erst wenn wir die Abnormi- täten des Einflüsse« aller dieser Fähigkeiten erwogen ha- ben, dürfen wir den Kreis der Untersuchung als geschlos- sen ansehen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass auch die niederen Aeusserungen des Vorstellen« im Menschen ganz anders «ich darstellen, als beim Thier, weil er mit höheren Kräften gerüstet ist, die auch auf «ein tierische«

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Vorstellen einwirken , weil überhaupt sein ganzes Vorstel- luiigslcben viel höhere Bedeutung hat, als das aller ande- ren Geschöpfe. Die eigentümliche Gesetzgebung der Sen- sibilität überhaupt macht sich übrigem auch in ihren pa- thologischen Erscheinungen geltend.

105.

Wir haben, wie aus dem angegebenen hervorgeht, einen anderen Eintheilungsgrund der Krankheiten des Vor- stellens aufgestellt, als die gewöhnlichen sind und hoffen nach demselben die Differenzen der Formen viel genauer bestimmen zu können. Modificationen der Erscheinungen lassen sich an denselben viel leichter anreihen, als man sonst konnte; der wesentlichste Vorzug aber ist, dass er mit der Natur des Denkvermögens übereinstimmt und alle Willkiihr ausschliesst. Die richtige Diagnose, unterstützt von der Kenntniss der Gesetze aller sensiblen Thätigkeit, erleichtert die Kenntniss der Ursachen und somit die Hei- lung, wenigstens ist zu hoffen, dass für diese die leiten- den Grundsätze viel heller ins Auge fallen und Missgriffe leichter verhütet werden. Die Zeiten sind vorüber, wo in den Lehrbüchern der speciellen Heilkunde ein Capitel von Manie und Melancholie vorkam und man meinte, damit sei es abgethan. Für jene Zeit passte es, wenn man nach specifischen Mitteln wider die Manie haschte und die Me- lancholie, nach dem Wortsinn, für Wirkung der schwar- zen Galle erklärte, die man bald durch Klystiere, bald durch Laxirmittel , bald durch sogenannte Resolventia mancher Art aus dem Körper zu schaffen oder mittelst der Blausäure lichter zu färben gedachte, und doch hatte man in jenen Zeiten schon einen Fortschritt gethan. Denn ehedem hatte man den bösen Geistern die Ehre erwiesen, sie für die Urheber aller Störungen des Vorstellungslebens zu halten und den Mönchen deren Heilung überlassen, die dazu keine Mittel hatten, ausser dem Exorcismus: wo er nichts half, und das war leider so ziemlich allemal der Fall,

125

verdienten die rebellischen Geister nichts weiter als Ket- ten und Kerker* Manches Skelet, was man in den aufgeho- benen Klöstern, oft noch mit Ketten umgeben, fand und was die Sucht, den Mönchen Böses nachzureden für den Be- weis ihrer verbrecherischen Grausamkeit und Wollust er- klärte, war gewiss weiter nichts als ein Beweis ihres Has- ses gegen die bösen Geister und hatte einem armen Ver- rückten angehört.

106.

Doch würde man die Gränzen viel zu eng stellen, wenn man unter Vorstellungskrankheiten blos verstehen

I wollte, was man gewöhnlich Verrücktheit nennt; eine Menge von Zuständen gehören dahin , die man gewöhnlich nicht dazu rechnet, von der Wirkung narkotischer Stoffe an bii zum Fieberdelirium. Dadurch fällt die Frage von selbst weg, ob diese Krankheiten blos dem Menschen eigen seien, oder ob sie auch bei Thieren Vorkommen. Wenn die Thiere, wie unläugbar, vorstellen, so können sie auch krankhaft vorstelien. Sie deliriren, werden von Schwindel befallen, werden durch narkotische Stolfe berauscht, von Wuth ergriffen, von Leidenschaften beherrscht, wie die Menschen ; ihre Sinne werden ihnen treulos , ihre Perce- ptivität wird fehlerhaft, ihr Gedächtniss ebenfalls und sie zeigen die allerverschiedensten Grade von Combinations- fähigkeit. Freilich sind sie keiner quantitativen Urtheile fähig; es fehlt ihnen das analytische Vermögen, das der Ideen und der Glaube an das übersinnliche ; mindestens läuft alles, was man vorbringt, um Spuren desselben bei ihnen zu beweisen , wahrscheinlich auf Täuschung hinaus , aber eines gewissen Grades von Selbstüberwindung sind sie nicht unfähig. Wir sehen bei mehreren Thierarten, dass sie recht gut wissen, was sie thun sollen, dass sie sich schämen, sich verbergen, wenn sie dagegen gesündigt haben , dass sie sehr mächtige Instincte überwinden , um ihre Schuldigkeit zu thun und diese nicht aus Furcht er-

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füllen, sondern weil sie wissen, dass es *o recht ist. Der Jagdhund giebt davon die allerauffallendsten Beispiele, eben so das Pferd, das weder durch Nahrungs- noch durch Geschlechtstrieb, so mächtig er sich regen mag, sich ab- haltcn lässt, seinem Reiter zu folgen oder den Wagen, an den es gespannt ist, die Reihe, in der es, namentlich als Soldatenpferd, geht, zu verlassen. Einen gewissen Grad sittlichen Gefühls können wir daher den Thieren nicht absprechen.

107.

Da Empfindung und Bewegung, die eine die Bedingung, die andere, so weit sie mit Willkühr verbunden ist oder sein sollte, die Folge des Vorstellens ist; da ferner Alte- ration der Empfindung und der Bewegung nie ohne Alte- ration der Vorstellung geschieht, so werden die Krank- heitsformen, die man als Bewegungs- oder Empfindungs- krankheiten ausschliesslich zu bezeichnen pflegt, hier mit eingeschlossen. Eben dies gilt von den Formen, die aus krankhaften Veränderungen des Schlafs, als der naturge- mässen Pause der Vorstellung, bei fortdauernder Vegeta- tion, entstehen. Alle Krankheitserscheinungen in der sen- siblen Sphäre stehen in innigem Zusammenhang ; sie isoli- ren wollen, ist ein Versuch, der nur Undeutlichkeit her- vorbringt oder Wiederholungen nöthig macht.

108.

Wir verstehen also unter kranker Vorstellung alles, Waa die Normalität des menschlichen Vorstellens stört, keineswegs blos den kranken Wahn, wie gewöhnlich ge- schieht, zum Nachtheile der Deutlichkeit. Denn nur aus dem Vorurtheile von Wahnbegriffen als den charakteristi- schen aller Vorstellungskrankheit entsteht es, dass man sich zuweilen in der Tollheit, im Blödsinn, nicht zurecht findet, wenn man bemerkt, dass damit behaftete Kranke gar keine Wahnbegriffe haben. Schwerer ist es, dieGränz-

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linie zu ziehen, innerhalb welcher der gesunde Zustand aufhört und der kranke anfängt, denn die sensiblen Thä- tigkeiten haben eine grosse Breite , innerhalb welcher sie sich verändern können und Anlage, Gewohnheit, Indivi- dualität machen hier die auffallendsten Verschiedenheiten möglich. Es giebt Menschen, die ohne alle Krankheit fünf, secli« und noch mehr Tage ohne Schlaf zubringen, andere, die das halbe Leben verschlafen. Welch ein Un- terschied in Fähigkeit und Uebung der Muskelbewegung, der Schärfe der Sinne ! und doch ist dieser unbedeutend gegen den in Aeusserung der Verstandskräfte, besonders des analytischen Vermögens, in der der Leidenschaftlich- keit. Der Abstand zwischen heiterer oder verdriesslicher Laune desselben Individuums ist oft gewaltig gross , ohne Krankheit; gleichwohl giebt es in dem allen eine Gränzc, deren Ueberschreiten nicht ohne Krankheit möglich ist, aber sie kann nur individuell bestimmt werden* Eine der grössten Merkwürdigkeiten der menschlichen Natur ist, dass der sittliche Glaube, das Gebot der Pflicht, allein keinen graduellen Unterschied für die Individuen hat, ob- gleich die Befolgung desselben sehr verschieden ist ; an- ders verhält es sich mit dem transcendentalen Glauben.

Cap. XII. Krankheitsäusserungen der

Sinnlichkeit.

109.

Wir verstehen unter Sinnlichkeit das Vermögen dt« Gehirns durch äussere Eindrücke in Thätigkeit gesetzt zu werden, aus welcher die Unterscheidung des Ich von dem Aeusseren hervorgeht* Dies beruht zwar auf der Integri- tät der Sinnorgane, allein die Krankheiten dieser, welche ihre Integrität verletzen, bleiben, wie natürlich , von unse-

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rer Betrachtung ausgeschlossen, besonders die der Augen, welche uns in ein sehr weit von den Krankheiten des Ge- hirns entferntes Feld versetzen würden. Das, was alle Sinneneindrücke unter sich gemein haben, ist, dass sie das äussere dem inneren nach seinen Eigenschafien unter- scheidbar machen ; sie enthalten also den Grund aller qualitativen Urtheile, oder richtiger: jede Sinnenempfin- dung ist zugleich ein qualitatives Urtheil. Sie sind aber bei weitem nicht alle deutlich; so werden nur die, auf welche das empfindende Subject Aufmerksamkeit wendet. Diese kommt aber nur aus ihm selbst und durch sie un- terscheidet sich der Mensch wiederum vom Thiere, dessen Aufmerksamkeit allein durch den Grad der Energie der Empfindung bestimmt wird, während er vermag, sie ab- sichtlich auf bestimmte Gegenstände zu richten , obgleich auch ihn der stärkere Grad des Sinneneindrucks ebenfalls kräftiger reizt, als der schwächere. Obgleich also der Mensch die Sinnlichkeit mit allen Thieren gemein hat, ja obgleich seine Sinne selbst vielleicht nicht so scharf sind, als die mancher Thiere; obgleich ihm sogar manche Sinne die wir bei Thieren voraussetzen, zu fehlen scheinen, be- währt er doch auch hierin seinen Vorzug vor allen Ge- schöpfen der Erde. Wir fassen die Aussenwelt nur nach fünf Qualitäten (richtiger Classen von Qualitäten) auf; es ist denkbar, dass es deren weit mehr geben könne und uns unmöglich zu wissen, >vie viele möglich seien. Wir wissen selbst, dass es imponderable Actionen giebt, deren Kenntniss uns versagt ist, weil wir keinen Sinn dafür ha- ben. Die magnetische Wirkung, die Anziehung, die doch von allen die wichtigste ist, da sie die kosmischen Körper in ihren Bahnen erhält, ist uns nicht durch einen eigenen Sinn bekannt, der ihr eben so gegenüber stände, wie das Auge dem Licht, das Ohr dem Tone, und wir kennen sie blos aus sichtbaren Erscheinungen. Also ist unsere Sinn- lichkeit, beschränkt durch den Organismus , gewiss unvoll- kommen, aber dadurch, dass es in unserer Gewalt steht,

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sie nach Absicht zu richten , begründet sie einen wichti-

Igen Vorzug. Es ist uns möglich, durch dieses Richten die Sinnlichkeit zu stärken und auf einen hohen Grad aus- zubilden ; gerade die rohen Menschen pflegen hierin vor den Gebildeten vieles voraus zu haben.

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Dies Vermögen, die Sinnlichkeit zu beherrschen durch Aufmerksamkeit kann aber dem Menschen auf mehrfache Weise verloren gehen, auch ohne alle Krankheit. Da er es ausbilden kann , so kann er es auch vernachlässigen ; es kann also durch üble Gewohnheit schon zu einem schwa- chen Grad herabsinken. Es geht verloren durch Schläf- rigkeit, die alle sensible Thätigkeit schwächt. Je mehr der Mensch sich intuitiv beschäftigt, desto schwächer äus- sert cs sich. Wird es ihm zur Gewohnheit, in allen Sin- neneindrücken nichts deutlich zu unterscheiden und ent- werte»* in intuitiven Anstrengungen immer zu beharren, oder auf das äussere aus Nachlässigkeit keine Aufmerk- samkeit zu wenden, so entsteht der Fehler des Zerstreut Seins , der theils Symptom mancher anderen Krankheits- zustände des sensiblen Lebens ist, theils bis zur eigen- thümlichen Krankheit steigen kann, wenn nämlich die üble Gewohnheit, auf nichts aufzumerken, so lange fortgesetzt wird, dass es dem Menschen nicht mehr möglich ist, sie abzulegen oder seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Wir fin- den zwar solche Menschen nicht krank, sondern mehr lächerlich, allein indem sie eines der wichtigsten mensch- lichen Vorzüge entbehren und dadurch zu vielen Geschäf- ten des Lebens ganz untähig werden, kann man sie wohl, als Kranke betrachten. Es ist leichter, diesem Fehler zu- vorzukommen, als ihn zu heilen ; der Zerstreute muss seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas' zu fesseln suchen und ßich so allmählig seiner Zerstreuung entwöhnen.

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111.

Die Sinnlichkeit ist Unterbrechungen ausgesetzt. Aus- ser der natürlichen durch den Schlaf kommen auc'i krank- hafte vor, die entweder unvollkommen oder vollkommen sind. Unvollkommene Unterbrechung der Sinnlichkeit zeigt sich beim Schwindel. Das charakteristische dieses Zustan- des besteht im Uudeutiichwerden aller Sinnenempfindung, die jedoch nicht aufhört, sondern blos in einander schwirrt. Am meisten spricht sie sich aus im Gesichtssinn ; alle Ge- genstände scheinen sich zu bewegen, immer nach einerlei Richtung, entweder in die Länge, oder im Kreise; je schneller die liewegung wird, desto mehr nähert sich der Schwindel der völligen Unterbrechung der Sinnlichkeit. Zuweilen scheinen auch alle Gegenstände zu schwanken, also nicht nach einerlei Richtung sich zu bewegen, son- dern nach verschiedenen, doch in gleichmässiger Abwechs- lung, Ausserdem sieht auch wohl der Schwindelnde Phä- nomene, zu denen kein äusserer Grund vorhanden ist; fast immer verändert sich ihm Farbe und Beleuchtung der Gegenstände ; je blauer sie werden und je dunkler, desto näher ist die Sinnlichkeit der gänzlichen Unterbrechung. Fieberkranke sehen oft die sie umgebenden Gegenstände von sich wegfliehen , oder auf sicli zukommen ; dabei neh- men sie allerlei wunderliche Gestalten an, bald Gesichter, bald Thierfiguren, bald Ungeheuer. Eben so irrt der Ge- hörsinn; alle Töne schwirren in einander, zu weichen äus- serer Grund vorhanden ist, und vermischen sich mit klin- genden, zischenden, brausenden, zu welchen keiner ist. Der Gefühlsinn wird gleichzeitig getrübt und undeutlich und w enn wir vom Geruch - und Geschmacksinn nicht das- selbe «agen können, so ist dies blos, weil im schwindeln- den Zustande sic nicht immer thätig sind. Dauer und Ausgang des Schwindelanfalls sind eben so verschieden, als der Grad desselben : leichte Grade können lange fortdauern und am Ende aufhören, ohne die geringste Spur zu hiu-

terlatsen. In demselben Grad, in welchem der Schwindel steigt, bleibt der Kranke nicht inehr Meister seiner Mus- kelbewegungen : entweder bewegt er sich noch, aber tau- melnd «nd ungewiss, oder er ist genöthigt , still zu ste- hen, oder er hat nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu

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erhalten , sondern fällt zu Boden. Ehedem begründete dies einen Unterschied , indem man den Schwindel eintheilte in vertigo caduca und non caduca, mit Unrecht, denn die Verschiedenheit ist blos graduell. Der Schwindelnde pfleg! im Anfänge des Anfalls ängstlich mit den Händen nach

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etwas zu fassen und sich daran fest zu halten. Der Aus- gang jedes Schwindelanfalls ist dreifach entweder er verliert sich, oder er endet in Erbrechen, oder in gänz-

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lieber Unterbrechung der Sinnlichkeit.

111.

Wenn das Wesen des Schwindels in unvollkommener Unterbrechung der Sinnlichkeit besteht, so ist es eitle

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Tautologie zu wiederholen, dass er durch alles veranlasst wird, was die Sinnlichkeit mehr oder weniger beschränkt; wichtiger ist nachzuweisen, was also wirke. Alles, was das Leben überhaupt schwächt, muss nothwendig zum Schwindel disponiren , nur anders, wenn die Schwächung schnell, anders, wenn sie langsam eintritt. Daher sind i in Ganzen schwächliche, nervcnsiechc Crcaturen mehr da- zu geneigt, als robuste: eine hysterische Dame wird eher schwindeln, als ein kräftiger Mann, doch auch der kräf- tigste wird durch schnellen Blutverlust schwindeln. Massi- ger Blutverlust befreit eher das Gehirn und macht es kräf- tiger wirken , allein je schneller und beträchtlicher er ist, desto gewisser folgt ihm Schwindet. Anhäufung des Bluts im Kopfe, besonders gehinderter Rücklauf durch die Jugu- larvene thut dasselbe; der Druck einer engen Halsbinde veranlasst ihn auf der Stelle. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich leicht, wenn man erwägt, dass der Blitnic •ufs Gehirn dessen Sinnlichkeit beschränkt, folglich schnelle

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Erhöhung desselben diese eben so gut dem Unterbrechen nahe bringt, oder wirklich unterbricht, als Schwächung der Vitalität überhaupt. Aus eben diesem Grunde ist klar, warum lange Entbehrung des Schlafs eben so zum Schwin- del disponirt , als Schläfrigkeit ; bei jener ist die Vitalität des Hirns überhaupt geschwächt; bei dieser die Sinnlich- keit ermüdet. Alles, was die Sinnlichkeit schnell ermüdet, macht zum Schwindel geneigt oder führt ihn herbei, folg- lich alle sehr grosse Sinneneindrücke. Man denke sich einen Menschen , der bis zum mannbaren Alter in unter- irdischem Aufenthalt erzogen wäre und auf einmal ins helle Tageslicht, in Sonnenschein versetzt würde; der ge- waltige Eindruck müsste ihn nothwendig schwindelnd zu Boden stürzen. Bei sehr lebhaft fühlenden Menschen kann die blosse Einbildungskraft den Sinneneindruck ersetzen ; sie hat überhaupt grosse Theilnahme an Erregung des Schwindels , indem sie die Furcht vor Gefahr dem mäch- tigen Sinneneindruck zufügt, z. B. wenn ein Mensch auf einer grossen Höhe steht, oder wenn er auf einem schma- len Steg über einen Fluss gehen soll, wird ihm schwin- deln, wenn er keine Lehne sieht, die ihn vor dem Sturz bewahren könnte, und die schwächste Vorrichtung zur Verhütung desselben wird ihn, auch ohne dass er sie wirklich ergreift, vor Schwindel bewahren. Starke Anre- gung des Mitgefühls, jede grosse Leidenschaft, kann be- kanntlich Schwindel , selbst Ohnmacht erregen. Eben so bringt ihn eine grosse , mindestens ungewohnte Mannigfal- tigkeit von Eindrücken, besonders von Gesichtseindrücken hervor, um so gewisser, je widernatürlicher sie sind. Wer über das Geländer einer Brücke in einen schnell fliessen- den Strom nach aufwärts schaut, wo der Strom herkommt, verschafft sich die Einpßndung, als wenn die Brücke sich dem Strom entgegen bewege ; sieht er in den Strom nach abwärts, so bekommt er sie nicht. So wird einer, der nicht an Fahren gew ohnt ist, viel eher schwindlicht, wenn er rückwärts , als wenn er vorwärts sitzt , allein weil es wi«

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dernatiirliclier ist, nach anderer Richtung hinzusehen, als nach welcher man sich bewegt. Drehen itn Kreise, Schau« kein, macht Schwindeln; eben deshalb thut es auch dag Fahren auf der See , zumal bei unruhigem Wasser und immer um so mehr, je kleiner das Fahrzeug ist, da ein grosses Schiff weniger heftig durch jede Welle gehoben wird. Gewöhnung an das Rückwärtsfahren, an die Seebe- wegung, an das Heruindrehen im Kreise hebt diesen Schwindel gänzlich auf, ausgenommen bei Personen, die sich ängstlich vor solchen Bewegungen scheuen und den Schwindel als dessen sichere Folge erwarten, wo er denn nie unterlässt, die Erwartung >vahr zu machen. - Das« der Schwindel den vollkommenen Unterbrechungen der Sinnlichkeit, als ihr schwächerer Grad, vorausgehe, ist begreiflich; er macht also die Einleitung zu jedem convul- siven, apoplektischen oder synkoptischen Anfall, zuweilen ersetzt er ihn auch. Oft gehen solche Anfälle , wenn sie sehr leicht sind, als blosser Schwindel vorüber. Alle nar- kotische Reize erregen Schwindel , ehe sie betäuben , eben so die meisten irrespirablen Gasarten , wofern sie nieht Husten und Erstickung bewirken, also namentlich das Kohlengas: der Mensch fühlt die Respiration nicht durch sie beengt, sondern ihm schwindelt. Es ist noch nicht entdeckt, aus welchem Grunde feuchter Kalk in geschlos- senem Raume eben so Schwindel hervorbringt: dass er die Kohlensäure aus der Atmosphäre einschluckt , kann der Grund nicht sein, denn in hohen Bergregionen ist die Luft ebenfalls ohne Kohlensäure und erregt keinen Schwin- del. Heftige Contagien, die überhaupt narkotischen Stof- fen sehr analog wirken, gnstrische Reize, wenn sie Erbre- chen erregen, betäubende heftige Gerüche, verworrene, vielartige Töne, vorzüglich, wenn sich an sie die Furcht vor Gefahr knüpft, bringen sämmtlich Schwindel hervor. Alle hohe Schwächegrade erregen ihn ; es ist sehr wahr- scheinlich, dass jeder Mensch, seltene Ausnahmen abge-

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rechnet, durch den Zustand des Schwindels dem Tode schmerz- und bewusstlos entgegengeführt wird.

113.

Der Schwindel ist als solcher nur selten Gegenstand

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therapeutischer Behandlung: wenn er Synkope, Convul- sionen oder Apoplexie, als schwächerer Grad dieser Krank- heitsformen, ersetzt, muss er behandelt werden, wie dieae.

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Gewöhnlich ist er symptomatisch, z. B. von Congestion nach dem Kopfe, von Uebelkeit, von Contagien , von schnellem Blutverlust; dann versteht es sich, dass er keine besondere Therapie erfordert, sondern mit seiner Ursache

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zugleich verschwindet. Der idiopatische Schwindel, der auf drehende, schaukelnde Bewegung, Rückwärtsfahren u. dgL erfolgt , kann nur durch Gewöhnung besiegt wer- den. Es ist immer merkwürdig, dass es Menschen giebt,

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die ihm bei denselben Gelegenheiten gar nicht ausgesetzt sind, die ihn unfehlbar bei anderen erregen, dass nament- lich manche durch Seereisen so gewaltig angegriffen wer- den, andere gar nicht, und dass zuweilen sehr robuste Personen zu den erstem, sehr schwächliche zu den letz-

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tern gehören : die Ursache ist noch nicht genau errathen. Indessen ist gewiss, dass Gewöhnung diesen Schwindel bei

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jedem besiegt, nur bei dem einen schwerer, bei dem an- dern leichter ; der beharrliche Wille überwindet endlich sicher, und selbst wo er fehlt, thut es die Zeit; so hört die Seekrankheit allemal endlich von selbst auf, wenn nur

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die Seereise lange genug fortgesetzt wird, gerade so, wie jedes Mädchen endlich doch walzen lernt, so wenig anfangs ihr die drehende Bewegung zusagt. Der Schwindel , der in Folge narkotischer Genüsse eintritt, ist öfters Gegen- stand der ärztlichen Sorge und man muss sich wundern , dass so mancherlei widersprechender Rath dabei gegeben

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wird. Es kommt dabei etwas auf die Qualität des narko- tischen Stoffs an, dann auch auf den Grad der Wirkung. Opiumvergiftung ist freilich schwerer zu beseitigen, als

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Branntweinrausch , dieser schwerer als Wei »rausch. Nach dem Genuss von Opium ist oft unmöglich , Breche» zu er- rege» und man verliert mit dem vergeblichen Versuche die Zeit: nichts in der Welt mindert ihn sicherer, als das Ueberschlagen von eiskaltem Wasser auf den Kopf, in den dringendsten Fällen Aufgiessen von Wasser auf den- selben. Alles kommt nur darauf an* das Leben zu fristen, bis sich der Opiumrausch von selbst verliert. Nach Ader- lässen und Biutigeln habe ich die Vergifteten bald sterben sehen. Man rühmt sehr starken Kaffee, Essigsäure, auch wohl Mineralsäuren als Gegengift des Opiums, aber der Kranke kann nicht immer schlucken, und wenn er es kann, ist der Schwefeläther sehr viel wirksamer, als Kaffee oder Säure. Dabei muss inan die kalten Begiessungen des Ko- pfes immer fortsetzeu und zugleich durch reizende Kly- stiere, namentlich aus Essig, auch wohl aus Brechwein- stein, Durchfall erregen: bei diesem Verfahren wird selten ein Erwachsener, auch nach den grössten Gaben von Opium, sterben. Anders ist es mit Kindern; je jünger sie sind, desto leichter sterben sie, aber auch für diese ist die vor- geschlagene Behandlung die beste. Beim Branntwein- und Weinrausch muss man auf den Zustand des Magens Haupt- rücksicht nehmen: ist so viel genossen worden, dass die- ser nicht verdaut, so muss schlechterdings Brechen erregt werden, wozu in der Regel blosses warmes Wasser schon hinreicht, wofern es nicht von selbst eintritt. Alsdann wenn der Ueberfluss entfernt ist, oder wenn die Berau- schung nicht durch ein grosses Quantum spirituösen Ge- tränks erfolgte, zerstreut sie der Essigäther, oder auch der Schwefeläther, nicht zu sehr verdünnt, sondern lieber auf Zucker genommen, unfehlbar. Der Durst, der auf solche Exzesse folgt, wird allein durch verdünnten Essig gestillt. Steigt der Rausch bis zur Betäubung, so müssen ebenfalls kalte Umschläge um den Kopf gemacht werden, besonders über den Nacken.

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Ausserdem unterscheidet man die Behandlung dei Schwindels in die während des Anfalls und in die ausser dem Anfall. Die erste ist immer symptomatisch; es kommt darauf an, die Sinnlichkeit lebhaft anzuregen , aber durch einen anderen Sinn, als durch den der Anfall erregt wur- de, also entweder durch den Geruch- oder durch den Ge- fiihlsinn, doch muss man sich vor Gerüchen hüten, die selbst betäuben, wie Moschus und die meisten ätherischen Oele. Man wählt am liebsten Ammonium oder wesentliche Essigsäure, wenn dergleichen bei der Hand ist; sonst nimmt man seine Zuflucht zu verbrannten Federn oder Haaren, Kainpher 11. dgl. Man spritzt dem Schwindelnden kleine Quantitäten kaltes Wasser auf Gesicht und Brust. Kann man verhüten, dass er sich erbricht, so ist dies gut; hat er sich erbrochen, so muss man ihm ein wenig Essig zu trinken geben, damit man ihn \or dem sonst un- fehlbar nachfolgenden Kopfschmerz schütze. Ist der Ma- gen leer, z. B. früh Morgens, oder nach langem Fasten, so sorge man wo möglich dafür, dass der Kranke etwas stark aromatisches geniesse , allenfalls auch etwas salziges, tls Heringe, Sardellen, in Ermangelung des ersteren, nur hüte man sich, ihn Spirituose Dinge gemessen zu lassen; die schaden mehr, als sie helfen. Kein Gewürz, das sich besser schickt, als Ingwer: dieser ist auch das wahre Mit- til gegen die Seekrankheit. Wenn der Seekranke nur we- nig isst, aber eden Bissen stark mit Ingwer gewürzt; wenn er dabei sich alles Trinkens enthält, der Durst sei noch so gross, so wird er bald befreit sein.

Die Behandlung ausser dem Anfalle muss sich durch- aus nach dessen Ursache richten, doch darf sie selten schwächend sein. Selbst bei Blulcongestionen kommt weit mehr darauf an, die Contrnction der Gefässe zu bethätigen und für die gleichförmige Vertheilung des Bluts zu sorgent als dessen Masse zu vermindern, was nur für den Augen- blick nützen kann. v. Purkinje Beiträge zur näheren Keunt- nise des Schwindels, in d. med. Jihrb. des Österreich. Staa^

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teil, VT. Bd., 2. St., S. 79—125. Autenwieth Physiol,

Th, 1J1. S. 292. Ruilolphi Physiologie, 11. Bd., S. 249.

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Der Schlaf ist die naturgemäße Unterbrechung der Sinnlichkeit, die jedem Thiere in i t ausgebildetem Gehirn nur auf Fristen zukommt. Das Gehirn vegetirt und inusa von Zeit zu Zeit allein und ausschliesslich vegetiren, da- mit es Organ der Sensibilität bleiben könne (s. §. 43 ). Unmittelbar ist der Schlaf die Wirkung des Gesetzes der Gewohnheit (s. §. 19.). Nach diesem wirkt jeder Reiz auf das Gehirn und alle von ihm unmittelbar abhängige Organe des sensiblen Lebens um so schwächer, je länger er fortwirkt, je öfter er sich wiederholt. Nun beherrschen zwei ganz verschiedenartige Reize das Leben des Hirns, der Sinnenreiz und der Blutreiz. Das Gehirn muss folg- lich wechselseitig für jeden ermüden, woraus nothwendig folgt, dass bald der eine, brld der andere überwiegende Thätigkeit hervorbringen muss. Sie haben aber entgegen- gesetzten Zweck; der des Blutieizes bewirkt die Vegeta- tion des Gehirns, der des Sinnenreizes begründet dessen sensibles Leben. Der Zustand, in welchem dieser präva- lirt, ist das Wachen f der, in welchem der Blutreiz präva- lirt, der Schlaf. Hat der Sinnenreiz eine Zeit lang ange- dauert und den wachen Zustand unterhalten, so wird der Blutreiz stärker empfunden ; es tritt Schläfrigkeit ein , die endlich, wie die Ermüdung durch den Sinnenreiz zunimint, in Schlaf übergeht. Wird der Sinnenreiz verstärkt oder in Qualität verändert, so hindert er diesen Uebergang län- gere Zeit; wird der Blutrciz ungewöhnlich verstärkt, ohne dass zugleich die Ganglien des Unterleibs oder der Brust in ungewöhnliche Thätigkeit kommen, so tritt der Zustand der Schläfrigkeit oder des wirklichen Schlafs früher ein. So wenig als der Blutreiz während des Wachens aufhört (nur dass er schwächer wirkt, als der Sinnenreiz, wird behauptet ), so wenig hört der Sinnenreiz während dei

Schlafs gänzlich auf: er iats, der die Traume erzeugt. Hat der Blutreiz eine Weile prävalirt, so ermüdet das Ge- hirn auch für ihn und der parallel gehende Sinnenreiz wird immer mächtiger , bis er endlich die Oberhand ge- winnt und der Mensch aus dem Traumzustand in den des vollen Wachens übergeht.

115.

Hieraus erhellt die ganze Reihe der pathologischen. Erscheinungen des Schlafs, nebst allen ihren Folgen und zugleich erkennt man die Grundsätze , nach welchen ihre Heilung bewirkt werden muss. Schlaflosigkeit , agrypnia^ tritt ein, wenn der Mensch nicht in den naturgemässen Intervallen schlafen kann. Ihre Ursachen können doppel- ter Art sein ; entweder fehlt es dem Blutreiz an der nöthi- gen Kraft; oder Sinnenreize wirken zu mächtig fort, als dass er neben ihnen aufkommen könnte. Folglich muss jede Schwächung des plastischen Lebens, insbesondere durch Blutverlust, Schlaflosigkeit herbeifuhren, Schwä- chung der Sensibilität aber das Gegentheil. Je stärker die Vegetationskraft im Verhältniss zur Sensibilität ist, desto mehr wird der Mensch schlafen und umgekehrt ; daher je jünger der Mensch, desto mehr schläft er und im Alter, wo die Sensibilität noch nicht herabgestimmt ist, kann er nur kurze Pausen nach einander durchschlafen. Dass Sin- nenreize, besonders ungewöhnliche, den Schlaf aufhebeu , bedarf keines Beweises : so wirkt der Schmerz Schlaflosig- keit. Die wichtigste Rolle unter allen Sinnen spielt hier- bei der innere Sinn; jede krankhafte, ungewöhnliche Be- unruhigung des Gangliensystems macht den Schlaf unmög- lich. Er flieht also den Fieberkranken, trotz der Gewalt, die das aufgeregte Gefässsystem ins Gehirn ausübt, wegen der Reizung des Systems der Brustganglien ; Unreinigkeit des Magens und Darmcanats, überhaupt Verdau ungsfchler, verscheuchen den Schlaf durch den starken Reiz auf die Darmnerven. Dasselbe thut der unbefriedigte Geschlechts-

139

trieb durch Reizung des Niereilgeflecht*. Aber die allge- meine Folge der Schlaflosigkeit muss nothwendig unvoll- kommene Vegetation des Hirn* sein; es wird nicht ge-

stärkt, nicht geschickt gemacht, die sensiblen Thätigkeitcn

Sin naturgemässer Kraft auszuüben. Demnach muss längere Zeit fortdauernde Schlaflosigkeit das Gehirn für alle sen-

isible Thätigkeitcn immer unfähiger machen und am Ende dasselbe metamorphosiren ; indem sein plastisches Leben sinkt , sinkt auch das sensible.

Schlaflosigkeit ist selten etwas anderes, als Symptom

I anderer Krankheiten, oder die Folge von Kummer, Sor- gen, psychischen Reizungen, die das sensible Leben durch fortwährende Aufregung wach erhalten und zugleich das plastische schwächen. Sie wird geheilt durch Entfernung ihrer Ursachen und zugleich durch Stärkung der plastischen Kraft. Liegt ihre Ursache in irgend einer Reizung des Gangliensystems, so muss diese aufgesucht und entfernt : I werden. Wenn ein Fieberkranker während der Remis- >j sionsperioden ruhig schläft, so beweist dies Nachlass des :| Reizes, der sein Gangliensystem beunruhigte, mithin das , j Fieber hervorbrachte und es giebt kaum ein sichreres, er- freulicheres Zeichen der nahenden Genesung. Wenn Schmerzen den Schlaf hindern, so müssen diese gehoben werden ; ein Gebot , das freilich leichter gegeben , als er- I füllt ist: zuweilen gelingt es, sie wenigstens auf Fristen zu beschwichtigen , wenn ihre Ursache nicht schnell eilt- I fernt werden kann, und nie sind Palliativmittel wohlthäti- | ger, als wenn sie dies bewirken. Nur in sehr seltenen Fällen kann Schlaflosigkeit, dafern sie nicht mit entzünd- lichem Fieber verbunden ist, durch Blutentleerung ge- hoben werden, selbst wenn deutliche Blutcongestionen nach dem Kopfe statt finden: man vergesse nie, dass sie selbst das plastische Leben des Hirns sehr bedeutend schwächt, folglich das ganze Leben des Organismus, und dass gerade

uo

nur eine kräftige Einwirkung des Blutreizes Schlaf hervor- bri ngen kann. In unseren Zeiten , in welchen der Miss- brauch der Blutausleerungen ziemlich den höchsten denk- baren Grad erreicht hat , ist nie überflüssig zu erinnern , wie verkehrter Anwendung dies Mittel oft fähig ist. Bei Schmerzen sowohl , als bei psychischen Einflüssen , die den Schlaf hindern, gelingt es oft, ihn durch Nervenreize ungewöhnlicher Art herbeizuführen, besonders wenn sie nichts abwechselndes haben. Oft ist für solche, die im- mer in Stubenluft leben, schon der Genuss der freien Luft ein hinreichendes schlafbeförderndes Mittel. Man sorgt, dass der störende Anlass möglichst beseitigt werde, dann setzt man den Kranken einem eintönigen Geräusch aus, z. B. dem Ton von einem fliessenden Wasser, einer immer wiederholten Melodie, dem Anhören des Vorlesens eines langweiligen Buchs mit eintöniger Stimme. Oder man wen- det sich an den Gefühlsinn und bürstet dem Kranken mit einer weichen Bürste den Kopf, den Rücken. Die Friction ist wirklich eins der unfehlbarsten Mittel, Schlaf zu er- regen, das in unserer Zeit viel zu sehr vernachlässigt wird ; die Alten verstanden es besser zu handhaben. Hätte der Magnetismus wenigstens diese wieder eingeführt ! Aber er ist grösstenthcils nur ein Werkzeug im Arsenal der Lüge geblieben.

m.

Es dürfte sich kaum eine schicklichere Gelegenheit finden, von narkotischen Mitteln zu sprechen , auf die wir in fast allen Nerven und Ilirnkrankheiten häufig zurück- kommen müssen; man bedient sich ihrer gewöhnlich, um bei Schmerzen oder störenden Leidenschaften Schlaf zu erregen und sieht die Erwartung nicht selten getäuscht. Dass die Aerzte noch nicht völlig einig über ihre Wir- kung sind , legt eben kein günstiges Zeichen für sie ab ; seit Jahrtausenden bedienen sich ihrer Millionen alle Tage, folglich könnte man billig erwarten , dass die Aerzte sie

141

hinreichend beobachtet und beurtheilt hätten. Wenn inan unter narkotischen Mitteln alle versteht, die bedeutenden Einfluss aufs sensible Leben äussern, so fasst man den Be- griff offenbar zu weit. Richtiger ist es, nur die so zu nen- nen, welche die Vegetation, das plastische Leben des Ner- vensystems stärker anregen, als dessen sensible Actionen. Sie zerfallen in drei Klassen; in solche, die zugleich das ganze Gefässleben in höherem Grade bethätigen und da- durch mittelbar auch die Plastik des Nervensystems erhö- hen, in solche, die vorzugsweis die Plastik des Hirns erhö- hen, und in solche, die zunächst irgend ein Ganglion vor- züglich reizen und dadurch, mittelbar, auch auf das Ge- hirn wirken, ln der ersten Klasse steht das Opium oben au: es giebt nichts, was das Herz und das Gefässsystern so mächtig reizt, als dies Mittel, was so allgemein auf alle Systeme wirkt und dabei zugleich den Magen weniger beschwert. Dass es Darmausleerungen zurückhält, bemerkt i man nur bei denen, die nicht daran gewöhnt sind; bei S diesen schwächt es auch die Secretionen des Magens : wer es öfter nimmt, behält dabei den besten Appetit und hat seine ganz gewöhnlichen Stuhlausleerungen. Aber die rei- zende Eigenschaft aufs Gefässsystern zeigt es auch bei denen, die es längst gewohnt sind. Indem es also die Ve- getation aller Organe befördert, erhöht es auch die des Gehirns und entwickelt hier sehr verschiedene Wirkungs- grade. Der eiste, niedrigste besteht blos in dem Gefühl allgemein erhöhter Kraft; in diesem macht es nicht nur nicht Schlaf, sondern sogar grössere Heiterkeit und Mun- terkeit. Der zweite beginnt, wenn es eine Art von Traura- zustand bewirkt, in welchem die Sinnlichkeit zwar fort- dauert, aber ihre Lebhaftigkeit das Gehirn ermüdet, und die kräftigere Anregung des Blutreizes zugleich einige Schläfrigkeit hervorbringt. Dauert dieser Zustand einige Zeit, oder war die Gabe des Opiums grösser, als dass sie hierbei stehen bleibt, so geht diese Schläfrigkeit in wirk- lichen Schlaf über, der dann, bei grossen Gaben des

142

Opiums oder Opportunität des Hirns bis zu jedem Grad der Betäubung steigen kann, ja bi* zum tödtlichen, um so eher, je grösser die Vegetationsk,raft des Gehirns von Na- tur ist, daher Kinder dies Mittel so schlecht vertragen und in Krankheitszuständen, in welchen das Mirn fast nicht vegetirt, ganz unglaublich grosse Gaben Opium doch keine Betäubung erregen, in denselben Individuen, die nach gehobener Krankheit nur sehr geringe Gaben vertra- gen. Man sieht also, dass das Opium nur dann angezeigt und wahrhaft wohlthätig ist, wo die Vegetation des Hirns aus Mangel an Kraft des Blutreizes zu gering ist, dass aber die Quantität, die der Kranke zu nehmen hat, allein aus der Wirkung zu bestimmen ist. Die Wirkung auf die Haut und alle Seerelionen übergehen wir hier, wo uns i nicht obliegt, dessen Gesammteinfluss genau zu erörtern., Seine grosse Kraft aufs Gehirn lässt erwarten, dass es« nicht blos mittelbar, durch Beizung des ganzen Gefäss- ftystems und allgemeine Erhöhung des plastischen Lebens,, sondern zugleich specifisch in dasselbe wirke.

118.

Der Weingeist^ im Branntwein blos mit Wasser oder allenfalls mit harzigen und öligen Theilen , im Wein mitt vielem Wasser, gummösen Theilen und £äure wesentlich verbunden, wirkt dem Opium sehr analog, jedoch ganz anders auf den Magen. Ganz kleine Quantitäten betäti- gen dessen Absonderung, grössere lähmen sie und erhöhen zugleich dessen Contracfion. Wird er tätlich genossen,, so überwiegt die leiz?e Wirkung, endlich so sehr, dass* wahre JSkirrhoshät des Magens erfolgt und nj«i tops dem; Leiten ein Binde macht. Je stärker der Weingeist genos- sen wird, desto eher bewirkt er Magenskirrh, auch bringtt er andere Skirrhen zu schnellerer Entwicklung. Das Ge- fässs^stem reizt er eben so stark, als das Opium und die Wirkung aufs Gehirn scheint ganz besonders von dieserr erhöhten Gefässthätigkeit abzuhängen ; eine specifische

Wirkung des Weingeistes selbst ins Gehirn möchte ich be- zweifeln, ob ich gleich gern glaube, dass manche Weine, namentlich Ungerweine, Capweine, einige französische Sorten, solche haben. Recht reiner, guter Wein, als das erste Mittel zur Erkräftigung des ganzen vegetabilischen Lebens, befördert gesunden Schlaf und hinterlässt, selbst in einigem Ueberraaas genossen, gar keinen Nachtheil. Aber jede Beimischung ist schädlich. Je lebhafter von Natur die plastische Kraft ist, desto weniger bedarf si^ des Weins, desto weniger wird er vertragen. Branntwein, obgleich durch ihn die Verdauung unmittelbar weniger be- einträchtigt wird, als durch Wein, der immer Pflanzen- säuren enthält, schadet weit mehr als Wein durch seine chronischen Wirkungen und kann wohl nur sehr selten als Schlaf beförderndes Mittel benutzt werden.

119.

Unter den narkotischen Mitteln, die speciBsch ins Ge- hirn wirken und durch Erhöhung der Plastik desselben betäuben, ist ohne Zweifel das wirksamste die Blausäure . ln nur etwas grösserer Quantität tödtet sie, wie der Blitz, im Augenblick: in kleineren Gaben betäubt sie und hinter- lässt wiithenden Kopfschmerz. Man hat sie als Arznei be- nutzt, allein mir ist keine sichere Erfahrung von ihrem Nutzen bekannt; anhaltend gebraucht hinterlässt sie lange Zeit Stumpfheit der Sensibilität und Kopfschmerzen. Ihr am nächsten kommt die Kohlensäure , doch nur w enn sic eingeathmet wird, nicht im Magen, wo sie nur wohllhätig wirkt: die grosse Gefässaufregung, welche eintritt, wenn

Iihre betäubende Wirkung nachlässt, glaube ich für secun- däre Folge der Depression der Sensibilität erklären zu müssen. Der Hyvscyamus kommt mit der Blausäure am ! meisten überein; er reizt das Gefässsystem nicht, bringt auch nirgends eine specifische Wirkung hervor, allein er betäubt, besonders in grösserer Quantität genommen, und beweist dadurch , dass er das Gehirn mehr als jedes an-

144

dere Orgmensystem reizt und dessen Plastik erhöht. Da- her eignet er sich sehr zum ärztlichen Gebrauch und es ist kein geringes Verdienst Hufelands , darauf aufmerksam gemacht zu haben. Wenn nur seine Wirkung sicherer wäre! wenn sie nur nicht so sehr von dam Standort der Pflanze, von derZeit, wann sie zum trocknen abgeschnit- ten worden, und von der Art des Trocknens selbst ab- hinge!— Endlich das Lactucarium scheint ebenfalls allein aufs Gehirn speciflsch zu wirken und weder speciflsche Nebenwirkungen zu haben , noch das Gefässsystem zu rei- zen; doch gestehe ich, dass ich meine Beobachtungen über dies Mittel für unvollständig anerkenne.

120.

Alle andere narkotische Mittel, Tabak, Belladonna, Strammonium, Aconit, Schierling und so fort wirken spe- cifisch auf irgend ein Ganglion und mittelst dessen auf andere Ganglien und das Gehirn: bei mehreren ist das Ganglion nachzu weisen, auf welches sie zunächst speci- fisch wirken , und noch weit mehr würde dies der Fall sein, wenn unsere Kenntniss von der Kraft jedes Ganglions bestimmter wäre. Sie sind also wohl sehr schätzbare Arz- neien , wenn sie richtig gebraucht werden ; da aber ihre Wirkung aufs Gehirn blos secundär ist, kommen sie nicht als schlafbefördernde Mittel in Betracht. Es muss jedoch, bei der ganzen Klasse der narkotischen Mittel, erinnert werden, dass ihre Wirkung nur in so fern zu bestimmen ist, wie sie auf die Mehrzahl der Menschen wirken, dass aber die Individualität der Menschen ihre Wirkung höchst auffallend modificirt. Man denke nur an die ungemein grosse Verschiedenheit der Wirkung des Weins auf die Menschen! Es giebt deren, die weinen, die sich zanken, wenn sie Wein genossen haben ; andere werden gar nicht berauscht, können aber nicht gehen , nicht sprechen u. s. w. Eben so verschieden, wie der Wein, wirken alle narkoti- sche Mittel, das Opium nicht ausgenommen; ich kenue

145

Individuen, die nach der kleinsten Gabe desselben heftig purgiren. Wie oft wirkt die Digitalis Erbrechen , aber nicht die geringste Retardation des Pulses ! Es ist also nichts sicher in der Wirkung dieser Mittel ; die Unsicher- heit wächst beträchtlich dadurch, dass das Gesetz der Ge- wohnheit auf sie mehr Einfluss hat, als auf alle andere Arzneien und ihre Wirksamkeit immer geringer wird , je länger sie fortgesetzt werden. Endlich muss ich noch ei- nen grossen Fehler rügen, den die Aerzte bei ihrer An- wendung täglich begehen, der aber ihren möglichen Nutzen gewöhnlich völlig aufhebt ; sie geben sie, narkotische Wir- kung erwartend, in kleinen, oft wiederholten Dosen lange

Inach einander. Das ist das rechte Mittel, durch sie nichts zu bewirken. Jedes hat seine Wirkungssphäre, innerhalb welcher es eine bestimmte Reihe von Erscheinungen her- vorbringt; giebt man eine an sich zu kleine Dosis, so kommt diese Erscheinungsreihe nicht zu Stande ; giebt

!man sie oft wiederholt, so kann wohl am Ende die be- täubende Wirkung eintreten, aber nicht ohne störende Ne- bensymptome, und bei jeder neuen Doli* fängt die erste Wirkung von neuem an, so dass die successive Entwicke- lung der Er6cheinungireihe gänzlich gestört wird.

121.

Der Schlaf kann auf mehrfache Weise krankhaft, er- folgen, wenn er unterbrochen, unruhig ist, wenn ein Mit- telzustand zwischen Schlaf und Wachen fortdauert, end- lich wenn er in völlige Betäubung übergeht. Unterbrochen wird der Schlaf entweder, wenn die plastische Kraft des Hirns, die Einwirkung des Blutes, zu schwacli ist, um den parallel wirkenden Sinnenreizen lange überlegen zu bleiben. Dieser Zustand tritt oft im Laufe des Lebens ein; im höheren Alter, wo die plastische Kraft nachlässt,, ist er natürlich. Er wird aber auch unterbrochen durch Sinnenreize, besonders durch ungewöhnliche; diese erre- gen Träume, wenn sie zu schwach sind, um die Sinnlich-

10

146

keit höher zu stellen, als die Energie des Blutreizes; sie stören ihn , wenn sie stärker sind. Auf welchen Sinn in- Sonderheit der Reiz wirke, ist dabei ganz gleichgültig ; ein Lichtschein, ein Geräusch, eine Berührung, ein hefti- ger Geruch erweckt gleich sicher und stört den Schlaf, aber die meiste krankhafte Störung veranlasst der sechste Sinn, die aus dem Gangliensystem reflectirten Sinnenem- pfindungen. Daher, wenn Krankheiten der plastischen Sphäre statt linden , die sich selten ohne mehr oder min- der grosse Störung im Gangliensystem denken lassen , der Schlaf, wenn er je e intritt, immer unterbrochen sein muss. Dieser Sinn ist auch die Mahre Quelle der Träume. Zwar Kann jeder Sinnenreiz deren veranlassen, wenn er stark genug ist, um percipirt zu werden, und zu schwach um zu erwecken, also Lichtschimmer, ein schwacher Schall, ein Geruch , eine leisere Berührung , und die Phantasie bildet die durch den Reiz begonnene Reihefolge von Bil- dern gewöhnlich dem Reize gemäss aus, der sie erregt. Allein tausendmal öfter, als durch, Sinnenreize von aussen, bilden sich Träume durch Reize des inneren Sinnes: sind die Brustganglien gereizt , so entstehen ängstliche Träume ; sind es die Bauchganglien, so haben sie einen unbestimm- ten Charakter, öfter unangenehmer, als gefälliger Art; ist es des Nierengefiecht, so sind sie wollüstigen Inhalts. In Krankheiten, wo die aus dem inneren Sinn reflectirten Empfindungen mehr oder minder unangenehm sein müssen, erhalten sie gewöhnlich den Kranken in Schlaflossigkeit oder verslatten ihm nur kurzen, unruhigen, traumvollen Schlaf. Allein 6ie können auch einen Mitleizustand zwi- schen Schlaf und Wachen unterhalten (coma) :

a) wenn die vorausgegangenen Sinnenanregungen das Gehirn aufs äusserste ermüdet haben , *o dass ein schwa- cher Grad der plastischen Kraft schon hinreicht, es im Halbschlafe zu erhalten ;

b) wenn die Ilirngefäsee ausgedehnt sind und das Blut

(47

stark nach dem Kopfe zuströmt, aber die krankhaften Ge fühle doch nicht vollständigen Schlaf gestatten;

c) wenn die Krankheit der Art ist, dass sie die Sen- sibilität sehr und auf andauernde Weise geschwächt hat;

d) wenn die krankhaften Gefühle nicht lebhaft genug sind , den Kranken inunter zu erhalten , und doch zu stark uin ihn ruhig schlafen zu lassen.

ln diesen Fällen liegt der Kranke, meist mit nur halb verschlossenen Augen, und spricht entweder blos unauf- hörlich im Schlummer, oder er bewegt auch wohl den Kopf, die Hände, die Füsse. Zuweilen steigt die Lebhaf- tigkeit dieser Träume so , dass er wirklich zu wachen scheint , obgleich wir uns vom Gegentheil überzeugen kön- nen, wenn wir ihn anreden und völlig ermuntern. Sehr lebhafte Träume setzen sich jedoch wohl eine kurze Weile auch uach dem Erwachen noch fort. Ist die Schwäche der Sensibilität sehr gross , so erwacht wohl der Kranke , wenn wir ihn anreden, berühren, aber nur auf einen Mo- ment; er setzt seinen Halbschlaf sogleich wieder fort und spricht in seinen Träumen, natürlich unzusammenhängend und widersinnig. Gewöhnlich werden diese Träume für Delirien erklärt, denen sie wohl ähnlich sind, von denen sie sich aber doch auch gänzlich unterscheiden. Sie kom- men in den späteren Stadien aller Entzündungskrankh eiten vor, in den früheren mancher Arten der Entzündung der Hirnhäute, ganz besonders aber sind sie der Entzündung und Pustelbildung in den inneren Membranen der dünnen Därme eigen : entstehen sie gleich im Anfänge heftigen Fiebers , so erkennen wir aus ihnen Entzündung der Hirn- häute ; entwickeln sie sich nach Fiebern , die schon län- gere Zeit, mit gastrischen Symptomen , fortgedauert habeu, ■o dürfen wir auf diese Art der Darmentzündung schlies sen; erscheinen sie in Folge anderer topischen Entzün- dungen , so sind sie von übler Vorbedeutung.

10 *

148

122,

Obwohl der Kranke in diesem comalöse» Zustande auch betäubt ist, so beweist doch das immerwährende Traumreden, dass seine Sensibilität noch erregt ist. Wenn aber die plastische Thätigkeit des Hirns so überwiegt , dass die sinnliche sich nur auf kurze Zeit erregen lässt und auch dann unvollkommen bleibt, der Schlaf aber auf keine Weise durch Träume unterbrochen erscheint, so nennen wir diesen Zustand Lethargie, Schlafsucht (Lethar- gus). Er tritt ein , wenn die Gewalt des Blutreizes die des Sinnenreizes absolut überwiegt , folglich entweder , wenn temporär der Blutreiz sehr mächtig angewachsen ist, wie hei Extravasationen , bei Apoplexien , oder wenn die Sinnlichkeit sehr erschöpft ist , wie nach Convulsionen , oder wenn die Sinnlichkeit sich ihrem natürlichen Ende nähert, als Symptom des Marasmus. Ist aber die Sinn- lichkeit gänzlich unterdrückt und der Kranke schläft uu- erwecklieh, so nennen wir diesen Zustand carus, den Tod- tenschlaf, und können erwarten, dass dem Erlöschen der Sinnlichkeit auch bald das Aufhörcn des Athmens folgen w erde , da beim Hirntode gew öhnlich das Leben des ver- längerten Marks noch etwas länger fortdauert, als das Le- ben des übrigen Hirns. Indessen kommt doch bei Hirn- erschütterungen , Kopfwunden, dem Zustande, welcher der Asphyxie folgt, nach schweren Convulsionen, vor, dass selbst dieser carus nur vorübergehend ict und die Sinn- lichkeit endlich wieder erwacht.

123.

Die Behandlung des lethargischen Zustandes ist nicht immer leicht und nie entscheidet das Urtheil des Arztes schneller über Leben und Tod, als hier* wo es doch gar nicht von deutlichen Zeichen geleitet wird. Denn meint er, daas Uebermaas des Blutreizcs den lethargischen Zu- stand veranlasse , während er doch nur durch Erschöpfung

149

der Sinnlichkeit entsteht, so wird er Blutlässen unterneh- men, die den Kranken unfehlbar ^tödten müssen, da es bei seiner erschöpften Sinnlichkeit nur einer geringen Kraftverminderung bedarf, um ihn vollends umzubringen. Glaubt er im Gegentheil, die Sinnlichkeit sei erschöpft, wo doch wirklich allein die Gewalt des Blutreizeg sie un- terdrückt hat, so wird er reizend verfahren und ein ganz kleines plus der Reizung reicht hin, um dem Leben ein Ende zu machen. Der Kranke liegt betäubt vor ihm, und es ist ihm nicht anzusehen, welcher von beiden Zustän- den statt finde. Der Puls kann gewaltig täuschen ; er pflegt in beiden Fällen langsam, gross, voll zu sein, ja er ist nach Erschöpfung der Sinnlichkeit manchmal grösser, voller und besonders schneller, als nach grosser Blutüber- füllung. Wärme des Kopfs, Röthe des Gesichts kann eben- falls täuschen, weniger die Pupille; die ist nach Erschö- pfung der Sinnlichkeit immer zusammengezogen , nach Blutüberfüllung immer erweitert. Aber sie ist auch das einzige Zeichen, auf welches man sich einigermaassen verlassen kann : alles andere, was das ärztliche Urtheil bestimmen muss, liegt in der Anainnestik, in der Kennt- niss der Individualität oder der vorausgegangenen Um- stände. Wissen wir , dass der Kranke öfteren epileptischen oder andern convulsiven Anfällen ausgesetzt war ; erfahren wir, dass auch diesmal einer vorausgegangen ist, sehen wir dabei die Pupille verengt, so ist gewiss, dass wir rei- zend verfahren müssen. Wir legen Senfteige auf den Nacken, an die Waden, tröpfeln kaltes Wasser auf Ge- sicht, Brust, auf die Herzgrube, begiessen den Kopf selbst mit recht eiskaltem Wasser, halten dem Kranken Ammo- nium unter die Nase , reizen die Geschmacknerven durch Cajeputöl oder dergleichen, und wenden Frictioneu an. Erholt er sich endlich, so wenden wir ätherische Arzaeien an, ihn wieder ins volle Bewusstsein zu wecken. Auch die durch Marasmus entstehende Lethargie, bei welcher kein Irrthum möglich ist, da die allgemeine Lebensabnnhme

»ich durch «Ile mögliche Zeichen schon längere Zeit deut- lich ausspricht, ehe es bis zur Lethargie kommt, indicirt eine reizende, nährende Behandlung, obwohl auch sie nicht weit führen kann, da das natürliche Lebensende ganz in der Nähe ist. Wenn aber der Kranke nach einem Fall, einem Schlag auf den Kopf, nach einer starken Mahlzeit, nach Weinrausch, lethargisch worden ist, müssen wir schleunig ein Aderlass vornehmen, den Kopf aber nicht pausenweis mit kaltem Wasser hegiesien, sondern anhal- tend mit einem eiskalten, nassen Tuche belegen und dies oft erneuern, alle reizende Nebenmittel aber weglassen, nicht aber zugleich Blutlassen und Senfteige legen, wie die Aerzte leider, in Widerspruch mit sich selber, nicht selten thun.

124.

Der lethargische Zustand ist nahe verwandt mit dem der Syncope, der Ohnmacht . So nennen wir das bewust- lose Zusammenfallen des Kranken bei fortdauerndem Ath- men: die Sinnlichkeit ist, bis auf das Athemholen , voll- ständig unterbrochen. Es geht ihr allemal Schwindel vor- aus, dessen höchster Grad sie ist, daher auch die Ursa- chen des Schwindels und der Ohnmacht gänzlich dieselben sind. Mebrentheiis endet sich Ohnmacht mit Erbrechen. Schwache epileptische Paroxysmeh erscheinen als bloss« Ohnmächten. Starke Aufregungen der Sinnlichkeit, die entweder höchst widerwärtig sind, oder höchst angenehm, bringen «ach kurzem Schwindel Ohnmächten hervor; die Extreme berühren sich in der sensiblen Welt, wie in allen Wirkungen auf das Lebendige. Blutverlust bewirkt oft Ohnmacht, wenn er euch ganz gering ist, besonders folgt sie nach oft geringen Aderlässen beim Schliessen der blu- tenden Vene, weil dann das Blut auf einmal das Einströ- men ins Herz unterbricht. Man hat Beispiele von Ohn- mächten, die urplötzlich, ohne allen Schwindel, durch ei- nen grosse Leidenschaft anregenden Eindruck erfolgten;

151

in diesem Falle muss Lähmung der Herznerven ihre nach« ste Ursache sein. Ansteckende Fieber beginnen zuweilen mit Ohnmächten und werden dann sehr gefährlich; dies« ist nämlich ebenfalls nur möglich, wenn der Heiz des Fie- bercontagiums auf die Brustganglien, welche die Herzbe- wegung leiten, so gewaltig ist, dass er sie lähmt. Eben so fallen Wechselfieber , die statt des Frosts mit Ohnmacht beginnen, selten anders als tödtlich aus, wenn sie nicht zeitig genug gebändigt werden; der Grund ist ganz der- selbe. Die nächste Ursache der Ohnmacht kann also, wie aus diesen Beobachtungen klar ist, eben so gut im Her- zen, als im Gehirn liegen. Selten ist sie etwas anderes, als eine symptomatische Erscheinung, daher auch keine andere Therapie derselben aufzustellen , als in so fern sie das Erwecken aus der Ohnmacht zum Zweck hat. Man befreit den Ohnmächtigen zuerst vom Druck der Kleidung? starkes Schnüren der Frauen reicht allein hin, Ohnmäch- ten zu veranlassen. Dann bringt man ihn in bequeme La- ge, spritzt ihm kaltes Wasser auf Gesicht und Brust und frottirt die Herzgrube oder die Fusssohlen. Scharfe Ge- rüche werden gleichfalls benutzt. Natürlich muss man, falls die Ursache der Ohnmacht fort besteht, vor allen Dingen diese entfernen , als z. B. wenn Blutungen sie her- beiführen , diese stillen , wenn schädliche Gasarten sio er- regt haben, den Kranken in reine, kalte Luft bringen, wenn leidenschaftliche Anblicke daran Schuld sind, entfer- nen, was ihn beim Erwachen daran erinnern könnte.

125.

Unterbrechung der Sinnlichkeit mit gleichzeitiger Un- terbrechung des Athemholens heisst Asphyxie. Man be- hauptet zwar, es sei möglich, dass das Atliemholen aufge- hoben sein könne mit Fortdauer des Bewusstseins, so dass der Sclieintodte gehört und gesehen habe, was um ihn her vorgehe, ohne jedoch das geringste Lebenszeichen von sich geben zu können, allein es ist sehr wahrscheinlich, dass

152

dergleichen Erzählungen erfunden *ind, um einen recht grässlichen Zustand zu beschreiben , aber nie wirklich statt gefunden haben. Die Sensibilität ist auf das plastische Leben als auf seine Basis begründet ; wir sehen sie von diesem so abhängig, dass jede Veränderung der Plastik sie völlig modificirt: sollte es möglich sein, dass sie fortbe- stände , wenn alle plastische Thätigkeit unterbrochen ist? Die Menge des ins Hirn strömenden Bluts, die ganze Ge- schichte des sensiblen Lebens, beweisst, dass gerade durch die Verwandlung des Blutes in Gehirn Vorstellung ent- steht, dass sie nur möglich wird durch Umwandlung eines Theils dieses Bluts in Licht und Wärme ; soll sie statt fin- den können , wenn kein Blut ins Gehirn einströmt und nichts zu verwandeln da ist? Nur sehr glaubwürdige Er- fahrung könnte ein aller Wahrscheinlichkeit so gänzlich widerstrebendes Factum darthun , und diese fehlt : dagegen haben wir tausendfältige Erfahrungen von Asphyktischen, die ins Leben zurückgerufen wurden, aber während der Asphyxie völlig bewusstlos waren. Die Hindernisse des Athmens sind entweder chemisch , oder mechanisch , oder sie beruhen auf Krankheit der Sensibilität selbst, woraus drei Arten der Asphyxie entstehen : eine vierte, besondere bildet die Asphyxie der Neugebornen, die noch nie ge- atlimet haben und nicht gleich nach der Geburt damit an- fa ugen. Die Gefahr des asphyktischen Zustandes ist die dringendste, die sich denken lässt; wird er nicht schleu- nig gehoben, so hört das Leben durch Unterbrechung sei- ner Hauptbedingung völlig auf. Bei chemischen Hinder- nissen, wie bei mechanischen, ist natürlich deren gänzliche Beseitigung die erste Bedingung, ohne welche das Leben nicht zurückgerufen werden kann : ist der Scheintodte in imathembarer Luft erstickt, so muss er in reine gebracht werden, im Wasser, so muss man ihn ins Trockne brin- gen; ist er erdrosselt, so muss man den Hals frei machen, das bedarf keiner Erinnerung. Eben so wenig wird man hier einen vollständigen Unterricht über die Wiederbele-

153

bung der Scheintodten erwarten ; dergleichen ertheilt jede Noth- und Iliilfstabelle. Allein wichtig scheint mir die Erinnerung, dass nicht alle Mittel überall passen, nament- lich, dass Blutlässen nur angexeigt sind, wo das Hinder- nis* des Athmens ein mechanisches war, aber beim Ersti- cken in irrespirablen Gasarten schnell den letzten Rest des Lebens vertilgen. Ferner hat man übersehen, dass der Nacken die Stelle ist, die man bei jedem Scheintodten zunächst in Anspruch nehmen muss, denn hier liegt da« verlängerte Mark am nächsten, das die Nerven beherrscht, welche das Athmen möglich machen. Bei Starrkrampf der Respirationsmuskeln muss vollends jeder Versuch, Blut auszuieeren, gänzlich vermieden werden; der Blitz erregt ihn und hier hat man das Eingraben in frische Erde am nützlichsten gefunden ; sind Convulsionen vorausgegangen, so muss man auch durch warme Fomentation , warme Senfteige in den Nacken, das Spiel der Respirationsmus- keln wieder herzustellen suchen. Lufteinblasen ist eine schwierige Operation ; die Luft gelangt nur schwer durch die Stimmritze und der Athem eines andern Menschen ist nicht reine atmosphärische Luft ; man könnte dadurch

I leichter Lebendige ersticken, als Scheintodte beleben. Kann man also nicht reine Luft durch einen jülasbalg einblasen, so lasse man es lieber sein.

126.

1,7«.. u u uös d m . . > ,iMn.

Hemmung und Verminderung der Sinnlichkeit ohne

deren partielle oder totale Unterbrechung kann entstehen a) durch Verminderung der plastischen Kraft über- haupt. Diese ist entweder temporär, wie bei Fieberkrank- heiten, bei allen langwierigen Krankheiten, oder durch die Einwirkung von Kälte, Hunger, Entbehrung des Schlafs, oder sie ist bleibend, wie beim Marasmus, wie am Ende hektischer Krankheiten. Es ist eher zu bewundern, dass manche Abzehrungen, namentlich die knotige Lungensucht und alle krebshafte Krankheiten, zu deren Familie diese

gehört, die Sensibilität nicht hoch fteit mehr schwächen, als man' dies sieht.

b) Durch Vermehrung des Blutreizes auf das Gehirn, wie bei habituellen Congestionen , wie in dem Zustande, welcher der Apoplexie vorausgeht.

c) Durch Verletzung der Integrität des Gehirns, dai entweder erschüttert, oder verwundet, oder durch Erguss einer Flüssigkeit in die Schädelhöhle in seiner Thätigkeit gehindert wird.

d) Durch directe Erschöpfung der Sinnlichkeit, nach Convulsionen , nach grossen Leidenschaften , nach tumul- tuarischen Ereignissen und Erschütterungen des Geraüths.

In allen diesen Fällen äussert sich die Sinnlichkeit stumpf und unter ihrem vorigen, gewohnten Grade. Die ärztliche Behandlung muss sich überall nach den Ursachen richten; sehr oft genügt es, dem Gehirn blos Zeit zu las- sen und Ruhe zu schaffen. Es bedarf keiner Erinnerung, dass sich hier keine therapeutischen Vorschriften geben lassen , die auf alle Fälle passen.

127.

Den Verminderungen der Sinnlichkeit steht deren Exaltation gegenüber. Diese ist entweder fortdauernd oder habituell , oder nur vorübergehend ; entweder erstreckt sie sich auf die gesammte Sinnlichkeit, oder nur auf einzelne Sinne, Hiernach entwickeln sich ganz verschiedene Krank- heitsformen, die wohl zuweilen in einander übergehen, aber doch wesentlich verschieden bleiben. Exaltation, die

t

eine Wirkung starker Eindrücke und mit diesen in Ver- hältniss ist, kann nicht als krankhaft angesehen werden. Habituelle Exaltation ist oft Folge einer übelgerichteten Erziehung und Gewöhnung: man will den Geist auf Kosten des Körpers bilden und bewirkt nichts als Schwächung der plastischen Kraft, mit gleichzeitiger kränkelnd erhöhter Erregbarkeit der sinnlichen Empfindungen, woraus alle nur mögliche psychische Fehler , sittliche Vergehungen ,

Heftigkeit der Leidenschaften , zugleich mit Schwäche des Charakters, Eigensinn und dennnoch Mangel an kräftigen

Entschlüssen die Folge ist. In der Diätetik zur Verhütung

,

▼on Nervenkrankheiten ist davon schon die Rede gewesen. Je mehr sich die Nationen verfeinern, je mehr sie auf dem Wege der Civilisation vorschreiten , desto mehr wird diese erhöhte Sinnlichkeit allgemein und führt sie zu ihrem Fall, wenn nicht der Geist der Gesetze ihn aufhält. Die die Verfassungen des Mittelalters in unserer Zeit aufrecht halten wollen, verstehen weder ihren eigenen Vortheil, noch das Bedürfnis« der Völker.

Krankheiten können sehr leicht Exaltation der Sinn- lichkeit als Symptom erregen, wie sie selbst Folge der habituellen sein können. Namentlich gilt dies von convul- siven Krankheiten und besonders von solchen, in welchen einzelne Theile des Gangliensystems anhaltend in wider- natürlicher Thätigkeit sind, also von manchen Fiebern. Doch öfter bemerken wir noch Exaltation einzelner Sinne als Krankheitssymptom. Rührt diese von gereiztem Zu- stande der Sinnenorgane her, so ist sie nicht Gegenstand dieser Betrachtung ; natürlich muss durch Entzündung der Sinnorgane auch deren Reizbarkeit sehr erhöht werden ; manche Arten derselben zeichnen sich hierin besonders

Iaus, z. B. die skrofulöse Augenentzündung ist immer mit einem zu ihrer Stärke unverhältnissmässigen Grade von Lichtscheue verbunden. Allein die erhöhte Empfindlich- keit kann auch ihren Grund blos im Gehirn und nicht im

I Sinnenorgan haben. Ist der innere Sinn widernatürlich reizbar , so wird uns oft sehr schwer zu entscheiden , ob davon der Grund im Gehirn oder ob er im Ganglion und der Verbreitungsfläche seiner Nerven liege.

.

128.

4

Gleichwohl ist die Erhöhung der Sensibilität des Gan- gliensystems Ursache einer der gemeinsten, merkwürdig- sten und vielgestaltigsten Krankheiten, die nicht selten ,

156

wenigstens* vorübergehend, Erhöhung der gesammten Sinn- lichkeit zur Folge hat, nämlich der Hysterie und Hypo- chondrie, deren Wesen darin besteht, dass der sechste Sinn bald theilweis, bald ganz, einen ganz anderen Zu- stand der plastischen Thätigkeiten des Körpers ins Gehirn reflectirt, als der wirklich vorhanden ist. Ob daran die Schuld an den Ganglien liege, oder im Gehirn, ist nicht mit Gewiss- heit zu ermitteln; erwägen wir aber, dass selten Ein Gan- glion allein leidet, sondern gewöhnlich abwechselnd eins nach dem andern, dass sich mit dem hysterischen und hypochondrischen Zustand eine Menge anderer, oft sehr grosser Nervenkrankheiten verbinden, dass die äusseren Sinne nicht selten an der erhöhten Reizbarkeit Theil neh- men, dass die Krankheit auf die Bewegungsorgane , auf den Willen, auf die Vorstellungen aller Art, auf die sämmt- lichen Aeusserungen der Sensibilität also, den grössten Einfluss hat, so haben wir den stärksten Grund, diese Krankheit als nicht in Organen , sondern allein im Gehirn begründet zu erklären* Auf der andern Seite geht oft die Krankheit offenbar von einem einzelnen Organensystem aus, verändert sich gleichzeitig mit allen Veränderungen desselben und nöthigt daher zu dem Urtheil, dass das Ge- hirn nur secundären Antheil an ihrer Entstehung habe. Beides kann wechselsweis statt finden. Das Gangliensystem ist übrigens nicht blos erhöht, sondern zugleich alienirt thätig; die Empfindungen, die es reflectirt, sind falsche Empfindungen.

129.

Sehr merkwürdig ist der Einfluss des Geschlechts auf diese Krankheit, mindestens auf ihre Symptome. Nicht nur, dass sie bei Frauen viel häufiger vorkommt, als bei Männern, hat sie auch ganz andere Erscheinungen und complicirt sich anders. Frauen leiden fast immer an Zu- sammenschnürungen im Speisecanal: selten fehlt sie bei ihnen im Schlunde, woher der nodus oder globulua hyate-

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ricui fast charakteristisches Symptom ist. Aber in allen Theilen des Darmcanals kann die Zusammenschnürung Vor- kommen , daher das oft urplötzlich eintretende Aufschwel- len und Anspannen des Unterleibs, das eben so schnell wieder zusammenfällt, als es entstanden ist. Bei Männern findet diese Contraction der Quer- oder Circularfiebern der Hohlmuskeln fast niemals statt. Dagegen essen und

I trinken die Frauen trotz aller Hysterie gewöhnlich recht mit Appetit ; hypochondrische Männer aber klagen ewig über Mangel an Esslust, über Verdauungsbeschwerden, sau- res Aufstossen, widrige Eructationen ; sie leiden oft an Durchfall; Frauen sind fast immer verstopft. Sehr leicht entstehen bei hysterischen Frauen Convulsionen , aber aus- ser seltsam abwechselnden , heftigen Launen bemerkt man selten bei ihnen irre Vorstellungen und wenn sie Vorkom- men, sind sie sicher mit convulsiven Bewegungen verbun- den, wie beim Lachkrampf, beim Weinkrampf: bei Hypo- chondristen bemerkt man fast nie Convulsionen, wohl aber atisser der allerunverträglichsten Laune wahrhaft verrückte

Vorstellungen, die nie mit Anomalien des Muskelbewegung

'

; gepaart sind.

130.

Dass der Geschlechtstrieb an der Entstehung dieser Krankheit wesentlichen Antheil habe, scheint daraus her- vorzugehen, dass Kinder vor der Pubertät nie daran lei-

Iden, dass aber bei Frauenzimmern zuweilen dieselbe sich gleichzeitig mit der Menstruation einstellt, wenn diese mit Beschwerden eintritt. Indessen kommen nicht nur Hypo- chondristen vor , bei denen offenbar ganz andere Ursachen der Krankheit zum Grunde liegen, als unterdrückter, oder unregelmässig befriedigter Geschlechtstrieb, sondern auch bei Frauen finden wir die wichtigsten Krankheiten, selbst Zerstörungen de* Geschlechtssystems ohne alle Hysterie, und wir sehen diese zuweilen im späten Alter fortdauern, wo alles Geschlechtsleben schon erloschen ist. Frauen,

158

die ohne psychische Anlässe an Hysterie leiden, sind nicht selten, aber hypochondrische Männer, bei denen ich nicht den psychischen Ursprung der Krankheit hätte nachweisen können, sind mir noch nicht Torgekommen. Daher findet man auch die meisten HypocJiondristen unter den gebilde- ten Ständen, obwohl auch Professionisten, ja selbst Land- leute, dieser Krankheit anheimfallen, aber Frauen aus der untersten Volksklasse sind häufig hysterisch. Die viel grössere Wichtigkeit des Gewchlechtssystems für den weib- lichen Körper, im Vergleich mit dem männlichen, und der Zwang, das Streben, die Geschlechtsregungen zu unter- drücken, das dem Weibe seiner ganzen Bestimmung nach viel grösserer Ernst sein musi , als dem Mann , mitunter auch wohl naturwidrige Befriedigung , erklären dies hin- reichend. Aber gewiss trägt das ewige Stillsitzen und die geistlosen Beschäftigungen der Frauen «ehr viel zur Krank- heit bei, weswegen wir, auch unter denen, die körperlich arbeiten, unter den Dienstpiägden , die vielerlei thun und und wenigstens mit einiger Aufmerksamkeit thun müssen, weit weniger hysterische finden, als unter den Näherin- nen, Strickerinnen und Spinnerinnen. Menstruationsfehler sind häufig mit hysterischen Leiden verbunden. In der Schwangerschaft verändern sich wenigstens ihre Symptome, wenn sie nicht ganz aufhören: lange« Stillen und öftere Schwangerschaften, besonders bei sehr jungen Personen, pflegen Hysterie zu veranlassen , oder die schon vorhan- dene zu verschlimmern. Frauen, die an andern Nerven- krankheiten leiden, namentlich an Convultionen , sind fast ohne Aufnahme zugleich hysterisch, Uebergang aus einer thätigen, bewegten Lebensweise zu einer stillsitzenden ist eine fruchtbare Quelle dieser Krankheit. Bildet sich Lun- gensucht aus, so hört gewöhnlich die Hysterie auf.

Der Hypochondrie fallen am leichtesten die Männer

anheim) die eine sitzende Lebensart führen, ohne den

131.

158

; Geist hinreichend zu beschäftigen, oder die sich anstren- gen, um Dinge zu lernen, die ihnen an sich ohne Inte- j resse, wohl gar widrig sind. Kommt dazu, dass ihre Stu- dien sie mit allen höheren Lebensgenüssen bekannt ma- chen, von welchen sie doch Armuth und ein niedriges Verhältnis im Leben ewig fern hält, so tritt diese Ver- stimmung um so gewisser ein. Vornehme Müssiggänger , besonders solche, die alle Genüsse schnell erschöpft und dadurch die Genussfähigkeit verloren haben , sind ebenfalls ihre Beute, desgleichen Menschen, die ewig einerlei thun, deren Beschäftigung keine Abwechselung gewährt und we- der Interesse für sie hat, noch ihnen verstattet, sich Er- holungsstunden zu gönnen. Sie ist daber die Krankheit $der Beamten, die zu ewigem Actenstaub verdammt sind, der Schreiber , der Theologen , bei denen alle oben ange- .gebene Ursachen zusammen wirken; unter den Aerzten .giebt es wenig Hypochondristen, zumal unter den beschäf- tigten. Soldaten, Jäger, Landwirthe, Professionisten, die

Iviel Abwechselung bei ihrer Arbeit haben und auf sie auf- merksam sein müssen, werden fast nie hypochondrisch. Aber Schneider, Schuster und besonders Weber, die den , üganzen Tag einerlei thun, ohne dass sie darauf, als auf eine ganz mechanische, den Händen geläufige Arbeit ach- , ten, sind es häufig.

1 132.

Die Hysterie beginnt gewöhnlich mit einer zusammen- schnürenden Empfindung im Schlunde, die jedoch die De- f glutition nur erschwert, nicht hindert; oft ist der Leib in hohem Grad aufgetrieben , doch fällt er auch wieder plötz- lich zusammen. Der Stuhl ist verstopft, die Faeces trocken. Bald stellt sich Heisshunger ein, der jedoch mit ^wenigen Bissen gestillt wird, bald Ekel, wohl gar Erbre- chen ; gleich nach dem Erbrechen essen die Kranken wie- der mit dem besten Appetit. Sie haben zuweilen urplötz- lich Kopfschmerzen; weiss man sie in ein interessantes

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Gespräch zu verwickeln oder sonst für etwas zu interessi- ren, so vergessen sie den Kopfschmerz. Sie trinken sehr wenig, dies wenige ohne Durst. Die Menstruation ist un- ordentlich, tritt mit Schmerzen ein, ist sehr sparsam, oder auch wohl profus und kommt in kurzen Fristen wie- der; dabei haben sie weissen Fluss in den kurzen Zwi- schenzeiten. Sie klagen über Kälte, haben eiskalte Füsse, trockene Haut, aber mit einem Male werden sie heiss, klagen über Mangel an Athem und Spannung über die Brust. Dabei sind sie höchst veränderlicher, doch fast immer übler Laune ; die Empfindlichkeit aller Sinne ist erhöht; jeder etwas grelle Ton beleidigt sie; Anblick eines jedem gesunden unbedeutenden Ereignisses setzt sie in Ek- stase; höchste Lustigkeit wechselt ohne allen äusseren An- lass mit Trauer ab; alle Leidenschaften, Liebe, Hass, äus- sern sich mit stürmischem Ungestüm und wechseln im Augenblick ; Kleinigkeiten bringen sie zum höchsten Aer- ger und bei wichtigen, erschütternden Anlässen bleiben sie gleichgültig. Von Zeit zu Zeit steigt die Angst, die Beklemmung des Athems so hoch, dass plötzlich Zuckun- gen eintreten , mit oder ohne Bewusstsein ; die Glieder werden dabei steif und sind kalt. Irgend ein ungewöhn- licher Sinneneindruck ruft auch wohl plötzlich Zuckungen hervor. Mitten unter denselben fangen sie zuweilen an, *aut zu lachen und lachen so Stundenlang fort, wobei sie nichts als lächerliche Dinge denken ; oder sie weinen eben- so Stundenlang mit grosser Heftigkeit und lauter traurige Bilder beschäftigen das Gemüth. Der Schlaf ist unruhig; sind sie aber einmal fest eingeschlafen, so dauert er oft viel länger fort, als bei Gesunden. Zu diesen Häupter- scheinungen gesellen sich oft eine Menge anderer Sympto- me der allerverschiedensten Art, deren Beschreibung un- möglich ist, da sie alle Augenblicke wechseln und jedes System des Körpers befallen können.

t

«

133.

Hypochonclrislen beginnen gewöhnlich damit, dass lic ängstliche Beobachter ihrer Gesundheit sind und schon dies führt sie darauf, sich selbst zu überreden, dass ihnen allerlei fehle , wogegen sie sehr begierig Arzneien brau- chen, über deren Unwirksamkeit sie klagen. Wohl ihnen, wenn sie wirklich unwirksame Arzneien bekommen ! sie sollten alle nach Hahnemanns Methode behandelt werden. Sie klagen am häufigsten über Verdauungsbeschwerden , bei steigender Krankheit nicht immer ohne Grund , wie- wohl man sich nie auf ihre Angaben verlassen darf. Di- arrhöen und Stuhlverstopfung wechseln bei ihnen ab. Nach und nach wird ihre Laune immer finsterer; sie hindert sie sehr ira Arbeiten , raubt ihnen alle Kraft des Entschlus- ses, macht aber von Zeit zu Zeit einer Lustigkeit Platz, deren man sie gar nicht fähig halten sollte. Egoisten ira höchsten Grade sind sie misstrauisch gegen alles und ver- lieren am Ende auch zu sich selbst alles Zutrauen- Am meisten quält sie stete Flotulenz und sie geben 6ich die grösste Mühe, Eructationen des Magens recht schallend zu entwickeln, versichernd, dass sie das gar nicht verhüten können. Entweder führt sie der Egoismus selbst zum Le- bensüberdruss oder das Misstrauen zu den lieb- und grund- losesten Beschuldigungen gegen andere, die sie so viel möglich peinigen. Besonders ihre Aerzte sind übel daran ; sie citiren sie alle Augenblicke , um sie mit Vorwürfen zu überhäufen, kritisiren alle Arzneien, widerapreahen allem, trauen sich grosse medicinische Einsicht zu und dringen auf Erklärungen , die sie nie befriedigen. Selbstquäler im höchsten Grade , doch von ihrer grossen Ucberlegenheit über alle andere Menschen durchdrungen verfallen sie ira- mer tiefer in seltsame Grillen aller Art, die nicht •clteu in wahren Wahnsinn übergehen.

102

134.

Di« Krankheit hat keinen Verlauf ; sie kann sogleich mit der grössten Heftigkeit beginnen und erlangt nie in bestimmter Erscheinungsreihe ihre Entwicklung, hat auch keinen bestimmten Ausgang, noch weniger bestimmte Grän- zen ihrer Dauer; sie kann das ganze Leben durch anhal- ten, lange Fristen durch sich vermindern oder ganz auf- gehoben erscheinen und plötzlich mit neuer Stärke ausbre- chen. Doch bei den Frauen haben die Menstruations-, Schwangerschafts- und Säugungsperioden grossen Einfluss auf ihre Erscheinungen : die ersten vermehren ihre Hef- tigkeit, besonders die Perioden des Aufhörens der Men- struation ; Schwangerschaft und Säugen vermindern sie mehrentheils. Sie compliciren sich bei ihnen leicht mit wahren Convulsionen , mit scheinbaren chronischen Brust- leiden; bricht ein wahres aus, so vermindert es die hyste- rischen Erscheinungen oder hebt sie gänzlich. Es ist ein ieltsamcr Anblick, Frauen zu sehen, die sich jederzeit kindisch vor dein Tode fürchteten, wenn sie ein wenig Kopfschmerz hatten oder nicht zu Stuhle geheu konnten, und nun bei Bluthusten, Auswurf und hektischem Fieber, aufs äusserste abgezehrt, die feste Ueberzeugung haben, dass ihre Krankheit sehr unbedeutend, eine blosse Folge der Arznei sei, die man sie ohne Noth zu nehmen zwinge und gewiss auf eine Reise, die sie nächstens machen wol- len , sich verlieren werde. Im späten Alter hören die hy- sterischen Beschwerden wohl nicht ganz auf, vermindern sich aber oder nehmen einen andern Charakter an, der sich mehr der Hypochondrie nähert. Schon in der Mitte des Lehens entwickeln sich leicht Hämorrhoidalbeschwer- den. Bei Männern fehlen diese selten ; auch Gicht und Steinbeschwerden gesellen sich gern zur Hypochondrie. Beiden Geschlechtern ist eine Beredtssmkeit ohne Ende eigen, mit der sie ihre Leiden schildern, zu welchen sie Erdichtungen mischen , die sie selbst vergessen , so dass

163

man sie, wenn man ein wenig geschickt im Fragen ist* sehr leicht dahin bringen kann, dass sie ihre ersten Kla- gen im Verlauf des Vortrags alle selbst widerlegen.

134.

Die therapeutische Behandlung hat selten glücklichen' Erfolg, ohne Zweifel, weil sie meistens viel zu sympto- matisch geführt wird , und weil die Ursachen der Krank - heit in der Lebensweise liegen, deren Aenderung oft us- möglich ist, wenigstens ausserhalb der Wirkung des Arztes stellt. Bei Frauen ist der ehelose Stand oder eine un- glückliche Ehe, oder die Gewohnheit, nichts zu thun, oder die Dürftigkeit, die zum ängstlichen Fortsetzen mechani- scher Arbeiten nöthigt, die den Geist völlig unbeschäftigt lassen, in der Regel Schuld; wie kann der Arzt das än- dern? Wenn sich nicht das Schicksal der armen Kranken annimmt und sie in ganz andere Verhältnisse bringt, blei- ben sie gewiss ungeheilt. Wie kann man einen hypochon-

Idrischen Mann heilen, den sein Geschäft, wovon er mit den seinigen leben muss, krank macht, oder einen über- sättigten Wollüstling, den der Ekel an allem ergriffen hat und der zu reich und zu wenig Meister seiner selbst, wohl auch zu dürftigem inneren Iiülfsquellen ist, um sich be- schäftigen zu können? Man ist also mehrentheiis gezwun- gen zu Palliativmitteln und richtet sich in der Wrahl der- i selben nach den hervorstehenden Symptomen, immer mit i der Rücksicht, dass man die kranke Reizbarkeit der Lei i denden nicht noch mehr überreizen dürfe, dass mau mit I Menschen zu thun hat, die den Gebrauch aller Arzneien : leicht übertreiben und dass das Zutrauen , welches der I Arzt einflösst, wenigstens eben so viel, wirke, als die Mif- i tel selbst. Man hüte sich besonders, di« Kraft des plasti- schen Lebens zu vermindern, denn nichts steigert die Reiz- fl barkeit höher, als die Schwächung dieser. Unter den >( radicalen Mitteln stehen Seebäder oben an; noch wirksa- i mer sind Seereisen. Die Seekrankheit, die gänzliche Ver-

11 *

164

änderung der Lebensweise auf dem Schiff, der psychische Eindruck des Gefühls der Abhängigkeit von Wind und Wetter und von der Geschicklichkeit, selbst von der Will- kiihr der Schiffenden, die Angst hei reeller Gefahr, end- lich das ganz neue Leben, das den Reisenden an der Küste erwartet, an der er landet , tragen mehr als alles zur Hei- lung der Hypochondrie bei. Man thut sehr Unrecht, den Kranken bei aller Gelegenheit für einen eingebildeten Tho- ren zu erklären; er fühlt wirklich, was er klagt, so un- richtig sein Gefühl auch sein mag.

136.

Diese Krankheit besteht mehrentheils in Empfindun- gen, die aus dem Gehirn in den Sinn reflectirt werden, statt dass der Sinn blos ins Gehirn refiectiren sollte, aber der innere %inn steht in dieser Rücksicht nicht in dem- selben Verhältnis« zum Gehirn, wie die äusseren Sinne und was bei diesen rein krankhaft ist, das ist es nicht bei ihm. Jjienn das Gehirn reflectirt stets in die Ganglien und erregt dadurch Lust oder Unlust, in allen ihren Graden, von dem schwächsten Unbehagen oder Wohlgefallen bis zur höchsten Leidenschaft. Deshalb ist diese Krankheit mit so grosser Veränderung, mit solchem Ungestüm aller Gelüste und Leidenschaften verbunden; statt eine blosse irrige Sensation zu sein ist sie zugleich Verirrung des Be- gehrens oder Verabscheuens. Die äusseren Sinne aber sind blos bestimmt, ins Gehirn zu refiectiren und nicht vom Gehirn aus angeregt zu werden. Doch geschieht dies zuweilen und constituirt eine eigenthümliche Krankheits- form der Sinnlichkeit. Am häufigsten trifft sie den Ge- hörsinn, doch ist sie auch beim Gesichtsinn nicht ganz selten. Nur zweimal habe ich Gelegenheit gehabt, sic auch beim Geschmack- und Geruchsinn, beidemale bei diesen zugleich, zu beobachten, aber nie beim Grefühlsinn. Der Kranke hört dann entweder, wozu kein äusserer Grund vorhanden ist, oder er sieht dergleichen. Wae er sieht

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oder hört, sind meistens Gegenstände, die seine Empfin- dung heftig ergreifen, zuweilen aber auch ganz gleichgül- tige Dinge, docli sind nie die Visionen gleichgültig, wohl aber zuweilen die Klange und Stimmen. So hörte einer, der in Berlin auf der Strasse ging, sich aus dem dritten Stock eines Hauses bei Namen rufen und einladen , er möge herauf kommen , um mit zu essen : er folgte der Einladung und glaubte sich höchst unwürdig verspottet, als die Bewohner des Quartiers ganz fremde Leute waren, die von nichts wussten. Ein Oflfcier hörte, wie ein Wacht- commando , das eben auf einer Brücke an ihm vorüber- gieng , laut davon sprach, dass er, der Offizier, mit einer Dame sehr vertraut lebe. Ein dritter hörte die Schulkna« ben , wenn sie aus der Schule an seinem Fenster vorbei- giengen, stets einerlei Lied singen, das er auf sich bezog, ohne sich eben darüber zu ärgern oder zu freuen. Dage- gen sah eine Frau stets aus dem Fenster im Garten ihr Kind ermordet in seinem Blute daliegen ; ein anderer sah seine entfernte Geliebte auf der Strasse stehen und ihm winken ; einer sah Gestalten in der Luft, die um ihn her- umfliegend den Beischlaf ausübten, worüber er sich natür- lich unglaublich ärgerte ; noch ein anderer hörte, wie seine 1 vierzig Meilen entfernte Frau verliebte Gespräche mit dem Nachbar pflog u. dgl. Diese Krankheit hat zwei Grade: entweder weiss der Kranke, dass diese Visionen oder Töne, die er allezeit ganz deutlich ausser sich sieht und hört, dennoch irrig sind, oder er weiss dies nicht und ist voll- kommen fest von der Realität ihres äusseren Grundes über- zeugt. Sie ist zuweilen blos symptomatisch , z. B. Fieber- kranke sehen häufig Gestalten um sich her, einen andern Kranken neben sich im Bette liegen, irgend ein Ungeheuer in ihrer Nähe, oder sie knüpfen an die wirklich vorhan- denen Dinge ganz andere Bilder an; ein weisses Handtuch i an der Wand ist eine belebte Gestalt, die Tapetenfiguren verwandeln sich in wunderliche Gestalten; die Fäden des Bettüberzugs treten zu kleinen Gesichtern zusammen und

16ß

dergleichen. So sah Nicolai sein ganzes Zimmer roll frem- der Menschen, als er an einer Hämorrhoidalcongestion litt, und einer nach dem andern ging hinaus, als Blutigel an den After angelegt wurden, die ihn befreiten. Bei andern ist das Ucbcl idiopathisch, ohne Fieber, ohne andere merkbare Krankheit, doch sehr selten ohne gleichzeitige hypochon- drische oder hysterische Leiden. Die Stimmen werden oft nur im Finstern gehört, am Tage nicht: ich habe Kranke in förmlichem Gespräch mit ihren Stimmen beob- achtet, wo ich, wie sich versteht, immer nur ihre Ant- worten hörte, aber aus diesen sehr gut errathcn konnte, was ihnen gesagt worden war. Man pflegt diese Krankheit eine Art des Wahnsinns zu nennen ; wirklich macht sie den Menschen eben so unbrauchbar, als dieser und be- steht allerdings in Wahn, der den Kranken zu eben so extravaganten Handlungen treibt, als den Wahnsinnigen sein frrfchum; doch ist sie wesentlich dadurch verschieden, dass sie allein in der Sinnlichkeit begründet ist.

NB. Die meisten Geisterseher und Wunderthäter wa- ren solche Kranke, wenn sie nicht geradezu Betrüger wa- ren. Tasso hörte Stimmen ; Schwedenborg sah Gestalten. Da* second night der Hochländer ist nichts als die Aeusse- rung dieser Krankheit, wofern es nicht Werk der List und Speculation ist

137.

Man hat gesagt, diese Krankheit sei nichts anders, als ein waches Träumen , denn im Traum widerfahre uns dasselbe ; wir sehen und hören als äusserlich die Bilder unserer eigenen Schöpfung. Allein es ist nicht richtig. Im Traume verfahren wir nach dem Erinnerungs- und Combinationsgesetz , oft sehr desultorisch und seltsam , al- lein die äussere Sinnlichkeit hat damit 60 wenig zu thun, als damit, wenn wir uns die Gestalt, Farbe eines Dinges die Töne einer Melodie denken. Die Gestalten und Töne nehmtn nur eine heilere, stärkere Farbe an, wenn wir sie

ißt

um als Erinnerungen denken, ohne dabei durch die äui- sere Sinnlichkeit gestört zu werden; während diese wirkt, sind die Gedankenbilder blässer. Darum täuschen wir uns und glauben, sie ausser uns zu sehen. Wer sich etwa* recht lebhaft denken will, schliesst die Augen oder begiebt sich ins dunkle; wer eine Melodie denken will, sucht Stille auf; im Traum sind unsere Gedankenbilder deutli- cher, weil die von aussen erregten nicht neben ihnen ste- hen. Aber in der genannten Krankheit geschieht etwas ganz anderes : während das Auge sieht , erscheinen ihm äussere Gestalten, während das Ohr hört, vernimmt es Töne, die aus dem Inneren kommen. Dies wäre unmög- lich, wenn sich nicht die polarische Richtung aus dem Sinn ins Gehirn mit einemmal verkehrte und aus dem Ge- hirn in den Sinn wirkte. Diese Verkehrung der Polarität ist das Wesen, die nächste Ursache der Krankheit. Was veranlasst diese? Diese Verkehrung der Polarität ist nur momentan und macht der normalen Richtung sogleich wie- der Platz : w ährend der Vision sehen sie nur diese ; ist sie vorbei, sehen sie alles wie sonst. Beim Falschhören ist das anders ; der Kranke hört neben seinen Stimmen alles andere richtig, ein sehr schwer begreiflicher Um- stand. Zuweilen ist die Antwort darauf leicht, wenn wir nämlich als Symptom von Fiebern, oder, wie bei Nicolai, von Blutcongestionen das Uebel entstehen sehen. Aber es zeigt aich auch ohne dergleichen, doch wie schon erwähnt, sehr selten ohne anderweite deutliche hypochondrische oder hysterische Erscheinungen. Wenn aber Hypochondrie wesentlich daraus besteht, das* aus dem Gehirn Reflexio- nen nach den Ganglien erfolgen, zu welchen aller äusserer Anlass fehlt und die deshalb ganz irrige Gefühle im Kör- per, besonders aber eine unrichtige Vorstellung von des- sen Zustand im Gemüth erregen, nicht ohne gleichzeitige heftige Lust oder Unlust, so dürfte nur diese verkehrte Richtung des Vorstellena sich vom Gangliensystem nach dem der äusseren Sinne fortpflanzen, um sofort diese

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Krankheit au erregen. Auch bei Fiebern und Congestionen ist das Gangliensystem theilweis krank , aber mehr deutero- patisch ; bei der Hypochondrie leidet es idiopatisch. Er- regt in jenem Fall dieser kranke Zustand die Umkehrung der Polarität des Sinnes, warum nicht auch in diesem?

138.

Wie richtig diese Ansicht der Ursache des Uebels sei, beweist die einzig passende Heilart desselben : jede starke Erregung der Thätigkeit eines Ganglions hebt es sogleich auf. Brechmittel, droitische Purganzen, Belladonna, Digi- talis, bis zur Narkose genommen, anhaltender Ekel, zu- fällige Aufregung des Geschlechtstriebs oder einer andern Leidenschaft entfernen diese Stimmen, diese Bilder, alle gleich sicher. Verfällt der Kranke, der im apyrektischen Zustande Stimmen hört, in Fieber, so hört er keine Stim- men , so lange dies dauert. Er hört sie nur im Zustande der Ruhe, wenn er dazu Zeit hat, wenn nicht ein leiden- schaftliches Aufregen anderer Art, eine körperliche Em- pfindung ihn beschäftigt. Das ist 60 wahr, dass ich einen solchen Stimmenhörer blos dadurch auf ein Weilchen von ihnen befreite, dass ich ihn viel trinken liess, aber hin- derte, das Zimmer zu verlassen; so wie das Bedürfniss zu uriniren eintrat, waren die Stimmen weg und blieben weg, je länger ich ihn absichtlich dabei anhielt. Freilich be- gründet dies Aufregen von Ganglienempfindungen keine Heilung, sondern nur temporäre Unterdrückung, aber es zeigt den Weg zur gründlichen Heilung. Es ist auffallend, dass diese viel leichter bei denen gelingt, die Gestalten sehen, als bei denen, die Stimmen hören; der Grund da- von muss durchaus in der Localität des Centrums beider Sinne im Gehirn liegen. Man muss Mittel anwenden, die das Gangliensystem tief angreifen und anhaltend in einer angeregten Stimmung erhalten , allein diese dürfen nicht schwächender Art sein. So wirkt zwar die Ekelcur durch Brechweinstein Verminderung des Uebels , so lange sie

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fortgesetzt wird , allein es wird hintenher noch schlimmer als zuvor. Besser schickt sich der anhaltende Gebrauch des Goldschwefels , allein auch dieser bleibt oft ohne dau- erhafte Wirkung. Viel mehr richtet man mit Arzneien aus, die bethätigend in die Ganglien des Unterleibs wir- ken, also mit der Chinarinde, der Assafötida , mit narko- tischen Mitteln, mit Tinctura iiicotianae ; diese letzte, in Verbindung mit schwefelsaurem Chinin hat sich unter al- len Arzneien am wirksamsten gezeigt. Damit muss man eine gute nahrhafte Diät, aus Fleisch und Wein, verbin- den, den Kranken viel im Freien beschäftigen und nicht gleich mit der Cur aufhören, wenn er sich besser fühlt, sondern ihn auch nachher längere Zeit dabei festhalten. Zugleich muss man den leidenden Sinn anstrengen ; der Gestalten sieht, muss zeichnen oder malen, der Stimme hört, ein Instrument lernen , auf dem er die Töne künst- lich hervorbringen muss, namentlich Violine, damit er ge- nothigt wird, rein zu greifen, nicht die schon gebildeten Töne blos anzuschlagen braucht , wie auf dem Klavier. Auch ists gut, wenn er Instrumente stimmt oder andere ähnliche Tonübungen vornimmt; je mehr Mühe er sich ge- ben muss , richtig zu hören , desto mehr entwöhnt er das Sinnorgan, in verkehrter Polarität zu wirken. Bäder, i kalte Uebergiessungen , nützen nichts; Widerlegen des fal- [j sehen Hörens schadet.

Cap, XIII. Von der Krankheit der basi« ä sehen Kräfte des VorsteUungsvermügens.

139.

Jedes vorstellende Wesen, das nicht blos empfindet, Sondern die Empfindung bis zum klaren Bewusstsein stei- gert uud durch sie zu Vorstellungsreihen bestimmt wirdj

170

hat dazu drei Wirkungsarten nöthig, die wir uns als drei besondere Kräfte vorstellen wollen, ob sie gleich nur Aus- drücke Einer Kraft sind, doch in ihrer Modalität völlig verschieden, vergl. §.44 , 45 , 46. Es muss fähig sein, durch die Empfindung zu einer eigentümlichen, von jener verschiedenen Hirnthätigkeit bestimmt zu werden. Diese Thätigkeit nennen wir Perceptivität. Ohne sie würde das äussere wohl empfunden , aber nicht unterschieden ; das Vorstellen wäre also unmöglich. Es kann uns wenig daran liegen, das Dasein dieser Fähigkeit bei den niederen Thie- ren zu verfolgen; uns genügt die Ueberzeugung, dass das Denken ohne sie unmöglich wäre, weshalb wir sie die erste und unterste der basischen Kräfte nennen. Es muss zwei- tens auch fähig sein, eine schon gehabte Vorstellung zu reproduciren ; es muss Erinnerungsvermögen haben , wenn nicht jede Vorstellung isolirt bleiben und wenn sie dem vorstellenden Wesen bekannt werden soll. Ob sie mit dem Bewusstsein reproducirt wird, dass sie 6chon früher statt gefunden, oder nicht, ist hier gleichgültig, aber es ent- stehen durch diesen Unterschied zweierlei Reproductions- arten, deren eine wir Gedächtniss nennen, deren zweite wir mit dem Namen Phantasie bezeichnen. Doch beide Kräfte wären noch nicht hinreichend zur Bildung einer Vorstellungsreihe ohne die dritte, ohne die Fähigkeit, die Vorstellungen zu verbinden und aus mehreren eine neue zu bilden ; diese nennen wir Combinationsvermögen. Diese drei Kräfte nennen wir basische , weil sie allem möglichen Vorstellen zum Grunde liegen.

140.

/ , c _ ... viU

Die Sinne regen beständig eine Menge von Empfin- dungen an , besonders der Gesichtsinn , die wir lange nicht ■Ile percipiren. Wir sehen eine Menge von Gegenständen zugleich, aber nur einer und der andere veranlasst wirk- liche Vorstellung. Die Empfindung ist jederzeit gleichzei- tig mit der Berührung des Sinnes, aber die Perception

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kann eine ganze Weile nachher erfolgen; so bemerkt man z. B. einen Vorübergehenden nicht eher, als bis er schon weg ist; hier ist klar, dass die Perception dem Sinnen- eindruck erst nachfolgte. Je besser das Sinnorgan , je ichärfer der Sinn , desto mehr wird uns das percipiren erleichtert, allein es hängt nicht blos vom Sinn ab, son- dern ist eine reine Hirnthätigkeit , die sehr verschiedene Grade hat. Sie kann für gewisse Sinneneindrücke ganz fehlen, z. B. für Töne; wir treffen Menschen genug an, die recht gut hören , auch Klänge percipiren , aber nicht Töne; von solchen sagen wir, dass sie kein musikalisches Gehör haben sie wissen nicht hohe Töne von tiefen zu unterscheiden , am wenigsten Tonintervallen. Wenn wir ermüdet, erkältet, nahrungsbedürftig, schläfrig aind, ist die Perceptivität stumpf; interessiren wir uns lebhaft für etwas, so percipiren wir von allem, was um uns her vor- geht, nichts, als was auf den Gegenstand unserer Auf- merksamkeit Bezug hat ; wir percipiren einseitig.

141.

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Unser Erinnerungsvermögen ist sehr grosser graduel- ler Verschiedenheit fähig, erstens überhaupt, dann für be- sondere Vorstellungen. Allgemeine Schwäche derselben nennen wir Mangel an Gedächtnis«, wohl auch Vergess- lichkeit, besonders wenn sie in hohem Grade statt findet; sie pflegt sich im späteren Alter einzustelien. Wir können das Gedächtniss üben, stärken; man hat sogar aus der Mnemonik eine besondere Kunst gemacht. Erinnerung ohne Bewusstsein, dass wir diese Vorstellung schon früher gehabt, liefert Phantasievorstellungen, aber die Kraft, welche wir Phantasie nennen, beruht nicht blos auf dem Erinnerungs- sondern zugleich auf dem Combinations- verraögen. Jeder Mensch hat für besondere Arten von Vorstellungen bessere Erinnerungskraft, als für andere: wenn Gail viele Arten des Gedächtnisses unterschied, hatte er recht; ob aber auch seine Ortsbestimmungen aller die-

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ser Gedächtnisse richtig waren, ist eine andere Frage. Was wir Talent nennen, bestellt allein in einen vorzügli- chen Erinnerungsfähigkeit für gewisse Arten von Begriffen oder Vorstellungen ; wer z. B. Töne leicht auffasst und merkt, hat Musiktalent; wer Sprachen leicht merkt, hat Sprachtalent. Es kann sogar in Krankheiten die Fähig- keit, gewisse Vorstellungsarten zu merken, ganz verloren gehen, ohne dass das Erinnerungsvermögen im ganzen un- tergeht; Gelähmte liefern hiezu viel merkwürdige Beispiele. Im Alter bleiben die Erinnerungen aus früheren Zeiten oft noch in voller Frische, während die Fähigkeit jsehr schwach ist, das gegenwärtige zu merken ; ein Greis er- zählt oft ein Ereigniss seiner früheren Jahre höchst genau mit allen Nebenumständen, vergisst aber, dass er es eben jetzt schon erzählt hat und wiederholt es sogleich noch einmal,

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Die dritte basische Kraft, ohne welche die beiden vo- rigen von geringem Werthe wären , ist das Combinations - vermögen. Wir nennen die Schw äche desselben Dummheit , besonders wenn sie allgemein ist. Es ist bei keinem Men- schen gleich lebhaft für alle Arten von Vorstellungen ; so treffen wir viele 31enschen an, die eine Menge ausgezeich-

r

neter Talente haben; wenn sie aber rechnen sollen, können sie mit den einfachsten Aufgaben nicht fertig werden. Andere sehr gescheute Leute können kein Spiel begreifen, das zehnmal schwächere Köpfe meisterlich spielen. Zum eminenten Talent in irgend einer Begriffsreihe wird gleich- zeitig Erinnerungs- und Combinationsvermögen erfordert: meistens fehlt das letzte nicht, wo das erste reiches Ma- terial liefert. Die thierischen Instincte beruhen auf Erin- nerungs- und Combinationsvermögen, die sich gleichzeitig auf Mittel zur Befriedigung irgend eines Bedürfnisses rich- ten. Dass es auch Thiere von Talent und Anlage giebt, und andere, denen es fehlt, weiss jeder. Denn die drei

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basischen Kräfte müssen allen Torstellenden Wesen zu- koramen, weil ohne sie das Denken überhaupt nicht mög- lich ist: der Mensch kann in ihnen blos den Vorzug des Grades behaupten, nicht der Kräfte selbst. Warum soll- ten sie die Thiere nicht eben so gut in verschiedenen Graden äussern können, als der Mensch?

143.

Es ist auffallend, dass man gewöhnlich die Schwäche einer der basischen Kräfte allein nicht zu den Krankheiten des Vorstellungsvermögens rechnet, weder die Stumpfheit der Perceptibilität, noch die Vergesslichkeit, noch die Dummheit, obgleich diese Zustände sehr häufig kranken Zustand des Gehirns andeuten. Sind sie habituell , so er- kennt man zwar ein solches Individuum für einfältig, aber es ist nicht Gegenstand der heilenden Kunst. Sind sie vorübergehende Symptome der Apoplexie, vorausgegange» ner Convulsionen, grosser Fieberkrankheiten, so werden sie nach dem Charakter der Hauptkrankheit behandelt. Erhöhtes Wirken einzelner dieser Kräfte dagegen wird nie- mals für krankhaft angesehen. Aber das erhöhte wie das verminderte Wirken aller drei Kräfte zugleich begründet die wichtigsten und häufigsten Krankheiten des Vorstel- lungsvermögens, jenes das Delirium und die Manie, dieses den Blödsinn.

144.

Das Delirium wird häufig verwechselt mit dem coma- tösen Zustand, in welchem der Kranke doch gar nicht un- richtig vorstellt, nur dann blos träumt, viel lebhafter zwar, als man sonst träumt, auch ununterbrochen fort, bis äus- serer Sinnenreiz den Schlummer aufhebt, doch im Wrachen seine Traumbilder als solche erkennt und ganz zusammen- hängend denkt. Wenn aber ein Kranker nicht im Traum, sondern wachend ganz eben so spricht und handelt, wie wir sehen , dass von Manie befallene Menschen sprechen

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und handeln, so nennen wir dies Delirium in eigentlichem Sinn. Doch pflegen wir auch den Zustand des Irreredens so zu nennen, wo der Kranke wie ein Blödsinniger unzu- sammenhängend spricht oder handelt, wenn er im Zu- stand allgemeiner Schwäche sich befindet und dies als delirium mite vom delirium feroi zu unterscheiden. In dem einen Fall entwickeln sich die Vorstellungsreihen zu schnell und gewaltsam , als dass das innere Vorstellungs- gesetz sich auf sie gelten machen könnte ; im zweiten ist zwar die Sinnlichkeit thätig, weckt aber nur höchst un- vollständige Vorstellungsreihen, so dass ebenfalls das in- nere Gesetz aus Mangel an Object sich nicht gelten ma- chen kann. In der Regel ist dieser Zustand Symptom des Fieber« und es ist merkwürdig, dass fast jede bestimmte Fie- bergattung ihr eigenes Delirium hat, dass die Bilder, die den Kranken beschäftigen, sich nach der Art des Fiebers rich- ten. So sicht der Petechialfieberkranke fast immer irgend einen widrigen Gegenstand um sich, mit dem er in empö- render Gemeinschaft steht; der Scharlachkranke ist immer an einem andern Ort, als wo er wirklich ist; der Wech- selfieberkranke will immer etwas gewaltsames, Aufsehen erregendes, ausserordentliches thun. Doch kann auch wahres Delirium durch narkotische Substanzen erregt wer- den und auch hier ist es in seinem Inhalt verschieden nach der verschiedenen Qualität der narkotischen Mittel. So bringt der Wein heitere, doch lebhafte, der Brannt- wein leidenschaftliche , das Opium freundliche Delirien hervor; die Belladonna erregt den Anblick von Flammen, das Strammonium Lust zu springen u. s. w. Wir können uns hier mit diesen Andeutungen des Wesens der Delirien begnügen, da sie als symptomatische Erscheinungen besser bei den Krankheiten abgehandelt werden, zu weichen sie gehören,

145.

Manie pflegt man als allgemeine Unordnung aller vor- stellenden Kräfte zu definiren; ich selbst habe dies in

175

meinem Lehrbuch über die Krankheiten des Vorstellungs- Vermögens gethan, der gemeinen Meinung folgend, aber die häufige Gelegenheit, die mir wurde, an Manie leidende Kranke zu beobachten , hat mich von der Unrichtigkeit dieser Erklärung überzeugt. Diese Kranken überraschen uns oft mit den allersprechendsten Beweisen von Ueber- legung , Besonnenheit, Selbstbeherrschung, sittlichem Ge- fühl, dass wir unmöglich verkennen können, wie mächtig die innere Gesetzgebung der Denkkraft auch in ihnen wirkt. Gleichwohl sind sie rasend; achten wir darauf, wie sich dies äussert, so sehen wir, dass nichts als zu grosse Thätigkeit der basischen Kräfte des Vorstcllens ihre ganze Krankheit ausmacht. Doch müssen wir vor allen Dingen erklären , dass manche chronische Vorstellungs- krankheiten zur Manie gerechnet werden, die blos ihre Folge sind und deshalb nicht mit ihr verwechselt werden dürfen.

Jede Manie beginnt, wenn aie nicht ein Stadium ro- dromorum hat, mit gewaltiger Lebhaftigkeit des Kranken: aein Auge wird feurig, aber starr, auf eine eigene, unbe- ichreibliche Weise schielend; er spricht in einem fort, mit grosser Heftigkeit, vollendet aber sehr selten, was er zu sagen begonnen hat, sondern mischt immerdar ganz etwas anderes darunter. Achten wir auf den Grund dieser Beimischung, so liegt er gewöhnlich darin, dass er irgend etwas auflasst, was in seiner Nähe vorgeht; er bemerkt alles aufs schärfste und schnellste, macht die Menschen lächerlich, die sich ihm nahen, oder behandelt sie ver- ächtlich; ihre Miene, ihre Stellung giebt ihm Anlass zu neuen Vorstellungsreihen , sehr oft sein eigenes Wort, ein Ton, ein Klang, auf welchen er sofort einen Heim macht, der ihn wiederum weiter führt. Wir glauben ihn zuwei- len absorbirt in sein tolles Geschwätz und erstaunen , wenn er uns überzeugt, dass er alles aufs genaueste be- merkt hat, was um ihn vorgeht, wodurch er seine erhöhte Perceptivilät unwidersprechlich darthut, Der schnelle

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Wortstrom, der Ihm vom Munde fliegst, zeugt, dags auch sein Erinnerungsvermögen erhöht wirkt; der Zufluss von Bildern ist ungemein reich und gerade dieser übergrosse Reichthum ist Ursache, dass er höchst desultorisch von einem aufs andere kommt. Indessen verbindet er seine Bilder auf die seltsamste Weise, entweder reimend, oder indem er andere beleidigen, necken will, oder indem er zu ungestümem Streben und Toben fortgerissen wird. Sein Combinationsvermögen wirkt also eben so reissend schnell, als die Erinnerungskraft : alle drei basische Kräfte sind in krankhaft erhöhter Thätigkeit. Gleichzeitig bemerken wir grosse Veränderungen in seinem thierischen Leben. Er schläft beinahe gar nicht ; oft wochenlang nach einander zeigt er nicht die geringste Neigung zum Schlaf. Er kann ungeheuer viel essen und mag verschlingen, was er will, so bekommt es ihm sehr gut; er verdaut alles, selbst ganz unverdauliche Dinge, Ilolzspähne, Leder u. dgl. Das Be- dürfniss zu essen ist immer sehr rege und er äussert es mit grosser Heftigkeit. Seine Excretionen befriedigt er ohne alle Rücksicht, eben so äussert sich sein sehr aufge- regter Geschlechtstrieb : alle Begierden sind heftig, alle seine Bewegungen rasch und kräftig. Seine Haut ist trocken, gegen äussere Kälte auffallend unempfindlich, eben so ge- gen Schmerzen. Im allerheftigsten Grade des Rasens be- schäftigt ihn gewöhnlich Ein Bild vorzugsweis, daher er immer einige Worte wiederholt, gewöhnlich mit fürchter- lichem Geschrei ; mit reissender Schnelligkeit schwatzt er eine Reihe unsinniger Dinge und endet die Pharse mit

diesem lauten Ausruf. In diesem Zustande scheint er auf

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nichts zu achten; kommt er aber zu sich, so erzählt er alles, waa damals um ihn her vorging, aufs genaueste. Alle andere Menschen verachtet er, entweder spottend, oder sie misshandelnd. So verhält sich der Kranke im Access seines Ucbels, aber dieser dauert nie immer fort, sondern hat unfehlbar ßeine Nachlaisperioden.

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116.

Iln diesen äussert er sich auf sehr verschiedene Weise. Alleraal fühlt er, dass er etwas ungewöhnliches gethan hat, oder dergleichen mit ihm vorgegangen ist, und nie fehlt das Gefühl der Hinfälligkeit, aber dies äussert sich nicht immer auf gleiche Art. Zuweilen fühlt er selbst sein Elend und kündigt dies gemeiniglich mit lautem Heu- len an. Zuweilen schämt er sich und wird durch jede Erinnerung an seinen kranken Zustand tief gekränkt oder beleidigt; das ist ein sicheres Zeichen baldigen Nachlasses. Sehr gewöhnlich aber schiebt er die Schuld seines Tobens auf andere und äussert sich gegen diese feindlich oder verächtlich. Zuweilen wird er zwar ruhiger, mischt aber in seine ganz verständigen Aeusserungen Ungereimtheiten ein, die er sogleich selbst verwirft; es ist als wenn sich ihm unwillkührlich etwas aufdringe, was er vergeblich be- kämpfe. Damit beginnt jeder neue Access, dass diese un- willkürlichen Aeusserungen immer häufiger und lebhafter

I werden. Zuweilen ist er nach dem Anfall vollkommen verständig, ordnet seine Kleidung, versucht zu ruhen und scheut sich sichtbar vor jeder Erinnerung an das vergan- gene. Wohl nur selten bleibt es bei einem Access : ge- wöhnlich folgen sich viele, aber je heftiger sie sind, desto länger pflegen sie auch zu dauern, ganz entgegen dem, was man bei Krankheiten der plastischen Sphäre beobach- tet. Ihre Dauer hat übrigens gar keine Regel ; sie können einen ganzen Monat lang fortwähren, zuweilen auch nur eine Viertelstunde. Wenn aber eine Reihe von Anfällen und Nachlässen vorübergegangen ist, gleich viel, in wel- cher Zeit, so stellt sich, wofern nicht die Heilung gleich anfangs gelungen ist, allemal und unfehlbar körperliche Krankheit ein. Entweder geht der Anfall in Apoplexie über, die mehrentheils tödtlich abläuft, oder der Kranke, magert ab, verliert die Esslust, wird matt, ist ungewöhn- lich still und niedergeschlagen , hat nur seltne, kurze Auf-

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17S

rcgungen , kann aber anch in den Nachlassperioden sich nicht besinnen, sondern spricht kindisch, unzusammen- hängend und so stirbt er entweder, sei es an hektischem Fieber, oder an Eiterungen, äusseren oder inneren, zu denen diese Kranken äusserst geneigt sind, oder er gene- set vollständig, oder es entsteht Nachkrankheit.

147.

Auch diese ist äusserst verschieden. Entweder wird der Kranke förmlich blödsinnig, ganz stumpf, verliert alle Erinnerung an seinen früheren Zustand, ist unfähig zu allem, oder es kommen immer noch Perioden, in weichen er raset und tobt, doch nur von kurzer Dauer; in der üb- rigen Zeit ist er lenksam, kann sich unter Leitung und Aufsicht beschäftigen, spricht aber unsinniges Zeug, hat eine seltsame Vorstellung von sich selbst und andern, in der Regel eine sehr stolze, und zeigt doch zuweilen mehr oder weniger sehr bestimmte Spuren richtiger Selbstschä- tzung. Je mehr er diese hat, desto unglücklicher ist er, denn leider zeigt die Erfahrung, dass ein solcher Kranker fast nie mehr geheilt wird, sondern bei starker Gesund» heit, die fast allem, was Gesunden Gefahr droht, Trotz bietet , allmählig aber gewiss in immer tieferen Blödsinn versinkt und in diesem rettungslos, oft nach langem Schein- leben, untergeht. Man hat diesen Zustand unter dem Na- men Moria, Narrheit, als einen eigentlnimlichen anerkannt; ich glaube ihn für einen Grad des Blödsinns halten zu müs- sen , um so mehr, da er endlich immer in offenbaren Blöd- sinn endet und da er der gemeinschaftliche Ausgang aller langwierigen , ungeheilt bleibenden Yorstellungskrankheiten ist. Gewiss unrichtig ist es , diesen Zustand als eine Art der Manie zu betrachten, mit der er nichts gemein hat, ausser in kurz vorübergehenden Anfällen von Heftigkeit, die aber auch bei tieferen Graden des Blödsinus nicht feh- len; ich muss also meine einst ausgesprochene Meinung hiermit \ erbess er n.

m

148.

Zuweilen überfällt die Manie urplötzlich und ohne merkbare körperliche Krankheit, zuweilen gesellt sie sich zu körperlichen Krankheiten und zuweilen geht ihr ein Stadium prodromorum voraus ; diese Vorboten sind dann aus Symptomen der sensiblen und der plastischen Sphäre gemischt. Namentlich pflegt auf irgend ein den Menschen tief ergreifendes Ereigniss mit einemmal, Zum grossen Be- fremden derer, die den Candidaten der Manie umgeben, in ihm eine Stimmung zu erwachen, die der gerade ent- gegengesetzt ist, welche die Natur des Ereignisses erwar- ten lässt: nach glücklichen Vorfällen wird die Laune fin- ster, mürrisch, zänkisch; nach unglücklichen oder Gram erregenden gleichgültig, dann zeigt sich eine Neigung zum Possenreissen. Ueberhaupt handelt ein solcher Mensch seinem gewohnten Charakter ganz entgegen; der Mässige wird ein Trinker , ein Schwelger ; der Schwelger wird still. Mit einemmal fühlt sich der Kranke getrieben , ir- gend etwas ungewöhnliches, auffallendes zu thun glück- lich, wenn es nichts unheilvolles istl Dies sind die psy- chischen Vorboten ; die körperlichen sind, dass der Kranke ganz wider seine Gewohnheit lange und tief schläft und dann eben so lange Zeit, ganz aussergewöhnlich , schlaflos

I zubringt, dabei ungeheuer viel isst, trinkt, dann rastlos umherläuft und durchaus nicht auf einer Stelle bleiben kann, ohne jedoch im mindesten fieberhaft zu sein, aber nicht ohne den Ausdruck seines Gesichts total zu verän- dern. Der Mundwinkel wird hängend nach unten, die Zunge mit leichtem Schaum bedeckt, der ihm auch im hastigen Sprechen aus dem Munde spritzt; die Wange, die Stirn bekommen ganz andere Furchen, als sie je bei einem Gesunden haben; die Augen kehren sich anders, meist beide etwas weniges nach dem inneren , wohl auch nach dem äusseren Winkel, und der Blick hat eine sehr auffal- lende Starrheit.

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149.

Wenn nichts anders bewiese, dass die nächste Ursache dieser Krankheit allein in der abnorm erhöhten Thätigkeit der basischen Kräfte des Vorstellens liege, als die Erschei- nung der temporären Manie, die oft nur kurze Anfälle macht und in der Zwischenzeit jede Aeusserung des Vor- ßtellungsvermögens so gesund lässt, als je, so wäre dieser Beweis schon hinreichend. Denn wie könnte die Denkkraft so vollständig regelrecht wirken , wenn sie in ihrer höhe- ren Gesetzgebung zerrüttet wäre? Wo sie es ist, sehen wir solche lichte Intervallen nicht. Ein zweiter Bewei« für diese Meinung ist die gänzliche Uebereinstimmung der Aeusserung der Manie mit dem Fieberdelirium , das doch gewiss nur in Aufregung des körperlichen Antheils an der Begriffbildung besteht. Aber der wichtigste ist die Beobachtung der mit Manie befallenen selbst. Ich berufe mich auf die Erfahrung aller , die mit solchen Kranken umgehen , ob sie nicht alle Augenblicke deutliche Spuren von der ganz vollkommenen Richtigkeit ihrer Vorstellungen an ihnen bemerken, sobald nur das reissend schnelle Flie- gen ihrer Ideenbilder, die schnell und seltsam thätige Fer- tigkeit im Combiniren etwas nachlässt. Die Fähigkeit, al- les vorgestellte nach Zeit und Raum zu bestimmen, das analytische Vermögen, das der Ideen, die Beherrschung der Begierden, des Willens, das sittliche Gefühl alles das fehlt ihnen nicht und äussert sich oft bei ihnen auf überraschende Weise; wenn aber der Strom ihrer Bilder einmal im Fluss ist, so reisst er sie mit sich fort und er- regt die Meinung, die ganze Denkkraft sei in Unordnung gerathen , da sie doch blos sich nicht geltend machen kann, weil die Bewegung des Materials, auf welches sie wirken soll , zu stark und zu schnell ist.

150.

Dem praktischen Arzte kann indessen die nächste Ur- sache des Uebels ziemlich gleichgültig sein; ihm kommt es vielmehr darauf an, dass er einsehe , welche Bedingun- gen es herbei führen und wie er diese aufheben könne. Nicht die Frage beschäftigt ihn, was eigentlich leide, son- dern woher es komme , dass es leide und auf welche Art es leide. Den letzten Theil der Frage beantwortet die Be- schreibung der Erscheinungen wohl empirisch, aber nicht befriedigend ; er will wissen , wie diese Erscheinungen zu Stande kommen. Von den Gesetzen des Vorstellens zeigt sich keines in unregelmässiger Thätigkeit, als das Gesetz der Reihenbildung, welches dem plastischen und dem sen- siblen Leben gemein ist ; die Reihenbildungen erfolgen in reissender Schnelle, also übereilt. Sonst sehen wir keine Spur einer Erscheinung verkehrter Polarität oder irgend einer andern Anomalie, wohl aber gewahren wir Verände- rung des Einflusses des Gehirns auf das Gangliensystem. Dies wirkt nämlich anders, als im gesunden Zustande , in- dem es ungewöhnliche Energie zeigt und zugleich gerin- gere Empfindlichkeit: um eines Reilschen Ausdrucks uns zu bedienen würden wir sagen, dass seine Receptivität vermindert und sein Wirkungsvermögen erhöht sei. So will er denn wissen, was es sei, das die Receptivität des Gangliensystems mindere, das Wirkungsvermögen dessel- ben erhöhe und zugleich die Reihefolge der Vorstellung so mächtig beschleunige. Die Erfahrung lehrt ihn, dass diese Beschleunigung der Vorstellungsreihe auch in sehr heftigen Fiebern eintrete, wo aber gerade das umgekehrte Verhältnis im Gangliensystem statt findet, wo dessen Re- ceptivität sehr erhöht und dessen Wirkungsvermögen wo nicht schwach, doch gänzlich unharmonisch ist. Er fragt daher zuerst, ob nicht in der Manie, wie beim Delirium, das Leiden des Gangliensystems primär und das des Ge- hirns secundär sei? Ferner, wie beide in einander wirken?

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Wir sehen, das» auf Genuss narkotischer Substanzen zuerst eine starke Reizung des Gangliensystems folgt und diese beschleunigten Herzschlag, grössere Bewegung im Arteriensystem zur nächsten Folge hat; alsdann zeigt sich dieselbe Beschleunigung der Reihenbildung der Vorstellun- gen , die immer höher steigt und schnelle Ermüdung des Gehirns zur Folge hat, welche um so schneller zunimmt, je mehr der Blutreiz überwiegt. Wir sehen, dass bei heftigem Fieber dieselbe Erhöhung der Arterienwirkung stätt findet, wie nach dem Genuss narkotischer Substanzen, damit auch dieselbe Beschleunigung der Vorsteilungsreihen beginnt, aber nicht dieselbe Ermüdung des Gehirns, nicht Neigung zum Schlaf folgt, vielmehr der Kranke schlaflos bleibt, so lange die kranke Thätigkeit des Gangliensystems immer neue, unangenehme Sensationen weckt. Bei der Manie sehen wir anfangs gar keine kranke Erscheinung im Gangliensystem ; diese gewahren wir erst naeh ausgebro- chener Krankheit. Dies macht zuerst die Meinung zwei- felhaft, dass die Krankheit vom Ganglicnsystem ausgehe. Zweitens: wenn ein Stadium von Vorläufern statt findet, sehen wir, dass zuerst das Gelüsten, die Laune des Kran- ken ganz ungewöhnlich wird, seine plastischen Functionen aber allesammt regelmässig fortwirken. Das Gehirn aber bewirkt im Gangliensystem das Gelüsten unmittelbar ; es deutet also diese Erscheinung darauf, dass in der Manie die ungewöhnlichen Erscheinungen im Gangliensystem vom Gehirn ausgehen. Dies wird völlig bestätigt dadurch, dass die disponirenden Ursachen der Manie sowohl als die Ge- legenheitsursachen entweder rein psychisch sind, oder in Verletzungendes Kopfs bestehen, oder, wo sie aus der pla- stischen Sphäre ctammen, doch der Art sind, dass sie erst Krankheit des Gehirns bewirken. Endlich erhöht die Mei- nung, dass das Gehirn primär leide, noch einen Zuwachs der Gewissheit dadurch, dass im späteren Verlauf die Krankheit lange fortbestehen kann ohne Störung der pla- stischen Functionen, vielmehr hei grosser Energie dersel-

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tyeii, was nicht möglich wäre, wenn das Gangliensystem ursprünglich erkrankte. Sonach ist als ausgemacht anzu- nehmen , dass in der Manie das Gegentheil vom Zustand der Berauschung und des Fieberdeliriums statt finde. Da- mit sind wir aber der Hauptfrage , wie die beschleunigte

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Bildung der Vorstellungsreihen zu Stande komme, nur so weit näher gerückt, dass wir wissen, es geschehe nicht auf demselben Wege, wie beim Rausch oder beim Fieber. Wie geschieht es denn? Es bleibt nichts übrig, als anzu- erkennen , dass die Irritabilität des Gehirns sehr bedeutend erhöht sein müsse. Es ist kein Organ, dessen Irritabilität

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nicht zuweilen sehr erhöht erscheint, folglich geschieht

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mit dem Gehirn dasselbe, was mit allen vorgeht, allein

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wie wir bei weitem nicht immer die Ursache solcher Er- höhung in andern Organen nachweisen können, so können

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wir es auch hier nicht , w enigstens nicht zur Zeit. Noch

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weniger können wir angeben , warum diese Erhöhung hier

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so lange fortdnuere: eher erklärt sich, warum sich die

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Irritabilität der Ganglien zugleich vermindere, warum end- lich ein fieberhafter Zustand , durch die chronische Ein-

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Wirkung ins Gangliensystem , eintreten müsse, warum die Krankheit mit Schlaflosigkeit verbunden sei , da auch der leiseste Reiz den Schlummer wieder weckt und die erhöhte Reizbarkeit selbst die Wirkung des Gewohnheitsgesetzes ausschliesst, endlich wie die Krankheit zuletzt in Blödsinn enden müsse, wenn die Erhöhung der Irritabilität des Ge- hirns endlich erschöpft ist, warum aber in diesen Blödsinn noch immer Zwischenscenen von Raserei sich einmischen, da nicht das natürliche Maas de.r Irritabilität wieder her-

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gestellt ist, sondern der Zustand zwischen Erhöhung und Verminderung schwankt.

151.

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Indessen haben wir immer etwas gewonnen , wenn wir die Manie als unmittelbare Folge enorm erhöhter Irritabi- lität des Gehirns erkennen, bei welcher die sämmtlicheu

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Gesetze der Sensibilität unverletzt sind und so gut erfüllt werden, als dies hierbei möglich ist. Empirisch bestim- men wir die Ursachen, die zur Erhöhung dieser Irritabi- lität geneigt machen,

a) in erblicher Anlage. Die Formen der Organe erben von den Aeltern auf die Erzeugten fort, die Kopfform des Vaters auf die der Kinder insbesondere, vergi. §. 85. So weit nun die Form des Hirns die Entwicklung seiner Reiz« barkeit begünstigt, so weit kann und wird auch die An- lage zur Manie erblich sein können, aber nicht weiter. Die Erfahrung zeigt wirklich eher jede andere Geistes- krankheit erblich, als die Manie. Der Fall, dass ein ma- niatischer Vater ein Kind während der Krankheit zeugte, dürfte wohl selten Vorkommen und es wäre die Frage, ob ein solches Kind auch von Manie befallen würde: war der Vater zur Zeit der Zeugung von Manie frei, so möchte wohl die Frage der erblichen Anlage gewaltig ins Gedränge kommen. Gail behauptete zwar, dass sich die Anlage zu Geisteskrankheit stets durch bestimmte Kopfform verrathe, allein dies lag im Geist seines ganzen Systems und dürfte schwer zu rechtfertigen sein.

b) ln einem gewissen Grade natürlicher Geistesanlage *

Nicht ohne Grund sagt man von einem gebornen Dumm- kopf, er habe keinen Verstand zu verlieren; blödsinnig kann er werden, aber nicht in Manie fallen. Das Gehirn muss einen gewissen Grad von Reizbarkeit haben, wenn diese abnormer, bedeutender Erhöhung fähig sein soll. Sehr starke leidenschaftliche Anregungen erheben manch- mal das Hirn des Idioten über den Normalgrad seiner Reizbarkeit, aber dann zeigt er ungewöhnlichen Verstand. Es fehlt nicht an Beispielen, wo Idioten gerade im ent- scheidenden Moment, wo die Leidenschaft aufs höchste gespannt war, sehr klug redeten oder thaten. Je höhere geistige Anlage , je grössere Lebhaftigkeit der Hirnthätig- keiten, desto eher ist Manie möglich, besonders wenn

185

c) gleichzeitig mit der Geistesanlage Mangel an Selbst- | belierrschung verbunden ist. Nicht Mangel an Bildung

wir sehen Menschen von allen denkbaren Bildungsstufen in Manie verfallen sondern Mangel an Selbstbeherrschung, etwas ganz anderes , als Bildung. Wo grosse Geistesanla- gen sind , sind auch die Leidenschaften heftig. Hat aber der Mensch sich von Jugend auf gewöhnt, sich zu beherr- schen, so wird ihm so leicht keine über seine Kraft em- porschwellen. Umgekehrt, je lebhafter die Leidenschaft, je grösser gleichzeitig die Reizbarkeit des Gehirns , desto leichter kann diese zu einem enormen Grad anwachsen, wenn nicht das höhere Lebensgesetz des Gehirns hemmend in den Weg tritt.

d) Bestimmtes Lebensalter ist jederzeit als zur Manie erforderlich betrachtet worden; ich selbst habe früher be- hauptet, dass kein Mensch vor dem Alter der Pubertät in Manie verfalle. Seitdem habe ich zwei Beispiele des Ge- gentheils erlebt, die mich zwingen, dies Urtheil zu wider- rufen. Zwar junge Kinder verfallen wohl niemals in Ma- nie, aber in den Knabenjahren vor der Pubertät ist dies möglich. Das Greisenalter , indem es nicht alle Leiden- schaften stumpfer macht, wohl aber die Kraft schwächt, die ihnen sonst gebot, vermehrt die Disposition zur Ma-

i nie: wir haben berühmte Beispiele von höchst ausgezeich- neten Menschen, die im Alter in diese Krankheit fielen.

e) Alles, was die gewohnte Vitalität des Gehirns all- mählig schwächt, disponirt zur Manie, besonders wenn mit einemmal plötzliche Schwächung hinzutritt. Beide Be- dingungen treten ein bei Wöchnerinnen, ferner bei Trin- kern, zumal wenn sie versuchen, sich ihr Laster abzuge- wöhnen. Die Manie der Wöchnerinnen und die der Trin- ker bilden besondere Arten dieser Krankheit, welchen wir auch besondere Aufmerksamkeit widmen müssen.

f) Kopfwunden. Ich habe eine ganze Reihe von Er- fahrungen, wo Kopfwunden erst periodische Manie, end-

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lieh, nach Jahre langer Dauer dieser, Blödsinn tyervor- hrachten , doch niemals Wunden der Scheitelbeine oder des obern Theils des Stirnbeins, sondern Wunden, die in die Hirnbasis , besonders in den Hinterkopf, in den untern Theil der Schläfebeine, aufs Spenoideum gewirkt hatten. Es lässt sich wohl einsehen, dass diese, nicht so lange sie offen sind, sondern nach ihrer Vernarbung, die Irrita- bilität des Hirns periodisch steigern, gerade so wie wir dies von andern verwundet gewesenen Theilen sehen, die manchmal bei Witterungsveränderungen zu schmerzen an- fangen. Indessen ist doch die Thatsache merkwürdig ge- nug und ich wünschte, dass die Schriftsteller , die Gele- genheit haben, darauf ihre Aufmerksamkeit richten möchten.

g) Anhaltendes Wachen . Nichts schwächt die plasti- sehe Kraft des Hirns so sehr, als dies; die Unvollkom- menheit der Vegetation wirkt aber doppelt. War das Or- gan gewohnt, kräftig zu yegetiren, so erhöht sich dessen Irritabilität, indem es zugleich an Kraft verliert; die Ge- wohnheit der Oscillation ist da, allein der Reiz fehlt, der sie in Bewegung setzte ; jeder andere, noch so geringe, bringt also leicht eine ungewöhnliche Oscillation hervor. Sinkt aber die Vegetation ganz allmählig, oder war sie nie kräftig, so ist die Oscillation stets sehr gering und keine Irritabilitätserhöhung merkbar. Langes Entbehren des Schlafs bringt also am Ende einen blödsinnigen Zustand hervor und wird tödtlich , aber wenn durch Schmerz, durch Sorge und Kummer, durch Angst und Furcht vor einer drohenden Gefahr der Schlaf längere Zeit hindurch wo nicht ganz verscheucht, doch sehr gehindert wird, so wächst die Irritabilität des Gehirns und erwartet nur eine Gelegenheit, um in Manie überzugehen.

h) Schnelle Veränderung der Lebensweise, Uebergang von einer sehr thätigen zu einer sehr unthätigen und noch mehr das Gegentheil können zwar auch zur Manie dispo- niren, doch weit mehr zu andern Voratellungskrankheiten, wovon noch in der Folge die Rede sein wird*

i) Schicere Gewissensbisse. Wenn ein Mensch immer- während mit sich selbst kämpft und das schlechte den Sieg davon trägt; wenn er deshalb anfängt, sich selbst zu

I verachten und an der Möglichkeit zu verzweifeln, wie er aus dem Kreise herauskommen könne , in den er sich ge- bannt sieht, pflegt er wohl ein Opfer der Manie zu wer- den. Solche Kranke sind unheilbar.

152.

Gelegenheitsursachen des Ausbruchs fehlen oft gänz- lich oder sind so unbedeutend, dass sie kein Mensch be- merkt. Zuweilen wirkt irgend eine Leidenschaft so plötz- lich und gewaltig auf den Erschütterten ein, dass er auf der Stelle in Manie verfällt und die disponirende Ursache

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zu fehlen scheint, aber nur scheint; ganz gewiss ist eine vorhanden gewesen, denn sonsj bringt Leidenschaft nicht Manie, sondern andere Geistesverwirrung hervor. In der Regel aber ist es irgend ein leidenschaftlicher Anlass , der bei Disponirten die Krankheit zum Ausbruch bringt. Doch oft kann es auch ein mehr körperlicher Anlass sein, na- mentlich bei Wöchnerinnen der ausbleibende Schweiss des

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Milchfiebers, bei Ilämorrhoidalkranken (die äusserst selten in Manie verfallen) Andrang des Bluts nach dem Kopfe, etwa durch unzeitigen Weingenuss vermehrt, Epilepsie oder andere convulsive Krankheiten endlich, der den ersten Anfall zu Stande bringt. Man findet fast bei jedem Indi- viduum eine andere Gelegenheitsursache , sehr häufig eine ganz unbedeutende. Für den praktischen Arzt ist sie eben so unwichtig, als die disponirende ihm wichtig ist. Man- cher wird sich wundern, dass weder hier noch bei den

disponirenden Ursachen der Metastasen als solcher gedacht ist: ich habe zehn Jahre lang einer grossen Irrenanstalt vorgestanden und weder in dieser Zeit, noch vorher, ei- nen einzigen Fall einer solchen Metastase gesehen, wes- halb ich ihre Realität völlig bezweifle. Sie gehören der alten humoralpathologischen Schule an, die oft hinter ih-

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neii Verstecken spielte und gern die Welt beredet hätte, sie lehre Weisheit. Nicht dass es gar keine Metastasen geben könne: bei cxanthematischen Krankheiten sehen wir zuweilen Erscheinungen, die kaum anders genannt werden können, z. B. Eiterbildungen ohne alle Spur vorhergängiger Entzündung an der Stelle, wo sie Vorkommen. Aber ich zweifle sehr, dass je eine Metastase, sie heisse wie sie wolle, Manie hervorgebracht hat.

153.

Es giebt keine Form der Vorstellungskrankheiten, bei welcher die Herstellung so oft und so leicht gelingt, als hei der Manie, doch kann es auch unglückliche Fälle ge- hen , entweder wenn die Krankheit tödtet , oder wenn sie in Nachkrankheiten übergeht. Sie tödtet entweder durch Apoplexie, oder durch hektisches Fieber, das jedoch sel- ten endet, wie andere Schwindsüchten, sondern gewöhn- lich ebenfalls durch Apoplexie, nur durch die nervöse, nicht die gewöhnliche. Diese kommt eher im Anfang der Krankheit vor und ist nicht immer vorherzusehen, noch zu verhüten. Ich habe sehr magere, bleiche Subjecte, de- ren Bau durchaus nichts von dem hatte, welchen man als die Apoplexie begünstigend zu bezeichnen pflegt, urplötz- lich zusammenfallen und in Lähmung übergehen sehen, auf welche bald neue Anfälle folgten , die dem Leben ein Ende machten. Weder Aderlässe noch irgend andere Heilmittel sind immer sicher, diesen Ausgang zu verhüten. Es scheint, als wenn die Schwächung des Hirns, welche mit Erhöhung der Irritabilität gepaart ist, nur eines höchst geringen Zu- wachses bedürfe, um innere Blutung in der Schädelhöhle zu veranlassen. Giebt es ein Zeichen, aus welchem man die Nähe der Gefahr vermuthen kann, so ist dies die Zu- sammenziehung der Pupille bei einer gewissen Härte und Langsamkeit des Pulses. Erfolgt Apoplexie , so ist sie ge- wiss tödtlich, wenn nicht aufs erstemal, doch zuverlässig in ihren Wiederholungen, die nie ausbleiben.

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Die zweite Art des tödtlichen Ausgangs ist die in hek- tisches Fieber. Wenn der Kranke in der Periode der Toll- heit nur einigermassen vernünftig behandelt wurde, ist es selten tödtlich, aber durch absichtliche oder zufällige Schwä- chungen kann es tödtlich werden. Nie bleibt es ganz aus- sen, aber es ist ganz unmöglich, die Zeit zu bestimmen, wann es eintreten werde: es giebt Fälle, wo es ein Jahr lang auf sich warten lässt. Es beginnt damit, dass der Kranke länger schläft, als vorher, auch nach dem Erwa- chen ruhig ist und kindisch schwatzt, wie ein Blödsinni- ger. Bald bemerkt man auch grosse Verminderung des Nahrungstriebs, endlich sogar Ekel vor der Nahrung, die er sonst gierig verschlang. Er fängt an, zuweilen laut zu heulen und im Liegen verbirgt er den Kopf. Der bis da- hin sehr normale, gewöhnlich langsame Puls wird schnell, härtlich, klein, die Haut, die bis dahin kalt und trocken war, wird wenigstens heiss, wenn sie auch nicht feucht wird. Der Kranke magert sichtlich ab; seine Bewegungen werden schwächer; er tobt nicht mehr, er redet blos ver- worren. Zuweilen, doch selten, steigt die Abmagerung, das Fieber; es entsteht Decubitus und der Kranke stirbt am Brande. Aber oft erreicht er nicht dies äusserste Ziel; es entstehen Convulsionen, auf welche Lähmung folgt, welche zwar allmählig wieder nachlässt, doch ohne glück- lichen Ausgang hoffen zu lassen, vielmehr wiederholen sich die Convulsionen, bis sie endlich tödten. Eine dritte Art, wie der Tod in dieser Periode erfolgen kann, ist, wenn Eiterungen entstehen, doch kommen diese noch häufiger bei Blödsinnigen vor, als bei Kranken, die an Manie lei- den. Man sollte sagen, es gehe ihnen gar keine Entzün- dung voraus, so wenig ist diese bedeutend, so schnell ent- stehen sie und so gewaltig nehmen sie überhand.

154.

Der tödiliche Ausgang kommt indessen nicht so häufig *ör, als der Uebergang in andere Krankheiten. Ich habe

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so häufig von Fällen gelegen, wo Flechten, Hämorrhoiden, Krätze, Wechselfieber entstanden und der Kranke durch sie genas , dass es vermessen wäre , zu erklären , solche Ueber- gänge erfolgen nicht, ob ich gleich nie dergleichen gese- hen habe. Aber in Lungensucht habe ich die Manie häu- fig enden sehen und wenn während derselben die Vorstel- lungskrankheit nicht ganz wich , so hatte sie wenigstens nicht mehr den Charakter der Manie , sondern sprach sich eher durch Unwirksamkeit der höheren geistigen Kräfte aus. Doch der gewöhnlichste Ausgang ist der in Blödsinn. Da dieser bald unsere Aufmerksamkeit besonders in An- spruch nehmen wird, enthalte ich mich hier der Schilde- rung seiner sehr mannichfaltigen Erscheinungen ; blos die seines Eintritts müssen hier Platz finden. Dieser ist an- ders in anhaltenden , anders in periodischen Manien. In jenen erfolgt er nie ohne vorhergegangenen febrilischen , hektischen Zustand. Während desselben sind die Kranken traurig, einsylbig, werden immer seltener, immer nur auf kurze Zeit heftig, aber diese Heftigkeit spricht sich im- mer weniger in Reden, mehr in Handlungen aus, deren sie sich nicht mehr schämen, wie derer, die sie im An- fang der Manie begehen. Allmählig verschwinden alle Fie- berzeichen ; sie schlafen viel und werden meistens fetter , als gewöhnlich , ihre geistigen Aeusserungen aber werden immer stumpfer und so gehen sie in einen Zustand über, der sie selten eher verlässt, als bis das Leben nach einer Reihe von Jahren zu Ende geht. Aber nach periodischen Manien bemerkt man nichts von hektischem Fieber. Viel- mehr verändern sich die Anfälle, dauern immer länger und während derselben sind die Kranken immer weniger heftig. Endlich sind auch die gesunden Perioden nicht mehr ganz frei von Geistesschwäche ; die Kranken können und mögen sich nicht mehr beschäftigen, arbeiten mit Un- lust, zuweilen verkehrt, und sind geneigt, diese Verkehrt- heit zu vertheidigen ; sie zeigen Hass gegen Menschen, die 6ie tonst liebten, zanken gern, suchen die Einsamkeit; in

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diesem Zustande kommt eiil rieuer Anfall, aber ein schwa- cher, det aber nicht mehr endet, wie die vorigen, son- dern in wahren fortdauernden Blödsitln übergeht. Dies ist der gewöhnliche Ausgang periodischer Manien, die von dem früher ausgesprochenen Urtheil, dass diese Krankheit oft heilbar ist, eine traurige Ausnahme machen. Dies ist um so auffallender, da man gerade das Gegeiltheil erwar- tet. Sollte man nicht glauben , die Ursache der Manie müsse viel unkräftiger sein , wenn sie hur periodische An- fälle veranlasst, zwischen welchen der Kranke, oft ziem- lich lange, ganz gesund ist, als Wenn sie fortdauernde Krankheit erregt? Und doch ist diese viel leichter heil- bar, als jene.

155.

Die Hoffnung der Herstellung richtet sich sehr nach der Krankheitsursache. Perperalmanien sind alle&ahimt heilbar, die leichtesten von allen. Wenn es wirklich erb- liche Manien giebt, so können sie nicht heilbar sein* Je

i.

verschrobener und seltsamer die Gemüthsart de* Kranken war, ehe er krank wurde, desto weniger Hoffnung hat i man, ihn zu heilen. Auch das Alter kommt in Betracht; Greise haben wenig Hoffnung zu genesen ; je jünger der Kranke, desto grösser ist diese. Die durch Leidenschaft, Nachtwachen , ungewöhnliche Anstrengung oder Uebergang 4 ton Geschäftigkeit zur Ruhe, durch Sorgen und Kümrtier, t durch zufällige Ereignisse in Manie verfallen , werderi bei c tweckmässiger Behandlung immer geheilt. Trinker Werden wohl geheilt, aber endlich werden sie doch Opfer dei* Krankheit, weil sie ihr Laster nicht lasken. Die durch Kopfwunden in Manie verfallen, können natürlich nie ge- heilt werden, weil es unmöglich ist, die Wirkung der fort- dauernden Ursache zu hemmen. Die durch das Bewusst- sein grosser Verbrechen in diesen Zustand gerathen, halte ich ebenfalls für ganz unheilbar, weil nichts dicke Erinne- rung aufhebt, es sei denn, dass man im Stande wäre, ih-

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ncn das, waa sie für Verbrechen halten, endlich in milde- rem Lichte zu zeigen. So wurde ein Mädchen völlig ge- heilt , die in heftige Manie verfallen war, weil sie sich für eine grosse Verbrecherin hielt, wo sie nur unglücklich und Opfer fremder Schuld gewesen war: sie hatte näm- lich, verlockt von Buben und mütterlicher Aufsicht be- raubt, ihren Körper schon im elften Jahre Preis gegeben und damit eine Reihe Jahre fortgefahren. Endlich war sie zum Bewusstsein des Unrechts, aber auf so erschüt- ternde Art, gelangt, dass sie deshalb toll wurde. In Nach- lassperioden verfluchte sie sich selbst , nannte sich ein verworfenes Geschöpf, und fing darüber immer von neuem an zu toben. Nach längerer Zeit gelang es, die Geschichte ihres Unglücks zu erfahren und zugleich ihre tiefe Selbst- verachtung zu überwinden und somit sie der Herstellung entgegen zu führen , die dann bald und vollständig erfolgte.

Wechselt Epilepsie mit Manie ab, so ist an keine Her- stellung zu denken.

156. I

Es ist zuweilen möglich, die Manie gleich nach ihrem Ausbruch vollständig aufzuheben. Dieser Fall ist der al- lerglücklichste, den es geben kann, aber nicht sehr häufig; ich glaube, er wird öfter Vorkommen, wenn die Aerzte richtiger verfahren, denn man wird selten zur Behandlung einer Manie gerufen, in welcher nicht schon voreilige und unzweckmässige Heilversuche gemacht sind. Ist aber das erste Stadium des Eintritts vorbei, so kann man zwar auf Heilung hoffen, so lange die Tobsucht hartnäckig anhält, allein sie gelingt jetzt schon schwerer. Doch fehlt es nicht an Beispielen des Gelingens, wenn man nur beharrlich in Anwendung zweckmässiger Mittel ist. Bei weitem der gün- stigste Zeitpunkt zur Heilung ist aber der, wenn die Hef- tigkeit der Tobsucht nachlässt und der hektische oder doch diesem ähnliche Zustand ein tritt. Diesen muss man sorgfältig benutzen und sich vor verkehrten Schritten sehr

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hüten; nicht nur, dass durch iie zuweilen tödtlicher Auf- gang herbeigeführt werden kann dieser ist hier das kleinere Unglück das grössere ist , dass blödsinniger Zustand übrig bleibt und dann das Leben zwar thierisch fortwährt, aber aller Werth desselben unwiederbringlich verloren ist. Denn ist einmal der Kranke in diesen blöd- sinnigen Zustand verfallen, so hat man äusserst wenig Bei- spiele, dass es denn doch noch gelungen ist, ihn herzu* stellen. Nach der Zeit der Heilung ist auch die Art ver- schieden. Gelingt sie im Anfang der Krankheit, so ist sie auf einmal ganz vollkommen : der Kranke resipiscirt voll- ständig und befindet sich auch körperlich ganz wohl» Ge» lingt sie im Laufe des tobsüchtigen Stadium«, so wird der Kranke zwar allmählig ruhiger, fängt auch an, ganz ver- ständig zu sprechen und zu handeln, allein es kommen Fristen , in denen er noch ganz verkehrt ist ; wunderliche Laune, Heftigkeit, Hass gegen einzelne Menschen bleiben lange noch übrig. Man kann ihm nicht recht trauen, selbst in seinen besten Stunden ; er überrascht uns oft mit einer Aeusserung, die beweist, dass er noch nicht frei ist. Er- folgt die Heilung während der fieberhaften Periode, so ist der Uebergang in Resipiscenz nichts weniger als schnell. Der Kranke geht zwar umher, wird tliätig, doch nur auf kurze Weile, und hat täglich noch Stunden, in denen er weint, betet oder auch wohl schimpft. Er bedarf fort- während sehr sorgfältiger Schonung und Pflege, wenn er

I nicht Rückfälle erleiden «oll, denen leider alle ausgesetzt sind , die je an Manie gelitten haben»

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Die Lehre von der Cur der Manie muss ich mit der Bemerkung beginnen, dass in dieser Krankheit von psychi- scher Heilmethode nicht die Rede sein kann, ausser im Stadium der Reconvalescenz , sondern das* man alles Heil nur von somatischen, ins plasische Leben und in die Sinn- ig lichkeit eingreifenden Mitteln zu erwarten hat* Daher die

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in psychischen Krankheiten allen Arzneigebrauch verwer- fen und blos psychisch curiren wollen, wenigstens eben so unrecht haben, als die da hoffen, eine Arznei zu finden, die den Wahnsinn vertreibt. Einseitigkeit steht überall ihren eigenen Zwecken im Wege. Nur negativ muss aller- dings auch die Behandlung der Manie nach richtigen psy- chischen Grundsätzen geleitet werden ; die hier anwend- baren sind:

a) Der Kranke darf nicht in seinen gewohnten Umge- bungen bleiben. Besonders, wenn er hier zu befehlen ge- wohnt ist, muss er durchaus weggebracht und in abhän- gige Lage versetzt werden. Man kann damit nicht genug eilen , da die Benutzung des Anfangs der Krankheit so wichtig ist; viele bleiben ungeheilt, weil die Unbehülflich- keit der Behörden, die sich höchst unfiiglich in Dinge zu mischen autorisirt sind, von denen sie nichts verstehen, gewöhnlich veranlasst, dass lange Zeit verstreicht, ehe ein in Tollheit verfallener Mensch in eine Irrenanstalt aufge- nommen werden kann. Je auffallender die ganzen Umge- bungen und Verhältnisse, in die man ihn bringt, von de- nen verschieden sind , in denen er sich gewöhnlich befand, und je schneller diese Veränderung geschieht, desto besser kann die Cur gelingen.

b) Der Kranke muss von jemand abhängig sein, vor dem er Respect hat, vor dem er sich fürchtet. Leider fürchten sich immer alle, die nicht mit solchen Kranken umzugehen wissen, vor ihm und das ist gerade das ver- kehrteste. Aus dieser Furcht entspringt auch das Vorur- theil, dass diese Kranken übernatürliche Muskelkraft haben; sie haben nicht mehr, als jeder gesunde Mensch, oder als sie sonst gehabt haben, allein sie brauchen sie mit grosser Entschlossenheit und ohne alle schonende Rück-

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sicht. Da sie auf alles «o genau und schnell achten, er- kennen sie sogleich den Zug der Furcht im Gesicht derer, die sich ihnen nähern und bei ihrer Neigung, alles zu verachten und zu verhöhnen, giebt ihnen dies sofort ge-

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wonnenes Spiel; wer lieh ihnen mit Dreistigkeit naht, hat nicht nur nichts von ihnen zu fürchten, sondern kann sie, ohne alle Gewalt, mit blos ernsthafter Festigkeit, hinbrin- gen , wohin er will. Nicht selten hat Ein Krankenwärter einen Tobsüchtigen ganz allein, zu Fuss, ins Krankenhaus gebracht, der alle die seinigen und noch dazu Gendarmen und Militärwachen in die Flucht geschlagen hatte ; Gewalt hatten diese nicht üben wollen und io waren ihm denn ihre Waffen blos lächerlich gewesen*

c) Ob «war der Kranke als solcher mit aller Schonung behandelt werden muss, die seinem Unglück gebührt, «o muss man doch gegen ihn den Schein annehmen, als seien 6eine Tollheiten kindische Ungezogenheiten oder noch et- was schlimmeres und alß verdiene er dafür Strafe. Nicht eine freundliche Sprache muss man gegen ihn führen , nicht ihm merktn lassen, dass man seinen Zustand als krank und seine Raserei als unwillkührlich erkennt, son- dern ihn behandeln wie ein ungezogenes, störrigee Kind, dem man auch nicht sagen darf, dass man wohl wisse, seine Unarten seien Folgen seines kindischen Alters. Da- her, sobald der Irre tobt, muss er in einen Zustand ver- setzt w erden , in dem er weder sich noch andern schaden kann und sich völlig überwältigt fühlt. Man hat dazu mancherlei vorgeschlagen ; ich habe mich nur zweier Mit- tel bedient, des Zwangstuhls und des Zwangbetts.

Der Zwangstuhl ist einem altmodigen Grossvaterstuhl ganz ähnlich, nur dass er fester gebaut ist und die zum Aufnehmen der Excremente des Kranken nöthige Vorrich- tung hat. An der Rücklehne müssen zwei Leder befestigt sein , die hinten drei bis vier Zoll , vorne aber einen Fuss breit sind, das eine mit Schnallen, das andere mit Riemen an der äusseren Seite versehen ; die innere muss sehr weich wattirt und so eingerichtet sein , dass sie nirgends drücken kann. Diese Leder werden dem Kranken über die Brust zugeschnallt. An jeder Armlehne muss unten in der Gegend, wo das Knöchelgelenk der Hand hinkommt, ein

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vier Zoll breiter, sehr gut gepolsterter Riemen sein, mit einer äusserlich also angebrachten Schnalle , dass sie durch- aus nicht drückt. Mit diesen werden die Hände ange- schnallt; nur muss der Riemen eng genug zugehen, das* der Kranke die Ilapd nicht durchzuziehen im Stande ist; er wird es gewiss versuchen. Ein Paar ganz gleiche Rie- men sind an den beiden Füssen des Stuhls nöthig, zur Be- festigung dea Fussknöchelgelenks. Meistens habe ich die Riemen zu schmal gefunden ; wenigstens die Kissen an ih- rer inneren Seite müssen durchaus vier Zoll Breite haben. Auf diesem Stuhl kann der Kranke Tage lang mit aller Bequemlichkeit, doch völlig abgehalten von Unfug, sitzen; er lernt erkennen, dass er abhängig ist und doch wird da- durch keine Grausamkeit verübt. Für Schwache oder kör- perlich Kranke ist

das Zwangbett. Eine sehr starke hölzerne Bettstelle wird am Kopfende gepolstert, damit sich der Kranke nicht an den Kopf stösst. Durch das Fussbret geht eine kleine runde Oeffnung, durch welche zwei unten festgemachte Stricke gehen, an deren Ende gefütterte Riemen für die Knöchel des Kranken sind. Ein breiter lederner, gepol- sterter Gurt wird über den Leib weg gezogen, und an den Seitenbrettern sind zwei gefütterte , breite Riemen für die Handknöchel. Auch hierin kann sich der Kranke durch- aus nicht schaden und wird doch völlig bezwungen.

d) Sobald der Kranke sich ruhiger zeigt, muss man ihm mehr Freiheit geben, herumgehen lassen, spazieren führen, ihm zeigen, dass man ihn nur binde, wenn sein Betragen dazu nöthigt, damit allmählig in ihm das Gefühl erweckt werde, dass man ihn gern mit Wohlwollen behan- deln möchte. Sehr viel wirkt hier in einem Irrenhause das Beispiel, der Anblick anderer Irren, die viel grösse- rer Freiheit gemessen, als er. Sobald er einigermassen ruhig ist , wird er ihnen beigesellt, aber er wird augen- blicklich von ihnen entfernt, wenn er aufs neue zu stören anfangt. Bei der Neigung der Tobsüchtigen, sich ihrer

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Tollheiten hinterher zu schämen, erreicht mail hierdurch \ sehr gut den Zweck, dass sie selbst ihren Ausbrüchen entgegen streben ; nicht sogleich und nicht in dem Augen» blick des Anfalls, wohl aber bei nur einigem Nachlass. Auf diese Art unterstütit man die Wirkung der eigentli- chen Cur, aber weiter kann man das psychische Verfahren nicht treiben.

158.

Gewöhnlich beginnt man das ärztliche Verfahren bei ausbrechender Manie mit Aderlässen: man meint, eine so heftige Krankheit könne nicht entstehen, ausser durch eine zu starke Anregung der Lebenskräfte, die man da- durch zu massigen gedenkt. Die Erfahrung hat schon längst entschieden, dass der Kranke nach Blutlässen um nichts ruhiger wird. Noch weniger helfen ihm Blutigel j an dem Kopf: man versäumt seit Broussais Zeiten selten dies Mittel, aber in der Manie bleibt es durchaus ohne Erfolg. Die Aerzte trösten sich gewöhnlich damit, dass sie erklären, ohne Aderlässe und Blutigel wäre die Toll- heit noch viel heftiger geworden , aber es ist so wenig zu erweisen, als zu widerlegen. Andere, und zwar die besten Beobachter der Krankheit haben schon längst die Unwirk- samkeit der Blutlässe in dieser Krankheit eingesehen.

Es giebt Fälle, in welchen man Blut lassen muss; das sind die, in welchen man Grund hat, Apoplexie zu befürchten. Wenn alao das Lebensalter des Kranken , vorausgegangene Schwindelanfälle, Missbrauch starker Getränke, übertrie- bene Bewegung den Anfang der Krankheit begleiten, wenn der Kranke mit Hämorrhoiden behaftet i»t, wenn die Pu- pille weit, der Puls langsam ist, so sichert man ihn durch ein Aderlass gegen die allerdings drohende Gefahr des Schlagflusses. Er stellt sich auch wohl bei schwachen Subjecten ein, wo man ihn gar nicht erwartete, um so eher bei solchen. Zur Beruhigung der Manie aber ist daa Blutlässen unnütz, ja sogar schädlich. Denn der Grund

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der Krankheit ist nicht erhöhter Blutandrang nach dem Gehirn , der es vielmehr beschwert , Schläfrigkeit und ge- ringere Thätigkeit der basischen Vorstellungskräfte hervor- bringt. Schwächt man die Kraft des Herzens, so erhebt man eher die des Gehirns , da das Herz mit diesem in antagonistischem Verhältniss steht, also durch dessen Ener- gie beschränkt wird. Das gesammte sensible Leben stei- gert seine Aeusserungen durch Vermindern des plastischen und so erklärt sich die nachtheilige Folge der Blutauslee- Tungen , die nur das plastische Leben unmittelbar schwa- chen.

159.

Viel wirksamer als Blutlässen sind gleich im Anfänge der Krankheit kalte Uebergiessungen über den Kopf, und wo e* unthunlich ist , diese anzuwenden , kalte Umschläge über denselben. Dies ist auf alle Fälle in dieser Krank- heit das Hauptmittel, denn indem es sehr stark und schnell die äussere Fläche reizt, mindert es direct und plötzlich die Irritabilität des Gehirns, deren Erhöhung eben die nächste Ursache der Krankheit ist. Zugleich erhöht es die Contractilität der Hirngefässe, wie kein anderes Mittel thun würde, das die Kopfhaut reizt, und indem die Application den Kranken überrascht und nicht ohne Zwang ausgeführt werden kann, giebt sie ihm auch mehr als alles die Ueber- zeugung von seiner Abhängigkeit. Die anhaltende Wirkung der Kälte ist lange nicht so wohlthätig , als die momen- tane, aus dem einfachen Grunde, weil diese viel stärker die Haut reizt, als jene, die mehr in das Gefässleben des Kopfs einwirkt, als in die Nerven. Die Kranken werden im Augenblick ruhiger und erschrecken bei der ersten Ue- bergiessung. So wie sie sich beruhigen und besinnen , schämen sie sich ihrer vorigen Heftigkeit und wenn sie wieder anfangen zu toben , kann man ihnen mit neuer Ue- bergiessung drohen, selten ohne Erfolg. Toben sie aber dennoch, so muss man durchaus auch die Drohung wahr

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machen, wie denn nichts gefährlicher ist, als solchen Kranken drohen, was man nicht ausführen kann; sie sind ohnehin geneigt, über alles au spotten und durch nichts macht man sich leichter lächerlich, als wenn man droht, ohne dass irgend eine Handlung die Drohung gut macht. Wer je die Wirkungen dieser kalten Sturzbäder auf den Kopf an Tobsüchtigen gesehen hat, wird sie gewiss immer wieder anwenden. Der Kranke, der nicht anders als gebunden und mit Gewalt in die Wanne gezwungen werden konnte , der achrie und lärmte , bis ihn das Was- ser berührte, sitzt nach dem zweiten, dritten Eimer ganz still im Bade, steht ruhig auf, lässt sich geduldig anklei- den, schaudert ein Weilchen vor Froat, bleibt, ohne alle Befestigung, alsdann ruhig im Bett, spricht nichts oder doch sehr wenig; seine Haut wird wärmer, als sie vorher war und gewöhnlich vergeht eine Stunde wenigstens in voller Ruhe; dann klagt er über grossen Hunger. Nun wartet man ab, bis er wieder tobt; dann kündigt man ihm an, wenn er nicht ruhig sei, müsse er wieder gebadet werden. Eine Weile hilft die Drohung und wenn sie nichts mehr hilft , so wird sie vollzogen. - Die beste Art, sie zu vollziehen, ist, wenn man den Kranken, in einen leinenen 31antel gewickelt, in eine leere Wanne setzt, an deren Kopfende einige Stufen angebracht sind, auf die der Wärter mit einem Eimer voll kaltes Wasser tritt, welches er von dieser Höhe herunter ganz ruhig über den Kopf des Kranken ausgiesst. Ein Gehülfe reicht ihm sodann einen zweiten Eimer, und so kann man zwölf bis zwanzig nach einander ausgiessen lassen. Will man ihn erschrecken, so kann das Ausgiessen plötzlich mit einer gewissen Ge- walt geschehen. Auch kann man sich allenfalls einer Spritze bedienen, deren Rohr man auf den Kopf des Kranken rich- tet; es muss nicht zu eng und die Kraft der Spritze muss nicht zu gross sein. In Krankenanstalten wird gewöhnlich dies Uebergiessen um eine bestimmte Stunde vollzogen ; dies raubt ihm die Hälfte seiner Wirksamkeit. Das Ganze

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sieht dann mehr einem Geschäft ähnlicher, als einem Heil- verfahren ; dies hat seinen Werth nur, wenn es zu der Zeit vollzogen wird, in der das Befinden des Kranken es nötliig macht. Es giebt kaum einen Fall, in welchen dies Verfahren durch den körperlichen Zustand des Kranken verboten ist, den ausgenommen, wenn er an Lungensucht leidet, wenigstens Lungenknoten hat, die bereits Husten erregen. Alsdann befördern die kalten Uebergiessungen die Entwicklung der Lungensucht und beschleunigen deren Verlauf, unstreitig weil der Andrang des Blutes nach den Lungen durch die schnelle Entleerung der Kopfgefässe verstärkt wird, vielleicht auch durch die Erkältung der Haut , die in diesem Falle immer zum Schwitzen geneigt ist*

' 160.

Sehr häufig gelingt es ganz allein hierdurch, die Ma- nie gleich im Entstehen zu unterdrücken, ja ich wage zm behaupten, dass man diesen Zweck selten verfehlen wird, wenn man dies Verfahren gleich beim Ausbruch anwendet, wenn man den Kranken, so wie die Manie eintritt, aus seinen Umgebungen herausreisst, ihm, wenn er tobt, die Freiheit nimmt und ihm mit kaltem Wasser den Kopf be- giesst. Andere Mittel hat man kaum dabei nöthig, doch habe ich gewöhnlich noch eine Auflösung von Glaubersalz mit wenigem Brechweinstein nehmen lassen. Es ist ein gewöhnliches Vorurtheil der Aerzte, dass Arzneien, bei Geisteskranken überhaupt und bei Manien insbesondere nur in ungeheuren Dosen wirken; bei einigen Arten der Manie ist dies wirklich der Fall, aber nicht bei allen. Die einzige Ursache, weshalb man Laxirsalze geben muss, ist, dass man dadurch vom Kopf ableitet und im allgemei- nen beruhigend wirkt, weshalb man nicht drastische Pur- ganzen wählen muss, sondern blos Salze. Nebenher ist es gut, den Darmcanal zu entleeren, da gewöhnlich excessi- ver Appetit dem Ausbruche vorhergeht und der Kranke, wenn er nicht gehindert wird, allerlei undienliche Sachen,

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ja die ekelhaftesten , zu verschlingen geneigt ist. Hat er das gethan , so hindern oftmal diese unverdauliche ln- gesta lange Zeit die Wirkung des Salzes, allein deshalb kann man nicht von Unempfindlichkeit der Därme spre- chen. Aller andere Arzneigebrauch ist vollkommen unnütz, ja er kann schädlich werden , besonders schaden narkoti- sche Mittel in diesem Stadium. Die Diät des Kranken muss höchst einfach sein; er darf nichts reizendes genies- sen, besonders nicht Wein oder andere starke Getränke. Man kann ihm Obst, dünne Suppen, leichtes Brod genies- sen lassen, doch nicht zum Uebermaas, wie er wohl möchte: je weniger reichlich man ihn ernährt, desto eher gelingt es, ihn gleich anfangs zu befreien.

161.

Gelingt es nicht, den Kranken in den ersten Tagen durch dies Verfahren zu befreien, so ist wenig Hoffnung, dass es vor dem Eintritt des Fiebers gelingen werde. Man kann den Zeitraum, der für die Herstellung am günstigsten ist, auf ungefähr zwei Wochen bestimmen; dauert die Krankheit länger, so weicht sie nicht leicht, ehe die ob- beschriebene Periode der Abmagerung und des körperlichen Uebelseins eintritt. Man thut dann nicht wohl, vor dieser Periode sehr thätig zu sein, nicht nur, weil es vergebliche Mühe ist, sondern noch mehr, weil es die Hoffnung der Herstellung während der Fieberperiode mindert. Man pflegt wohl den Kranken alle Tage mit Wasser begiessen zu lassen , aber er wird es gewohnt und es leistet kaum merkliche Wirkung; allenfalls erbittert es ihn gegen seine Peiniger. Pinel rieth, die Kranken jetzt blos zu behüten, dass sie nicht sich und anderen schaden, aber nichts posi- tives mit ihnen vorzunehmen; ich glaube, dieser Rath ist der best«. Wenigstens taugt es gewiss nichts, wenh man sie mit Brechmitteln, mit Laxirmitteln ohne Ende misshan- delt; da« hat gar keinen Zweck und raubt ihnen die Kräfte, die sie späterhin sehr nöthig haben. Vollend« ganz thö-

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rieht ist es, sie mit schmerzhaften Mitteln zu behandeln, ihnen Haarseile zu appliciren, Brechweinsteinsalbe aufzu- schmieren oder gar durch Kauterisation künstliche Ge- schwüre zu erregen: diese hier völlig verkehrten Mittel werden sehr oft gemissbraucht und beweisen die Ignoranz der Aerzte , die Mittel anwenden , welche gerade für den entgegengesetzten Zustand des Kranken passen, also wohl geeignet sind, ihn kränker zu machen, aber nicht gesün- der. Zuweilen wirkt wohl die erste Behandlung einige Besserung, aber keine vollständige ; der Kranke schwatzt nicht mehr so unsinnig und heftig, auch giebt es Stunden, in welchen er ganz ruhig ist, aber dennoch ist er auch nicht im Besitz seiner Vernunft, erzürnt sich leicht, treibt Possen, fährt fort, alles um sich zu verachten, beschädigt seine Kleider und bleibt unfähig, sich zu beschäfti- gen. Dann sind die Uebergiessungen zweckmässig, wenn man merkt , dass der Kranke danach ruhiger wird ; ist es nicht der Fall, so kann man eher für ihn von warmen Bädern etwas hoffen. Man versucht ihn zu beschäftigen behandelt ihn freundlich, aber ernsthaft, lässt ihn Brech- weinsteinauflösung nehmen, wenn er unruhig oder störend wird und fährt fort, ihn bei magerer Kost zu erhalten. Dieser Schein von Besserung ist nicht viel werth ; er lässt fürchten, dass die Abmagerungsperiode später eintreten, wohl gar ganz ausbleiben werde. Doch zuweilen geht er ganz allmählig in Genesung über, die man durch schwache Gaben von Opium, durch stärkende Kost, warme Bäder und besonders durch den Schlaf befördern muss. Sehr wohlthätig ist es dem Kranken , wenn man ihm vor Schlafengehen ein Getränk aus gekochtem Wein mit Eiern und Zucker reicht oder ihn Thee mit etwas Rum trinken lässt; er schläft besser und genest schneller. Dazu muss jetzt die psychische Behandlung kommen, indem man den Kranken , immer nur kurze Zeit und mit nöthiger Abwech- selung, mit Dingen beschäftigt, die ihm neu sind und In- teresse für ihn haben.

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Dass die kalten Bäder bei der Manie Hauptmittel sind, ist nicht eine Entdeckung unaerer Zeit; schon Celsus spricht von ihnen als einem Mittel dea Asklepiades. Auch im Mittelalter waren sie nicht ausser Gebrauch. In Frank- reich führte man die Irren in Klöster; eines in Champagne hatte den Gebrauch, sie beim Eintritt in einer kleinen Kapelle der Kirche allein zu verschliessen , fasten zu las- sen, dann sie in Procesaion vor den Alter und von diesem an eine Quelle zu führen, unter deren von oben strömen- den Wasserstrahl sie gestellt wurden. Dann wurden sie in Procession nach dem Altar zurückgebracht und dies Ver- fahren mehrmals wiederholt, wodurch viele Heilungen ge- langen«,

162.

Die Hauptsache, worauf es bei Behandlung der Manie ankommt, ist, dass man die Zeit benutzt, wenn die Tob- sucht nachlässt und körperliches Uebelbefinden eintritt, denn in dieser Zeit wird das Schicksal des Kranken ent- schieden. Ist er recht gemisshandelt worden, mit über- triebenem Uebergiessen des Kopfs , mit Brechweinstein- salbe, die als ein recht gutes Surrogat der Tortur dienen kann, wenn sie so gebraucht wird, wie ich gesehen habe, und zum Beweis dient, dass die Künste der Inquisition nicht verloren, sondern nur in die Hände der Aerzte aus denen der Mönche gerathen sind ; wenn der Kranke mit Brech - und Laxirmittel aufs äusserste gebracht ist, so kann das hektische Fieber wohl tödtlich enden , gewöhn- lich durch Decubitus. Viel häufiger kann es aber in Blöd- sinn übergehen und der wahre Zweck der Cur ist, diesen traurigen Uebergang zu verhüten.

Die Ursache des Eintritts dieses hektischen Zustandes liegt vorzüglich in der langen Schlaflosigkeit der Kranken, die endlich nothwendig eine mangelhafte Ernährung, eine unvollkommene Plastik des Hirns hervorbringen muss, doch nicht eher Fieber bewirkt, als bis die Reaction des ge-

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schwächten Zustandes des Hirns die Ganglien ergreift. Darum tritt jetzt Mangel all EsSlust, Trägheit, Niederge- schlagenheit und leichte febrilische Bewegung eih. Es liegt also alles daran , dass tnan dem Kranken ruhigen Schlaf verschaffe, denn dadurch nährt man sein Gehirn, dadurch hebt man die kranke Rückwirkung ins Ganglien- System auf und bringt die Normalität des Hirnlebens zurück. Diesen Zweck kann man aber nicht immer auf einerlei Art erreichen, daher es unmöglich ist, allgemeine Vorschriften zu geben. Zuweilen reicht es hin, blos die Hindernisse des Schlafs zu entfernen, wenn sie in Schwäche, äusserer Unruhe, Mangel an gewohnten Bequemlichkeiten liegen ; zuweilen muss man den Kranken durch seiner Kraft angemessene Er- müdung im Freien dazu bringen ; zuweilen muss man den Schlaf durch Nahrungsmittel, durch etwas reizende, kräf- tige Kost herbeiführen; zuweilen kann man dazu das Opium benutzen. Ich weiss , dass mancher beim blossen An- blick des Wortes Opium in der Manie ein Anathema über mich ausrufen wird, aber ich weiss auch, dass dieg Mit- tel, richtig angewendet, durch nichts zu ersetzen ist und Heilungen mit einemmale zu Stande gebracht hat, die auf andere Art gewiss nicht gelungen wären. Es muss sogar, wenn es helfen soll, nicht in kleinen Gaben gereicht wer- den, sondern in grossen, denn in kleinen macht es blos heiter und vermehrt wohl gar die verkehrten Aeusserun- gen; soll es Schlaf machen, so muss es betäuben. Die Dosis muss freilich den Kräften angemessen sein; indessen habe ich es bis zu vier Gran auf einmal , mit dem Erfolg gegeben, dass der Kranke, der noch faselnd entschlummert war, mit ganz vollkommener Besinnung wieder aufwachte und auch hergestellt blieb, ohne Rückfall. So glänzend ist der Erfolg freilich nicht immer; dazu gehört ein Zusam- mentreffen glücklicher Umstände. Aber zuverlässig er- wacht der Kranke nach jedem ruhigen Schlaf, den man ihm verschafft hat, viel freier im Geiste, viel besser ala vorher. Ira Ganzen verlangt die« hektische Fieber die

stärkend -nährende Heilmethode und alle Mittel, welche diese nach Maasgabe der individuellen Umstände, erfordert.

163.

Hat ipan duj-ch diese* Verfahren die Reconvalescen* herbeigeführt, so muss mail sie durch psychisches Heil- verfahren behutsam unterstützen. Die Genesung erfolgt höchst selten auf einmal; im Anfänge gelingt dies eher. Der Kranke pflegt wohl noch immer täglich Anfälle zu haben. Manchmal gehen diese blos mit heftigem Weinen vorüber , manchmal mit leidenschaftlich heftigen Ausbrü- chen qder auf andere Weise, das schnelle strömende Schwa- ben und Reimen hört auf. Was er angreift, verdirbt er noch häufig, auch nepkt er wohl noch gern andere, ob- gleich nicht mehr mit dem Uebermuth, der Verachtung, die er im Anfang zeigte. Die Aufgabe des psychischen Verfahrens ist, den Kranken allmählig an Beschäftigung zu gewöhnen ; man muss ihn jetzt mehr loben als schel- ten, und was er schlecht macht, als Wirkung seines Un- glücks erklären, das ihn selbst jetzt zum öfteren betrübt, denn er fängt an, es zu fühlen. Entfernung aus dem Kreis anderer Menschen ist jetzt für ihn die empfindlich- ste Strafe, sie muss auch die einzige sein, aber mit aller Ruhe, mit Bedauern, dass seine Krankheit immer noch dazu nöthige, doch unerbittlich vollzogen werden. Ueber- haupt muss der psychische Arzt darauf halten, dass er nie ein Wort zurücknehme, dass seine Aussprüche so ab- solut sind, wie Gesetze und keine Appellation dagegen nur erlaubt, geschweige gehört wird. Deshalb muss er wohl überlegen, ehe er spricht, aber dann nichts vergeblich sprechen. Die Arbeiten, die man den Kranken machen lässt 9 müssen mechanisch sein, aber doch einige Aufmerk- samkeit erfordern Frauen sind leichter also zu beschäf- tigen, als Männer. Im Anfang muss man welche wählen die dem Kranken gchon bekannt sind , aber später durch- aus zu solchen übergehen, die ihm unbekannt sind. Man

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darf ihn anfangs nicht lange beschäftigen , desto kürzer, je schwächer er ist, auch nicht mit mehr als einerlei» Den Zweck und Nutzen der Beschäftigung muss der Kranke einsehen können. Man muss nicht die Geduld verlieren, wenn er Material verdirbt, aber nicht mit schlechter Aus- führung der Aufgaben zufrieden sein ; und sollte er sie noch so oft wiederholen müssen, so muss er gut machen, was man ihm aufgiebt. Dabei muss man sich wohl hüten, ihm Unlust zu erwecken; im Gegentheil, je mehr Lust man ihn an der Arbeit finden lässt, desto besser. Das ist nicht so schwierig, als es scheint; hat man im Irrenhause nur einmal das Beispiel und den Geist der Nacheiferung geweckt, so geht es leicht. Je weiter die Reconvalescenz vorschreitet, je mehr muss man den Kranken so behan- deln, wie es zu seinem früheren Lebensverhältniss passt. Aber man hüte sich wohl, ihn nicht zu früh in dasselbe wieder eintreten zu lassen , besonders wenn psychische Causalmomente seiner Krankheit, wie gewöhnlich, in dem- selben liegen.

164.

Bei periodischen Manien muss man gleich vom Anfang des Anfalls an dahin trachten, diesen zu beruhigen, durch dieselben Mittel , die im Anfang der gewöhnlichen Manie passen. Die Reconvalescenz erfolgt in denselben überra- schend schnell und vollständig; eben deshalb ist ihr nicht zu trauen, und der Kenner solcher Kranken kann allenfalls gleich nach dem ersten Anfalle Voraussagen, dass sie perio- disch wiederkehren werde. Den neuen Anfall zu verhüten vermag die Kunst äusserst selten ; das einzige, was sie ver- suchen kann, ist, eine totale Veränderung der ganzen kör- perlichen Stimmung zu bewirken. Ist eine frühere Kopf- wunde Ursache, so ist der Fall vollkommen unheilbar. Ist aber nichts vorhanden , was man als unüberwindliche Ursache ansehen könnte, so muss man irgend eine künst- liche Krankheit erregen , z. B. einen chronischen Durch«

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fall, eine bedeutende Eiterung, aber während der gesun- den Periode. Hier passen also künstliche Geschwüre, die aber gross sein und in starke Eiterung gesetzt werden müssen. Man verändere zugleich die Lebensart des Kran- ken, nähre den armen, abgezehrten stark und reichlich, lasse den wohlgenährten fasten u. s. w. Noch wichtiger int die Veränderung der Beschäftigung, die man niemals versäumen muss. Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, dass, wenn Gelehrte, Künstler, Staatsmänner von Manie befallen werden, auch nach völliger Wiederherstellung ih- nen nie erlaubt werden darf, zu geistanstrengenden Arbei- ten zurückzukehren, wenigstens nicht eher, als bis eine geraume Zeit nach der Herstellung verflossen ist.

165.

Besondere Rücksicht verdienen die Trunkenbolde , die in Wahnsinn verfallen ; man kann ihre Krankheit auf drei ganz verschiedene Arten reduciren. Wenn ein Mensch, starker Getränke ungewohnt, sich einmal übernimmt und dieser Rausch die Gelegenheit zum Ausbruch der Manie giebt , die vielleicht aus ganz anderen Ursachen schon vor- bereitet war, so gehört er gar nicht zu den Trunkenbolden und seine Krankheit ist zu behandeln, wie eine einfache Manie. Eben dasselbe gilt von denen, die im Stadium prodromorum sich Excesse im Trinken erlauben, zu wel- chen sie sonst nie geneigt waren. Auch die gehören nicht hiehtfr, die das Unglück haben, wenn sie berauscht sind, mehrere Tage in diesem Zustande zu verharren ; sie sind in grosser Gefahr, für toll gehalten zu werden, ob sie gleich blos betrunken sind. Solche Fälle giebt es wohl, wie denn überhaupt die Folge der Berauschung auch bei denen, die keine Gewohnheit aus dem Trinken machen, sehr von einander abweichen. Hier ist blos die Rede von Gewohnheitstrinkern.

Es giebt deren , die nach dem Genuss itarker Getränke äusserst heftig werden, toben, alle Menschen misshandeln,

208

allerlei grobe Exceise begehen, und sobald sie nüchtern werden, dafür sorgen, dass die Nüchternheit nicht lange dauere. Diese gelten dann für toll und sind eine wahre Plage der Irrenhäuser, in die sie eben so schnell zurück- gebracht werden , als sie entlassen sind ; meistens pflegen sie vor Freude über ihre Entlassung sich schon wieder zu berauschen, ehe sie aus dem Irrenhaus bis zur Hei- math kommen. Im Irrenhaus , wo sie natürlich keinen Branntwein finden, sind sie gauz bei Verstände, sobald sie ausgeschlafen haben. Ihre ganze Tollheit besteht also da- rin, dass sie nicht fähig sind, der Neigung zum Brannt- wein zu widerstehen (Wein trinken dergleichen Leute sel- ten), dadurch werden sie freilich unbrauchbar für die menschliche Gesellschaft und gehören ins Arbeitshaus , aber nicht ins Irrenhaus, denn wollte man alle Menschen da hinein schicken, die üblen Gewohnheiten nicht wider- stehen, so müssten diese sehr geräumig sein.

Eine zweite Klasse von Gewohnheitasäufern ist so weit gekommen , dass der Zustand der Berauschung eigentlich ihr habitueller iat ; haben sie nicht getrunken, so sind aie imbecill , zittern an allen Gliedern und taugen zu gar nichts. Bei solchen bedarf es nur einer sehr kleinen Quantität starken Getränks, um sie sogleich in den Zu- stand der Berauschung zu versetzen, der bei nur einigem Zuwachs sie als Tolle erscheinen lässt; während sie eigent- lich mehr den Blödsinnigen beigesellt zu werden verdie- nen. Da sie gewöhnlich bald an Wassersucht sterben und schon an Skirrhoiität des Magens leiden , ehe sie so tief sinken, so fallen sie selten lange der Welt zur Last, oft aber den Irrenhäusern , in welchen sie so wenig herge- stellt werden können , als ausserhalb. Ist es mit ihnen noch nicht so weit gekommen, dass sie Skirrh haben, so bleibt freilich nichts übrig, als sie einzusperren, wenn sie noch unter Aufsicht zu etwas brauchbar gemacht werden sollen. Hat die Aufsicht ein Ende, so trinken sie wieder, bis sie todt sind.

209

Die dritte Art von Krankheit, die als Folge der Trun- kenheit für Manie gehalten werden kann, ist die acuteste aller Manien, das Delirium tremens. Sie gehört unter die erst neu beobachteten Uebel. Zwar kannte man sie schon längere Zeit als Folge dei frisch gebrannten Rum«, vor- züglich unter den Schwarzen in den westindischen Kolo- nien, aber in Nordeuropa ist *ie erst so häufig geworden, seit man angefangen hat , Branntwein aus Kartoffeln zu brennen. Reiner Fruchtbranntwein scheint sie nicht her- vorzubringen. Sie ist mit allen ihren Eigenthümlichkeiten so oft und so genau beschrieben worden , dass ich mir die Wiederholung füglich ersparen kann und nur einige Be- merkungen zufügen will, die sie betreffen.

166.

Sie entsteht bei weitem nicht immer nach heftiger und wiederholter Berauschung, sondern oft auch bei denen, die Gewohnheitssäufer waren, aber eine Zeitlang den Ge- nuss ihres Lieblingsgetränkes unterlassen haben, sei es, aus welchem Grunde es wolle. Aber die Behandlung muss in beiden Fällen ganz verschieden sein , daher es wichtig ist, die Zeichen des Unterschieds zu beachten. Ist der Kranke aus dem berauschten Zustand unmittelbar in deli- rium tremens übergegangen , so riecht er aus dem Munde, wie einer , der sich nach vielem Trinken erbrochen hat : dieser wohlbekannte , abscheuliche Geruch fehlt bei denen, die durch ungewohnte Abstinenz erkranken. Beobachtet mau die letzteren, so sieht man , wie mehrtägiger Fieberzustand dem Ausbruch des Deliriums vorausgeht, aber kein Ge- danke an Berauschung. Die ersteren müssen durchaus von Anfang mit Ausleerungsmitteln behandelt werden; der Brechweinstein verdient vor allem den Vorzug. Selbst ein Aderlass ist nicht immer schädlich, obwohl ich glaube, dass die Fälle selten sind , wo er nützt ; er kann nur dann nützen, wenn Schlagfluss zu befürchten wäre. Ist schon von selber Erbrechen erfolgt, so kann man kein besseres

14

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Mittel wühlen , als Ricinusöl , in ziemlich reichlichen Do-

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sen: so wie es seine ausleerende Wirkung leistet, bessert sich der Kranke zusehends. Fährt er aber fort , sich zu

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betrinken und erleidet er dadurch neue Anfälle , so stirbt er endlich doch in einem derselben. Ganz anders müssen die behandelt werden, die aus Abstinenz erkrankt sind. Ihnen ist Aderlässen tödtlich und alle Ausleerungsmittel sind schädlich, ja da man nicht viel Zeit hat, so kann man

auch sie tödtlich nennen, weil sie Zeitverlust verursachen.

Diese Kranke sind es, die man durch Opium, besonders in Verbindung mit Aether, so schnell und so sicher heilt wie das schon oft gelehrt worden ist. Da diese Krankheit kaum hieher gehört, erwähne ich ihrer nur im Vorbei- gehen.

167.

Wesentlicher muss einer anderen Abart der Manie hier gedacht werden, der Puerperalmanie. Die allge- meinste Wirkung der Schwangerschaft ist, dass die Ernäh- rung des Mutterkörpers durch die Richtung der plastischen Kraft nach dem Fötalkörper leidet. Dadurch wird das Ge- hirn der Mutter geschwächt und zu allerlei Krankheit di- sponirt; noch kömmt hinzu, dass die Ganglien des Unter- leibs , das Nierengeflecht insbesondere, während derselben sowohl als durch die Geburt in ihrer Thätigkeit mächtig verändert werden. Daher schon in der Schwangerschaft sehr häufig grosse Veränderung der Gemüthsstimmung ein- tritt, die in einzelnen Fällen bis zur Schwermuth steigt. Die Disposition zur Manie ist während des Wochenbettes grösser, als zu anderer Zeit: leidenschaftliche Erschütte- rungen können leicht ihren Ausbruch bewirken. Erfolgt derselbe auf diese Art, so kann man nicht mit Wöchne- rinnen eben so verfahren, wie mit andern; besonders muss man sich der kalten Bäder enthalten, die sofort die Lacchien unterdrücken und dadurch neue Gefahren herbeiführen würden. Eher könnte man warme Bäder zu deren Bethä-

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tigung anwenden. Ueberhaupt sind erschütternde , stark eingreifende Mittel in diesem Zustande nicht passsnd ; man begnügt sich , abzuwarten , bis die unmittelbaren Fol- gen der Geburt vorüber sind , wo alsdann eine solche Ma- nie ganz nach denselben Grundsätzen behandelt werden muss, wie jede andere. Solche Manie muss man Mania in puerperio nennen, zum Unterschiede von der wahren Mania puerperalis, welche nichts ist, als Metaschematis- mus des Milchfiebers. Dies Fieber , welches nach dem dritten Tage gewöhnlich eintritt und sehr selten ganz aus- bleibt , eigentlich gar nicht zu pathologischen Erscheinun- gen gerechnet werden kann, sondern den nothwendigen Uebergang der erhöhten plastischen Thätigkeit von dem Uterus auf die Brüste bezeichnet, hat eine doppelte Krise, die durch Milchabsonderung und die durch Schweiss. Beide liegen einander näher, als man auf den ersten Anblick denken sollte, denn die Milchabsonderung kann nicht zu Stande kommen , als durch starken Trieb nach der Peri- pherie , folglich nicht ohne gleichzeitige Vermehrung der Hautthätigkeit. Nun ereignet es sich zuweilen, dass dies Fieber zwar eintritt, aber die Haut blos heiss und trocken wird, und auf einmal wildes Delirium ausbricht, mit plötz- lichem Nachlass des Fiebers. Dies Delirium aber dauert dann fort und stellt die wahre Mania puerperalis dar. Die Haut bleibt dabei völlig trocken und verliert bald die fieberhafte Hitze ; die Milchabsonderung wird sehr schwach vermehrt und verliert sich bald gänzlich , ohne Leiden der Brüste ; die Locchienabsonderung dauert ziemlich normal fort und endet, wie gewöhnlich, ohne merklichen Einfluss auf den Gemüthsaustand. Die Raserei ist gewöhnlich aus- serst heftig und die Kranke verräth in derselben einen hohen Grad von Salacität, manchmal schon vom zweiten Tage an: Tag und Nacht tobt sie ohne Unterlass. Von diesen Kranken ist wahr, was man irrig von allen mania- cis behauptet; sie vertragen grosse Gaben von Arzneien ohne alle Wirkung. Auch die Unempfindlichkeit gegen

14 *

212

die Kälte steigt hier höher, als bei jeder andern Krank- heit; ich habe gesehen, dass eine zarte junge Dame im Januar bei 15° R. Frost den Ofen zerbrach, die Fenster zertrümmerte und ganz nackt im Zimmer umherlief, in dem kein Mensch aushalten konnte; ihr Bett stand da, aber die Wärterinnen konnten sie weder dahin bringen, sich hineinzulegen , noch ihre Kleider anzubehalten ; trotz alle dem zeigte sich an ihr nicht die geringste Spur von Erkältung, auch erfror sie kein Glied, In dieser Manie er- folgt ganz sicher das ofterwähnte Stadium hecticum, selten später, als mit der zehnten Woche, oft viel eher. Die Ausgänge sind dieselben, wie bei allen andern Manien, doch wird die Genesung fast unfehlbar bewirkt, wenn man nur nicht Fehler begeht.

168.

Bei dieser Manie ist es leichter möglich, als bei jeder andern, sie in der Geburt zu ersticken, wenn es nämlich gleich bei ihrem Ausbruch auf der Stelle gelingt, den Schweiss herbeizulocken , der die natürliche Krise des Milchfiebers bildet. Man muss sich dazu des Kamphers aber in grossen Dosen bedienen, wie dies in meinen. Buche über die Krankheiten des Vorstellungsvermögens , S, 168, gesagt ist. Dazu muss man natürlich die Kranke bedeckt halten und sie warmen Thee trinken lassen, am besten mit einigen Theelöffeln Essig gemischt, was den Schweiss sehr befördert. Bricht er aus, so schläft die Kranke ein, schwitzt im Schlafe lange fort und erwacht dann, ohne von ihrem Zustande das geringste zu wissen. Kein ande- res Mittel als dieses passt hierzu, nicht einmal Bäder, die bei der grossen Unruhe der Kranken sich schwer anwen- den lassen und, wenn es geschieht, sehr leicht durch An- drang des Blutes nach dem Kopf das Uebel ärger machen, wenn sie heiss sind, aber dem Zweck entgegen wirken, wenn sie zu kühl sind. Gewiss kann aber dies Hervorru- fen des Schweisses seine Wirkung nur in den ersten Stun-

213

den der Krankheit thun, und glücklicherweise wird der Arzt gewöhnlich zeitig genug gerufen. In der Regel be- ginnt die Manie in den ersten Nachmittagsstunden , späte- stens bis 6 Uhr Abends , denn das Milchfieber beginnt nach 9 Uhr Morgens und nicht leicht geht es eher in Ma- nie über , als es sechs Stunden gedauert hat ; die Erschei- nung erschreckt die Angehörigen so, dass eie eiligst nach Hülfe senden. Die Aerzte aber denken dann immer zuerst an Aderlässe und Blutigel, die zu gar nichts helfen; dann wollen sie auch wohl ableitende Mittel brauchen, in der Meinung, dass entweder Entzündung der Hirnhäute vor- handen sei, oder gar Milchversatz nach dem Gehirn, wo- für ehedem die Krankheit allemal erklärt wurde. Dass die Kranke in ein -Paar Stunden wieder genesen kann, bewei- set doch wohl zur Genüge, dass sie keine Milch im Kopfe hat: der Verlauf der Krankheit beweist es eben so gewiss. Denn Extravasat in der Schädelhöhle hat doch wohl andere Folgen, als Tobsucht, aber nur diese währt fort, ohne Spur der Folgen eines Extravasats.

Ist der Versuch misslungen, die Krankheit gleich nach ihrem Ausbruch zu ersticken, oder sind die ersten Stun- den versäumt worden , so hat man nicht die Hoffnung ei- ner schnellen, augenblicklichen Heilung. Die Locchialab- sonderung darf nicht unterdrückt werden ; man wendet

I warme Bäder an, sie und die Ilautausdümtung zu beför- dern, dabei sucht man Ekelreiz zu erwecken, um der Kranken ein anderes Gefühl zu verschaffen, als ihr die Krankheit aufdringt. Aber dazu wird meisten« eine gute Portion Brechweinstein erfordert. Dieser erregt übrigen« unmittelbar Abnahme der Heftigkeit des Deliriums und der Salacität. Wollte man ihn unausgesetzt, Tag für Tag, monatlang fortbrauchen , so würde man so beträchtliche Schwächung des Digestionscanals hervorbringen , dass das hektische Fieber in der Folge leicht tÖdtlich werden könnte. Man kann also nur von Zeit zu Zeit dies sehr kräftige Mittel anwenden und muss die Zeit abwarten, wenn grös-

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sere Ruhe eintritt. Man sagt, dass Frauen augenblicklich genesen, wenn sie in diesem Zustande schwanger werden; mir mangelt hierüber Erfahrung. Aber der beschriebene hektische Zustand tritt bei jeder ganz gewiss ein; die Sa- lacität ist dann ganz verschwunden ; die Kranke tobt auch nicht mehr, sondern weint und ist ängstlich , dabei magert sie ab. Jetzt muss die stärkende, nährende Heilart durch- aus angewendet werden und der passende Gebrauch des Opiums ist Hauptsache mit diesen Mitteln kann man der vollständigen Herstellung gewiss sein, doch muss man sie , wie natürlich , nach der Individualität und dem Grade der Krankheit modificiren. Im unglücklichen Falle stirbt die Kranke eben so in Blödsinn , wie dies bei andern Ma- nien geschehen kann.

169.

Unvollkommenes, gehindertes Wirken der drei basi- schen Kräfte begründet das Wesen des Blödsinns , eben so wie accelerirtes Wirken derselben die Manie begründet. Schon daraus geht hervor, dass er eben so wie diese der grössten Verschiedenheit der Grade fällig sei. Mehr oder minder grosse Stumpfheit der Perceptivität , mehr oder minder grosser Gedächtnissmangel und mehr oder minder grosse Unfähigkeit zu combiniren und zu urtheilen sind seine allgemeinen und wesentlichen Symptome. Dabei fehlt es dem Kranken weder an quantitativer Urtheilskraft, noch an analytischem Vermögen, noch an dem der Ideen, noch an religiösen und sittlichen Gefühlen; seine Wrillensäusse- rungen sind stark und seine Begierden oft noch viel stär- ker. Allein jenen höheren Geisteskräften fehlt es an Ma- terial, auf welches sie wirken können, deshalb äussern sie sich schwach und unvollkommen. Triebe und Begierden aber sind stark, weil die Urtheilskraft fehlt, die sie regelt und mässigt. Es ist daher leicht möglich, Blödsinnige^ di« nicht an sehr hohen Graden des Mangels an Percepti- vität leiden, in Leidenschaft *u versetzen, die sich dann

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lieftig- äussert , weil sie nicht gezügelt wird, weil die Klug-

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heit fehlt, die sie sonst unterdrücken oder massigen würde. Ferner giebt es einen Mittelzustind zwischen Manie und Blödsinn, in welchem die basischen Kräfte bald überwie- gend thätig sind, bald in Unthätigkeit sinken, aber nie

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recht auf dem Normalgrade ihrer Wirksamkeit sich erhal- ten. Aeusserungen wahrer Manie wechseln also mit dem Blödsinn ab , doch so , dass dieser der perennirende Zu- stand bleibt und die Accesse dar Manie nur in kurzen Pausen ihn unterbrechen. In diesem Zustande bleiben ge- wöhnlich die , deren Manie nicht geheilt wird und er pflegt alsdann unheilbar das ganze Leben durch fortzube- stehen. Ja es giebt selten Blödsinnige, die nicht zuweilen, obgleich selten, maniatische Anfälle haben sollten. Dieser Ursache ist es zuzuschreiben, dass der Begriff des Blöd- sinns von den Schriftstellern fast immer zu eng gefasst wird , und manche zur Manie rechnen, was dem Blödsinn angehört , denn man muss den dauernden Zustand als Grund der Krankheit annehmen. Auch darin irrt man häufig , dass man den Blödsinn in den Untergang aller Fä- higkeit, vorzustellen, setzt, im Widerspruch mit der Er- fahrung, die häufig zeigt, dass Blödsinnige vielfältige Be- weise von dem besten Willen geben, sich anstrengen, um recht verständig zu handeln und dass es ihnen oft über alle Erwartung gelingt. Wie wäre es möglich , wenn nicht bei ihnen die ganze höhere Gesetzgebung der geistigen Wirkung thätig wäre? Offenbar sind es nur die basischen Kräfte des Vorstellens , deren Thätigkeit zu gering ist, um Material zu liefern, an welchem sich ihre Wirkung zeigen könnte. Blödsinn ist also in allem das vollkommene Ge- gentheil der Manie.

1 170.

Man theilt gewöhnlich den Blödsinn in den angebor- nen und den erlangten und versteht unter dem ersteren den, der die Folge irgend einer unvollkommenen Bildung

316

des Gehirns von Geburt in ist. Auch dieser hat seine Grade, vom Akephalos an, der gar keiner Aeusscrung von Bewusstsein fähig ist, bis zum blos ungeschickt gebildeten Schädel, der durch Mühe, die man sich giebt, selbst brauchbar zu Geschäften wird, wie man bei den Cretin« häufig Beispiele findet. Man nennt vulgär die von Geburt an Blödsinnigen Idioten und hat sogar den Idiotismus als «ine ganz besondere Form des Blödsinns unterscheiden wollen. Dazu gab es schwerlich einen anderen Grund, als den, dass der Idiot, weil die innere Gesetzgebung des Denkvermögens nie Gelegenheit hatte zu wirken , völlig unentwickelt geblieben ist, während der, der im Laufe des Lebens in Blödsinn verfiel , schon entwickelte Fähig- keit verlor, folglich zuweilen lichtere Blicke durchschim- mern lassen kann, als jener, woraus man schliesst, dass jenem alle menschliche Anlage fehlt. Aber das ist ein Irrthum. Wie ganz irrig das Locke sehe Princip : quod- cunque non fuit in sensu, non est in intellectu“ sei, zeigt sich bei diesen Menschen aufs deutlichste. Gewiss ! alle Kenntniss des Qualitativen gelangt allein durch die Sinne in den Menschen, aber weder das quantitative Urthcil, noch das analytische Vermögen, noch der Glaube an das Ueber- sinnliche und Sittliche sind ihm durch die Erfahrung ge- geben. Im Menschen, der von Geburt an blödsinnig ist, zeigt sich von dem allen keine Spur, bis etwa irgend ein mitleidiger, verständiger Mensch sich die schwere Mühe mit ihm giebt, seine Sinnlichkeit zu entwickeln, so weit es bei ihm möglich ist : sogleich zeigt sich , dass in ihm dieselben menschlichen Anlagen liegen, wie in glückliche- ren, nur dass sie nicht thätig werden konnten. Denn diese Anlagen sind nur formal und da§ Materiale,, an dem sie sich äussern sollen , muss von aussen gegeben werden ; ge- schieht dies nicht, so äuasert sich auch die innere Gesetz- gebung nicht, aber man kann nicht sagen, dass sie fehle.

217

171.

Wenn die Perceptivität ganz fehlt, so kann es auch weder Erinnerung noch Corabination geben. Die Percepti- vität aber setzt die Sinnlichkeit voraus, und gesetzt, dass ein Wesen leben könnte, das gar keine äussere Sinne hätte, so müsste es auch aller Vorstellung ermangeln. Man würde aber unrichtig den Schluss fortsetzen und sagen , die Per- ceptivität könne sich um so besser äussern, je vollständi- ger die Sinne wirkten: Blind- oder taubgeborne, die des- sen ungeachtet alle menschliche Geistesanlage entwickeln, beweisen das Gegentheil. Ebenso die meisten Blödsinnigen, deren Sinne sehr gesund sind. Schon hieraus erhellt, dass Perceptivität und Sinnlichkeit, so oft sie auch verwechselt werden, sehr wesentlich verschiedene Aeusserungen der Sensibilität sind. Je stumpfer die Perceptibilität, desto tiefer der Grad des Blödsinns. Man sieht unglückliche, die nicht einmal ihre thierischen Bedürfnisse percipiren, so dass sie ohne alle Klage verhungern würden, wenn man sie nicht fütterte, ja ich habe Blödsinnige gesehen, die wohl die Speise in den Mund nahmen, aber nicht nie- derschlangen, wenn man sie nicht durch Geberden dazu trieb. Dass sie dann eben so wenig das Bedürfnis« der Excretionen fühlen, versteht sich. Man kann als Zeichen des tiefsten Grads des Blödsinns festsetzen, dass sich die Kran- ken mit ihren Excretionen besudeln, ohne darauf zu achten. Bei diesem Grade vermisst man in der Regel alle Aeusserun- gen von Begierden und Leidenschaften ; mindestens sind sie unbedeutend. Dass solche Menschen zu aller Beschäftigung unfähig sind, versteht sich, indessen giebt es auch Blöd- sinnige , die durchaus zu keiner Thätigkeit zu bringen sind, ob sie gleich Begierden und Leidenschaften zeigen, ihre thierischen Bedürfnisse fühlen und deshalb sich nicht verunreinigen, wenigstens wissen, wenn sie es gethan ha- ben : dies könnte man dann als Maasstab des zweiten Gra- des des Blödsinns bestimmen. Den dritten Grad des Blöd-

318

sinns würden die einnehmen, die zwar Begierden und Lei- denschaften, oft ziemlich heftig, zeigen, übrigens fähig sind, «ich unter Aufsicht zu beschäftigen, und ihr Leben in der Regel ruhig in dumpfer Beschränktheit hinbringen. Den vierten Grad würden diejenigen einnehmen , die zwi- schen maniatischen Anfällen und dem blödsinnigen Zustand abwechseln; die basischen Kräfte wirken von Zeit zu Zeit exaltirt, aber ihr gewöhnlicher Zustand ist der der Schwäche. In ihnen zeigen sich Spuren des Erinnerungsvermögens , der Urtheilskraft, aber ohne Consequenz, auch sind sie nicht immer gleich deutlich. Man sieht wohl ohne be- sonderes Erinnern , dass diese Klassification nur ein Ver- such ist, im allgemeinen etwas über die verschiedenen Arten der blödsinnigen Aeusserungen zu bestimmen; in den Individuen fliessen alle Grade häufig in einander. Auch giebt es periodischen Blödsinn, so gut wie periodi- sche Manien, jedoch seltener. Eins der merkwürdigsten Beispiele dieser Art sah ich an einem jungen Rechtsge- lehrten, der viel geistige Bildung und Kenntnisse besass, aber in unbestimmten Zwischenräumen von Blödsinn befal- len wurde, welcher dann alle denkbare Stufen durchging. Die Krankheit begann damit, dass er mit seinem Anzug nicht fertig werden konnte, sondern den halben Tag vor dem Spiegel stehen blieb, um die Halsbinde zu ordnen. Jeden Tag wurde sein Zustand schlimmer; anfangs beant- wortete er noch Fragen, aber nach langem Besinnen und falsch endlich verunreinigte er sich und sank so ti«f, dass er den Löffel im Munde behielt, wenn er gefüttert wurde, aber nicht niederschlang , bis man ihn nöthigte. Dies dauerte nur einige Tage, dann erholte er sich wie- der und ging weit schneller zu vollkommenem Bew usstsein und freier Aeusseruiig seines Geistes über, als er in Blöd- sinn gesunken war. Die Krankheit dauerte so drei Jahre fort: dann habe ich ihn aus dem Gesichte verloren.

219

171.

Wie die Ursache des angebornen Blödsinns immer in nnvollkommner Bildung des Hirns besteht, so verbildet sich auch beim erlangten Blödsinn das Hirn immer, mehr oder weniger im Verhältnis der längeren oder kürzeren Dauer und des Grades der Krankheit. Aber diese Verbil- dung ist Folge, nicht Ursache des Blödsinns. Man findet bei allen Blödsinnigen den Schädel dicker als bei gesunden; das Hirn ist gleichsam welk und füllt seine Höhle nicht aus. Der hintere Theil des Schädels ist viel dicker, als der vordere, auch nimmt er nach aussen an Wölbung ab; die Entfernung von einem Ohr zum andern, über den Hinter- kopf gemessen, wird kürzer. Am auffallendsten zeigt sich das kleine Gehirn verändert, das meistens sehr welk er- scheint; dabei ist die vierte Hirnhöhle viel grösser, als sie im gesunden Zustande zu sein pflegt. Die Masse des Hirns ist in der Regel weicher ; zuweilen findet man sie zäher, als natürlich. Doch hängen diese Veränderungen von der Dauer und dein Grade der Krankheit ab. Der Blödsinn ist übrigens die einzige Form von Vorstellung*“ krankheit, bei der man bestimmte Veränderungen der Hirnbildung findet : alle übrige sind nicht mit solchen ge- paart, wenigstens ist es der genauesten Untersuchung noch nicht gelungen , dergleichen nachzuweisen , vielmehr hat die Erfahrung gelehrt, dass bei ganz Gesunden unerwartet grosse Fehler der Hirnbildung statt fanden, und bei Vor- stellungskranken manchmal dergleichen gänzlich vermisst wurden , oder wo welche vorkamen , doch nie eine be- stimmte Formänderung sich zeigte, sondern bald diese, bald jene, daher ihr Causselnexus mit der Krankheit dun- kel und zweifelhaft blieb. Die Veränderung des Hirns

*

beim Blödsinn beweisst Nahrungsabnahme desselben ; die Knochen werden dicker , weil das Mark abnimmt. Allein mit Unrecht würde man deshalb die nächste Ursache der Krankheit in Nahrungsabnahme des Gehirns setzen: es er- hellt weiter nichts, als dass bei fortdauerndem Blödsinn

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das Hirn nach und nach immer schlechter genährt wird. Wenn mit dem Vorstellen Verwandeln des Bluts nothwen- dig verbunden ist, so muss dies um so unvollkommener erfolgen , je mehr das Vorstellungsgeschäft im Ganzen sinkt. Auch die Gesichtszüge des Kranken verändern sich im Verhältnis zur Dauer und zum Grade seiner Krankheit; die Augen werden immer geistloser, die Mund- winkel immer hängender, alle Züge immer schlaffer, end- lich das Gesicht an der Stirn, zwischen den Augenbrau- nen, voll Runzeln, doch niemand wird glauben, dass hierin die Ursache der Krankheit sei, sondern diese Veränderun- gen als ihre Folge erkennen.

172.

Wenn die Thätigkeit der basischen Kräfte nie gleich stark ist , weder bei einzelnen Individuen , bei denen sie sich alle Tage vielfach, oft schnell auf irgend einen Reiz, verändert, noch comparativ bei verschiedenen Individuen gleich ist; wenn ihre Gradveränderungen in plus und mi- nus eine gewisse Breite haben, innerhalb welcher die Ge- sundheit besteht, so ist notorisch, dass sie auch eines minus fähig ist, das mit der Gesundheit des Individuums nicht besteht das ist der Blödsinn. Welche innere Be- dingungen ihn erzeugen, ist schwer zu sagen: ist die Hy- pothese erwiesen , dass die Verwandlung des Bluts die Be- dingung alles Vorstellens ist, so entsteht ein vorüberge- hender Zustand des Blödsinns, wenn das Blut zu dieser Verwandlung weniger fähig ist, als es sollte, und ein fort- dauernder, wenn das Gehirn die Fähigkeit verliert, es im Normalgrade zu verwandeln. Damit sind wir aber der Kenntnis» der nächsten Ursache des Blödsinns nur schein- bar näher gekommen, dann sofort entsteht die Frage: wie muss des Blut beschaffen sein, damit es der Verwandlung keine Schwierigkeit entgegenstellt , und wie muss das Hirn wirken, sie im Normalgrad zu vollenden? Wer weisi eine Antwort auf diese Fragen?

221

173.

Kennen wir demnach die nächste Ursache des Blöd- sinns nicht, so beachten wir die disponirenden Ursachen au demselben , nämlich zum erlangten , nicht aum ange- borenen und findet sie

a) in allen Arten anderer Krankheiten des Vorstel- lungsvermögens* Am häufigsten geht die Manie in Blöd- sinn über, wie schon erwähnt worden, aber auch jede an- dere der weiterhin zu bezeichnenden Krankheiten der Psyche kann diesen Ausgang nehmen. Jede kann nach und nach die vitalen Thätigkeiten des Hirns zum Sinken bringen.

b> In allen convulsiven Krankheiten. Von diesen gilt ganz dasselbe , auch von der nervösen Apoplexie , von den ' Krankheiten der Sinnlichkeit, überhaupt von allen Krank- heiten der Sensibilität. Sie alle können die Bedingungen des Vorstellens aufheben.

c) Im hohen Alter, dem Marasmus. Wenn die Vege- tation sich ihrem Ende naht, ist es die des Hirns, die früher zu Grunde geht, als die des Herzens. Die Natur umschleiert den Tod , indem sie dem absterbenden Greise immer mehr die Fähigkeit raubt, zu gemessen und zu em- pfinden, endlich auch zu denken.

d) In allen Krankheiten , die den Organismus des Hirns verletzen. Hier ist sehr merkwürdig, dass diese nicht immer Blödsinn hervorbringen ; viel begreiflicher ist, wenn sie es thun. Also alle Verwundungen, Erschütte- rungen, Eiterungen , Ausschwitzungen, Verwachsungen, Ergiessungen und fremde Bildungen in der Schädelhöhle können Blödsinn zur Folge haben.

e) In heftigen Erschütterungen , durch Leidenschaft, besonders Schrecken. Eben dahin gehört auch die Wir-

1 kung des Blitzes.

f ) ln langer Schlaflosigkeit, welche eine Art von Atrophie des Gehirns nothwendig erregen muss.

g) In grossen, erschöpfenden Krankheiten der plasti-

22 2

sehen Lebenssphäre. Nicht nur dass während derselben der Kranke in einer Art von blödsinnigem Zustande sich befindet, so kann auch nach denselben so grosse Schwäche Zurückbleiben, dass der Kranke noch lange, ja wohl gar für immer , geistesunfähig bleibt.

Doch alle diese Ursachen reichen nicht aus. Es giebt Fälle von Blödsinn, die durch keinen der genannten Um- stände herbeigeführt sind, von welchen wir gar keine

disponirende Ursache kennen, die wir als blos idiopathisch

erklären müssen. Wir vermuthen dann, dass eine ganz unbekannte Veränderung im Gehirn vorgegangen sei, oder

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dass eine andere Hirnkrankheit habe ausbrechen wollen, z. B. Convulsionen , aber statt ^derselben das Gehirn blos unfähig worden sei, vorzustellen.

174.

Man pflegt gewöhnlich den Blödsinn als völlig Unheil- j bar zu bezeichnen, auch ist er es leider in den mei- sten Fällen. Schon aus der Aufzählung seiner Ursachen ergiebt sich, dass es ganz unheilbare Fälle geben muss;

wer kann z. B. einen Menschen je zum freien Gebrauch

menschlicher Geisteskräkte erheben, dem die Natur kei- j nen glücklich gebildeten Schädel bei der Geburt mitgab? Wer einen Menschen herzustellen hoffen, der durch lange j Epilepsie endlich bis zum Blödsinn herabgesunken ist und selbst die gesunde Form des Schädels verloren hat, die er früher hatte? Wer kann den Marasmus aufheben, der dem nothwendigen Ende des Lebens vorausgeht? Wer kann Steatome, die sich im Schädel bilden, vertilgen? Wer so manche andere Verbildungen des Schädels und Gehirns? Allein aus Betrachtung eben dieser Ursachen ergiebt sich auch, dass zuweilen Heilung «ehr möglich sei. i Wer z. B. durch lange Schlaflosigkeit erschöpft endlich in Blödsinn fällt: kann der nicht wieder erquickt, kann sein Gehirn nicht wieder ernährt, der Gesundheit zurückgege- | bau werden? Wer durch schwere Krankheit bi* zum i

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Blödsinn angegriffen ist, kann er nicht allmählig wieder zu seiner früheren Kraft gelangen? Und können nicht alle, die in Folge grosser Erschütterung des Geistes die Besinnung verloren, aus ihrer Betäubung wieder erwachen? Schwieriger ist die Aufgabe für die, deren Vorstellungs- Vermögen durch lange Dauer anderer Krankheit so zer- rüttet ist, dass sie endlich in Blödsinn fielen, doch gelin-

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gen auch bei einzelnen von diesen zuweilen längst für un- möglich gehaltene Heilungen. Eher noch hat man Grund zu hoffen, dass, wenn zufällige Desorganisationen des Hirns oder Schädels Blödsinn zur Folge haben, dieser nach ge- hobener Ursache auch wieder aufhören werde. Wo man die Ursache gar nicht entdecken kann, hält es schwer, zu heilen, doch darf man nicht immer alle Hoffnung aufgeben.

175.

Die Natur heilt nur solchen Blödsinn , der durch vor-

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übergehende, zufällige Ursachen entstanden war, z. B. durch eine sehr erschöpfende Fieberkrankheit, durch Schrecken, durch den Blitz, durch Hirnerschütterung, durch lange Schlaflosigkeit. Als die Armee Napoleons 1813 aus Russland zurückkam, waren sehr viele Krieger, die täglich, allem Ungemach eines furchtbaren Himmels, aller Entbehrung ausgesetzt, vorwärts gemusst hatten, ohne je ruhen zu können, in einem wahrhaft blödsinnigen Zu- stand. Sie waren gleichgültig gegen alles , bemerkten nichts, was um sie her vorgieng , taumelten bewusstlos in Abgründe, sprachen nichts oder wenn sie sprachen, war es kindischer Unsinn. Wie viele Opfer wären zu retten gewesen, wenn sie Ruhe, ein Obdach, Erwärmung, Pflege gefunden hätten? Die wenigen, die so glücklich waren, dies zu finden, genasen auch freilich die erschöpftesten hatten für sich nicht so viele Besonnenheit, als nöthig war, für ihre Rettung etwas zu thun. Solche Kranke kann die Natur für sich heilen, wenn nur die Bedingungen nicht fehlen, unter welchen die Heilung möglich ist. Der Kunst

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gelingen aber zuweilen Heilungen, die die Natur allein nicht hätte zu Stande bringen können* Es giebt aber auch Kunsthülfen , die zwar nicht Heilung des Blödsinns bewir- ken, wohl aber so viel Besserung, dass die Kranken einen beschränkten Grad von Brauchbarkeit erlangen und sich selbst weniger unerträglich werden. Dies ist durch rein psychische Mittel möglich, während vollständige Curcn selten oder nie durch diese allein bewirkt werden, son- dern durchaus solche erfordern, die das plastische Leben verändern.

176.

Die allgemeinste Heilabsicht beim Blödsinn muss sein, die Vegetation des Hirns zu erhöhen und zu verbessern, da jedesmal bei dieser Krankheit das Hirn welkt, folg- lich unvollkommen vegetirt. Die Irritabilität des Gehirns ist beim Blödsinn unter den Normalgrad herabgesunken, wie sie bei der Manie erhöht ist» Hieraus folgt, welcher Mittel wir uns bedienen müssen , nämlich sowohl einer im ganzen stärkenden und nährenden Heilmethode , als insbe- sondere der Mittel, welche specifisch die Vegetation des Hirns zu erheben vermögen. Wir haben bereits den Wein- geist und das Opium als die Mittel kennen gelernt, von welchen wir dies am ersten zu erwarten berechtigt sind, und wirklich kann durch richtige Anwendung derselben manche Heilung gelingen. Doch können auch noch man- che andere Indicationen eintreten ; so kann es nöthig sein, die tief gesunkene Perceptivität vor allen Dingen durch kräftige Sinnenreize zu wecken» Es kann ferner nöthig sein, der Erinnerungskraft, dem Combinationsvermögeil zu Hülfe zu kommen. Endlich da Blödsinnige zuweilen sehr heftige Triebe und Leidenschaften haben, so kann nöthig werden , die Ausbrüche derselben zu massigen. Zu- letzt können die maniatischen Anfälle, die zuweilen mit dem blödsinnigen Zustand abwechseln , Depression erfor- dern. Auch eine andere Art von Verfahren ist bei denen

225

nothwendig , bei welchen fortbestehende Krankheiten die Ursache des Blödsinns enthalten, doch können wir dies nicht zu dem eigentümlichen Verfahren bei dieser Krank- heit rechnen. Wer wird z. B. sagen, das Aufheben eines Stücks de« Schädels , dessen Druck auf das Gehirn Be- wusstlosigkeit hervorbrachte, sei eine Cur des Blödsinns? Eben so wenig kann man die Heilung convulsiver Krank- heiten so nennen , die jedoch schwerlich mehr gelingen wird, wenn sie schon bis zum Blödsinn gekommen sind.-— Zuweilen hat die Selbstbefleckung, wenn sie bis zum Ex- cess getrieben wird, Blödsinn zur Folge. Hier ist manch- mal Hülfe möglich, wenn man die schädliche Gewohnheit aufhebt. Bei Frauen hat man in solchen Fällen mit dem. glücklichsten Erfolg die Klitoris exstirpirt, bei Männern hat man die Infibulation mit geringerem Nutzen versucht. Es ist schwer, Mittel zu finden, die dem Manne sein La- ster unmöglich machen; am Tage kann man ihn beobach- ten , aber wie hütet man ihn des Nachts ? Lässt man ihn in der Zwangweste schlafen, so muss man sie locker bin- den, damit er frei athmen könne, und dann findet er Mittel , die Hände herauszuziehen. Ich habe Handschuhe machen lassen , deren innere Seite von Rindsleder und steif ist , während die äussere von Kalbleder ist , versteht sich ohne Finger: sie werden mit einem schmalen Riemen am Handgelenk festgeschnallt, dass sie der Kranke nicht ausziehen kann. In diesen kann er so bequem als möglich schlafen und doch gewiss nicht onaniren.

i . 177.

Es ist gewiss ein schädliches Vorurtheil , dass matt mit so grosser Sorgfalt den Geisteskranken alle geistige Getränke entzieht; während des Uebergang» von andern Vorstellungskrankheiten , besonders von der Manie, in Blödsinn ist mässiger Weingenuss ohne Zweifel eines der besten Mittel , sie zu heilen und vor diesem Uebergang 2u bewahren. Eine gute , kräftige Diät ist allewege dabei

15

226

erforderlich, und dazu gehört der Wein. Der Missbrauch freilich ist hier wie überall schädlich. Wenn bei Manien die Periode des schleichenden Fiebers eingetreten ist, reicht oft gute Diät allein hin, den Kranken vor Ueber- gang in Blödsinn zu schützen. Dass man, sobald die er- sten Spuren dieses Zustandes eintreten, sofort mit kalten Bädern aufhören müsse, versteht sich ; wie alle kräftige Mittel ist auch dies mitunter sehr gemissbrauclit und manchmal so lange fortgesetzt worden , bis schon völliger Blödsinn da war; ja ich habe Irrenhäuser gefunden, wo man alte Blödsinnige tagtäglich mit kaltem Wasser begoss. Es ist schon oben vom Gebrauch des Opiums am Ende der Ma- nie und beim Uebergang derselben zum Blödsinn gespro- chen worden ; man kann das Opium bei beginnendem Blöd- sinn in doppelter Absicht anwenden, entweder um das Gehirn zu reizen und dessen Vegetation zu beleben, oder um Schlaf und eine nachdrückliche, schnelle Wirkung auf dasselbe hervorzubringen. In letzterem Falle muss man es, wie erwähnt, in grosser Gabe reichen, so dass es ru- higen Schlaf bewirkt und gewöhnlich findet sich , dass da- zu kleine Gaben nicht hinreichen. Man versucht erst, einen Gran zu geben; bleibt er ohne Wirkung, so giebt man nach 24 Stunden zwei und mehr, bis man den Zweck erreicht. Ganz anders verfährt man, wenn man blos rei- zen und das Gehirn betliätigen will; dann muss man kleine Gaben des Mittels oft nach einander reichen, aber allinäh- lig die Gaben grösser machen und wenn Besserung erfolgt, nicht gleich mit der Arznei aufhören , sondern ganz all- mählig weniger geben und den Genesenden nach und nach wieder von dessen Gebrauch entwöhnen. Am sichtbarsten ist der Nutzen des Opiums in der Epilepsie: man kann durch dasselbe lange Zeit, ja viele Jahre durch, den Blöd- ginn abhalten und die Krankheit zwar nicht heilen, aber doch in Schranken halten ; es zeigt sich sogleich, wie w ohl- thätig es wirkt, wenn man es eine Zeit lang aussetzt. Die Kranken verlangen sehnlichst nach ihrem gewohnten

22?

Opium, verfallen in heftige Zuckungen und in Blödsinn, aus dem man sie sofort durch neue Gaben von Opium herausreisst.

178.

Es giebt Blödsinnige , deren Perceptivität so gesunken ist, dass nichts auf sie Eindruck macht. Bei diesen ver- sucht man körperlichen Schmerz als Heilmittel; das zweck- massigste Verfahren ist, das« man ein Haarseil im Nacken zieht. Ich habe es häufig gethan , aber ich muss einge- stehen, dass ich bei weitem nicht immer den gewünschten Erfolg davon gesehen habe : es reizt wohl ein wenig auf, allein es hebt nicht diesen traurigen Zustand» Mehr noch glaube ich davon gesehen zu haben , dass man solche ganz stumpfsinnige in Leidenschaft setzt, aber das kostet oft grosse Mühe , und wenn es erreicht wird , beruhigen sie sich nicht bald wieder. Wie Thiere mehr auf Gebehrden als auf Worte achten, muss man auch solche, Unglückliche durch drohende Gebehrden in Furcht oder in Zorn setzen; zuweilen hat das Necken anderer Kranken am allermeisten geholfen , sie aus ihrem Stumpfsinn zu reissen , indem sie endlich zornig machte. Als schmerzerregendes Mittel hat man auch das Glüheisen empfohlen; ich gestehe, das« ich es für bedenklich halte. Die Brechweinsteinsalbe scheint mir ganz verwerflich : man kann durch sie cariöse Geschwüre des Schädels veranlassen und die Schwächung, die sie durch die grosse und langwierige Eiterung erregen, kann unmöglich ohne Nachtheil sein. Mit Schauder erin- nere ich mich einer blödsinnigen Frau, der man auf dein Rücken Brechweinsteinsalbe eingerieben halte, ehe man sie zu mir brachte : mehrere Dornfortsätze der Rücken- wirbel und das eine Schulterblatt waren cariös und ein grosses, depascircndes Geschwür von mehr als sechs Zoll Durchmesser deckte den halben Rücken. Irrenhäuser müs- sen keine Marterkammern sein , am wenigsten muss man sich erlauben, mit dergleichen Dingen fortzufahren, wenn

15 *

228

* )

man sieht, dass sie ohne Erfolg bleiben. Es ist wahr, dass nur die allerheftigsten Reize, also Schmerz oder Lei- denschaft, aus dem äussersten Grad des Stumpfcinnes we- cken können, ist aber dies gelungen, so wird man finden, dass man durch erfreuliche Eindrücke viel mehr gewinnt, als durch widrige, und diese auf jene folgen lassen.

179,

Ob es Arzneien giebt, die das Gedächtniss stärken, muss ich andern zu beurtheilen überlassen ; ich kenne keine , eben so wenig , als solche , die das Urteilsvermö- gen beleben. Dass man aber durch psychische Mittel bei- des könne, ist gewiss, nur gehört viel Geduld zu ihrer Anwendung bei Blödsinnigen. Sie lernen endlich papa- geyenmässig etwas nachsagen ; damit fängt man an , um sich den Weg zu bahnen, dass man sie dahin bringe, et- was zu thun. Die Arbeit sei so einfach als sie wolle, so übt sie das Gedächtniss und die Urteilskraft zugleich, weit besser als alles, was man sonst zu diesem Zweck vor- nehmen könnte. Es ist unglaublich, wie weit man es durch Beharrlichkeit bei diesen Kranken bringen könne. Ich erfuhr einst, dass auf dem Lande in einem Bauern- höfe die ganz wahnsinnige Tochter des Eigentümers auf- bewahrt werde: ich fand ein etwa zwanzigjähriges Frauen- zimmer so gut als nackt, mit grässlich verwildertem Haar, voll Koth, in einem Stall im Hofe; sie stiess blos ein un- articulirtes Geheul aus. Da sie nie Spuren von Vernunft gezeigt, auch nie Sprache gelernt hatte, war sie so ver- nachlässigt worden. Ich bewirkte, dass sie zu einem Paar kinderlosen, schon betagten Leuten in die Kost gegeben wurde, die schon mehrere solche Unglückliche gepflegt hatten. Nach etwa achtzehn Monaten kam ich wieder au den Wohnort ihrer Pflegältern und fand die Thüre ver- schlossen ; ein reinlich , obgleich ärmlich gekleidetes Mäd- chen öffnete sie, gieng stumm vor mir her und setzte sich dann ans Spinnrad, mich schüchtern anblickend. Endlich

229

kamen die Pflegältern, sagten mir, dies sei die ihnen über- gebene, lieasen sie Gebete hersagen, die sie freilich nicht sehr deutlich sprach, überzeugten mich aber, dass sie an Reinlichkeit gewöhnt sei und unter Aufsicht allerlei klei- ne Hausarbeiten verrichten könne. Anfangs hatte wohl die Ruthe helfen müssen, aber sie versicherten mich, dass es seit Jahr und Tag nie mehr nöthig worden sei , sie zu bestrafen. Wer hätte dies bei einer von Geburt an blödsinnigen Person erwarten sollen?

180.

Da den Blödsinnigen die Urtheilskraft abgeht, die ge- sunde Menschen abhält, ihre Begierden und Leidenschaften frei zu äussern , so überlassen sie sich denselben oft mit grosser Heftigkeit. Sittliches Gefühl geht ihnen jedoch selten ab und sie sind leicht dahin zu bringen, dass sie ihr Unrecht fühlen, nur nicht im Augenblick der Leiden- schaft. Dass man während desselben zu Zwangmitteln schreiten müsse, zu hindern, dass sie nicht sich und an- dern gefährlich werden , versteht sich von selbst. Eben so muss man bei denen verfahren, die zuweilen in Manie verfallen , welche mit dem blödsinnigen Zustand abwech- selt. Die Sommerhitze reicht oft allein hin , solche An- fälle von Tollheit zu bewirken ; gewöhnlich treten sie wäh- rend derselben am stärksten und häufigsten ein. Kalte Uebergiessungen sind dann noch besser, fels Zwangmittel; sie machen ihnen schnell ein Ende und die Kranken selbst sehen sie als Strafen an, vor welchen sie sich fürchten. Um so eher verdienen sie Anwendung, als an solchen Kranken nichts zu verderben ist; ihre Heilung ist ohnehin nicht mehr zu hoffen, wenn der blödsinnige Zustand schon eine Zeit lang fortgedauert hat; so wenig also diese Bäder für Blödsinnige passen, so machen doch diese Anfälle von Tollheit eine Ausnahme nöthig. Moralisch muss man sie durchaus als Vergehungen behandeln, die sich der Kranke erlaubt hat, auch deshalb Strafen verfügen, doch diese so

230

einrichtgn, dass sie entweder den Kranken unschädlich ma- chen, oder seine Besserung beschleunigen. In Irrenhäusern hat man für solche Kranke ein abgesondertes , wo möglich entferntes Local nöthig, damit die andern Kranken nicht das Geschrei und Toben hören ; es wirkt nicht blos stö- Tend auf sie, sondern reizt sie zur Nachahmung. Dennoch muss ich mich wider die von Autenrieth vorgeschlagenen Zwangstuben erklären; der Kranke ist in denselben sich selbst zu viel überlassen und benutzt gewöhnlich den Man- gel an Aufsicht dazu, dass er Onanie treibt, wozu die maniatischen Kranken geneigt sind. Die Zwangweste ist ein Bestrafungsmittel bei leichteren Vergehen; bei schwe- reren liess ich die Kranken an ein Seil anbindeii, das von der Decke eines Zimmers in dessen Ecke bis an den Bo- den gespannt war, dazu wurden die Arme, mit der Zwang- weste bekleidet , horizontal ausgebreitet und an Ringe ge- bunden, die an den Wänden fest waren. Die Strafe sah abscheulich aus, schreckte also alle, die sie sahen, und doch litten dabei die Kranken nichts, als dass sie durch längeres Stillstehen schläfrig wurden. Die Coxesche Schau- kel, die Drehmaschine, halte ich eher für Mittel, wahn- sinnig zu machen, als Irre zu heilen. Dasselbe mag wohl vom Drehrad gelten. Beim Anblick aller dieser Mittel habe ich nie eine andere Empfindung gehabt, als die, dass die Tortur, seit die Juristen sie verbannt haben, sich zu den Aerzten gerettet hat. Wie vollends alle dergleichen Dinge zu der Ehre kommen, unter den Heilmitteln des Blödsinns zu figuriren , ist schwer zu begreifen.

1S1.

Irrenanstalten sind immer mit einer Menge unheilba- rer Blödsinniger bevölkert und es ist keine unwichtige Aufgabe für den Irrenarzt, dass er versuche, ihnen ihr Dasein so angenehm als möglich zu machen und zugleich den Verlust möglichst zu vermindern, den ihr unglück- licher Zustand der Gesellschaft veranlasst. Das Mittel

m

hiezu ist Thätigkeit. Nur sehr wenige Blödsinnige sind anhaltend in so tief gesunkenem Zustande, dass sie sich gar nicht beschäftigen können : die meisten sind fähig , täglich zu regelmässiger Beschäftigung angelialten zu wer- den und andere sind wenigstens die meiste Zeit dazu fä- hig. Die Schwierigkeit ist nur, wie und womit man sie beschäftige, da sie leicht verderben, was sie unter den Händen haben und Aufsicht über sie dabei unumgänglich nöthig ist. Diese zu erleichtern und den Verlust des Ma- terials ganz zu vermeiden, hat man sogenannte nutzlose Arbeiten vorgeschlagen , als Sand graben u. dgl, Wenn dergleichen als Spiel gehandhabt wird, mag es seinen Nu- tzen haben, wiewohl einen sehr problematischen, denn es ist äusserst schwer, Irre, namentlich Blödsinnige, zum Spielen zu vermögen: dazu gehört schon ein ziemlicher Grad von Reconvalescenz , indem sie ausserdem nur auf Commando spielen, ohne alle Lust und mit derselben Ge- sinnung, mit welchen Frohnbauern die Arbeit ihres Zwing- herrn unter der Zuchtpeitsche des Voigts ausführen. Sonst ist gerade umgekehrt nothwendig, dass der Zweck der Arbeit dem Irren recht einleuchte , denn kein Mensch kann weniger die Idee fassen, dass Arbeit als solche sub- jectiven Nutzen habe, als ein Blödsinniger ; wozu er ge- trieben wird, ohne dass er den Nutzen davon einsieht, er- scheint ihm als Narrheit, zu welcher er von der blossen Willkühr seiner Peiniger gemissbraucht wird , die viel un- verständiger sind, als er, da sie solche abgeschmackte Dinge verlangen.

Es ist gut, dass man die Blödsinnigen mit dem be- schäftige , was ihnen geläufig ist, also Professionisten mit der Arbeit ihres Gewerbes u. s. w. Man muss übrigens nicht anhaltende Arbeit verlangen, sondern ihnen Abwech- selung geben. Das lässt sich sehr gut einrichten, wenn man allerlei kleine Geschäfte, die in der Anstalt nöthig sind, täglich durch die Irren verrichten lässt, und dann mit den Professionsarbeiten abwccbselt. Aber diese selbst

232

müssen für den Kranken oder «eine Kameraden bestimmt

sein; der Schuster muss sich selbst zuerst, dann seinen

* *

Nachbarn die Schuhe machen. Schwierig ist’s, Belohnun- gen aufzufinden, zumal für den gemeinen Mann, der ge- wöhnlich nur zwei kennt, Geld und Branntwein, und die Behörden, die solche Anstalten verwalten, beschränken die Mittel. Auch tragen sie wohl Bedenken, die Werkzeuge zur Arbeit den Irren in die Hände zu geben, da diese sämmtlich dem Missbrauch unterworfen sind. Lange und vielfache Erfahrung hat mich überzeugt, dass die Irren sie nie missbrauchen, wenn man ihnen nur nicht merken lässt, dass sie es könnten und dass man dies von ihnen fürchtet. Sobald man es in einer Anstalt dahin gebracht hat, dass in ihr der Geist der Ordnung, der Thätigkeit herrscht, geht alles gut, das Beispiel erweckt dann auch den Stumpfsinnigsten ; sicher stellt sich dann auch der Geist der Fröhlichkeit ein und es werden Heilungen mög- lich, die auf andere Art gewiss nicht gelungen wären. Grosse Vorzüge haben in Absicht auf Beschäftigung die Frauen vor den Männern ; das Essen , die Wäsche , die Reinhaltung der Geschirre, des Hauses giebt viel mehr und viel abwechselndere Mittel zur Beschäftigung ; sie ver- richten sie lieber und verlangen nicht so nach Belohnung; der Nutzen ihrer Arbeit leuchtet viel näher ein, und es ist auch leichter, den Fleis zu belohnen, nämlich durch Putz : der unbedeutendste hat grossen Werth in ihren Augen.

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233

Cap. XIV. Von der krankhaften Rich- tung der Vorstellung nach aussen.

182.

Die Reihenbildung der Vorstellung kann dreifache Richtung haben, entweder ins Gehirn selbst, wodurch im- mer neue Combinationsreihen entstehen, oder in das Spi- nalsystem, wodurch die Bewegung der willkührlichen Mus- keln bestimmt wird, oder in die Ganglien, wodurch zuerst die Empfindung von Lust oder Unlust erweckt, dann aber die Thätigkeit der Eingeweide verändert wird, deren Le- ben das Ganglion beherrscht, auf welches die Richtung geht. Keine dieser Reflexionen schliesst die andere aus; sie können alle drei zugleich statt finden. Es wäre un- möglich , den Zweck der thierischen Schöpfung zu errei- chen ohne die Reflexion der Vorstellung ins Ganglien- system, ohne Erregung von Lust und Unlust; jene weckt das Begehren , ohne welches die Objecte der Ernährung und Befriedigung der Bedürfnisse nicht aufgesucht würden, und deshalb musste sie an die Reflexion in die Ganglien geknüpft sein, weil diese die Bedürfnisse des plastischen Lebens ins Gehirn reflecliren; die Unlust aber lehrt Ge- fahren abwenden und Schmerz vermeiden. Lust und Un- lust treiben das Thier zum handeln, zum Richten des Vorstellens ins Muskelsystem, zum Wollen, doch sind sie dazu nicht die einzigen Aufforderungen : das Thier ist

fähig zu wollen, auch ohne dass es durch Lust und Unlust dazu bestimmt wird, ja es vermag der Begierde entgegen zu handeln, sonst würde es unfähig sein, Schlauheit und List in seinen Handlungen zu zeigen. Alles, was der Thierheit gemein und nothwendig ist, das ist auch dem Menschen Gesetz und Nothwendigkeit ; er theilt also Be- gierde und Abscheu sowohl als Willen mit dem Thiere, nur dass diese Richtungen des Vorstellens bei ihm zugleich

234

unter dem Einfluss der höheren Gesetzgebung stehen. Diese Richtungen aber können krankhaft werden, erstens durch Erhöhung oder Verminderung ihres Grads über die Gränzen des Normalen, zweitens durch Alienation, und hierin steht er dem Thiere gleich ; allein sie können sich auch dem Einfluss der höheren Gesetzgebung entziehen, und hieraus müssen Erscheinungen folgen , die ihm allein zukommen , da ihm allein diese höhere Gesetzgebung zu- kommt. So entsteht eine Menge von Formen der Vorstel- lungskrankheiten , die von denen der Sinnlichkeit und von denen der basischen Kräfte sehr verschieden sind. Doch auch diese müssen nothwendig auf Begierde und Wollen grossen Einfluss haben ; diese Seite derselben haben wir in dem vorigen wenig berührt, weil es mir schien, dass sie erst durch die eben begonnene Untersuchung volles Licht erhalten könne. Die Natur verbindet alles, der Mensch aber trennt alles, um sie zu verstehen.

183.

Es findet im Muskelsystem eine merkwürdige, eigen- thümliche Opposition statt zwischen dem System der Re- spirationsmuskeln und dem der übrigen, die besonders durch das Spinalsystem regiert werden. Sie zeigt sich bei aller Gelegenheit; selbst im gemeinen Leben ist sie längst bemerkt worden. Das System der Sprachmuskeln macht einen Theil des der Respirationsmuskeln aus und man ist gewohnt, beständig den Unterschied zwischen Reden und Thun im Munde zu fuhren, ohne zu denken, dass das Reden ja auch ein Thun ist. Das Respirationssystem nimmt an Lähmungen , an Convulsionen des Spinalsysteras nicht Theil, oder wenn es ihn nimmt, erhalten die Er- scheinungen «inen auffallend andern Charakter. Je mehr sich Geistesthätigkeiten in Reden äussern, desto weniger äussern sie sich im Begehren und Wollen. Eben so um- gekehrt: mächtige Leidenschaft ist stumm, starker Wille ist, nicht beredt oder wortreich. Auch die Manie, die sich

235

in schnellen, heftigen Worten äussert, treibt viel weniger zu heftigen Handlungen und der Blödsinn , der den Men- schen verstummen macht, lässt ihm eher die Fähigkeit zu handeln, als der, welcher sich in unablässigem, leerem und albernem Schwatzen erschöpft. Dagegen ist mit der heftigen Begierde oder Leidenschaft immer unwidersteh- licher Trieb zu handeln verbunden. Vorstellungsreihen, die sich mehr im Gehirn selbst fortsetzen , als den Willen bestimmen, reflectiren sich aufs System der Respirations- und Sprachmuskeln. Doch giebt es auch Manien , die mehr den Willen und die Muskeln des Spinalsystems besimmen und schon Celsus unterscheidet die Krankheit, die sich in Worten äussert, von der, die zu handeln treibt (das intra rerba delirare vom factis vehementibus )♦ Diese letzte Manie nähert sich in ihren Aeusserungen sehr den hier zu beschreibenden Krankheiten.

184.

Die Krankheiten des W illens allein, ohne Leidenschaft, sind so selten und in ihren Erscheinungen so ungewiss, dass sie noch nirgends als besondere behandelt worden sind: wir beginnen mit denen der Begierde, von der Be- hauptung ausgehend , dass alle Vorstellung, wenn sie Be- gierde werden soll, eine gleichzeitige Thätigkeit im Gan- gliensystem veranlassen müsse. Dies System hat zwar Zu- sammenhang unter sich, allein jedesmal wird ein einzelnes Ganglion besonders und unmittelbar ergriffen , die anderen blos consensuell angeregt. Wir kennen die Bestimmung und Wirkung der einzelnen Ganglien viel zu wenig, als dass wir nachweisen könnten, welches bei jeder Art von Leidenschaft oder Begierde tliätig ist: nur dass der plexus coeliacus oder das grosse Ganglion semilunare Appetit oder Ekel, der plexus renalis Geschlechtsbegierde oder Abscheu erregt, wissen wir gewiss. Dass Muth oder Kampflust und ihr Gegentheil, Angst, Furcht in den Brustganglien ihren ♦Sitz haben, wissen wir zwar auch, aber nicht in welchen^ ;

236

auch Freude und Traurigkeit haben ihren Sitz in einem Brustganglion, aber wer kann sich getrauen, nachzuweisen welche« dies sei? Bios al« Vermuthung möchte ich Freude und Trauer im grossen Halsganglion, Kampflust und Angst in dem des Thorax suchen. Die Erscheinungen, wenn krankhafte Reflexionen des Gehirns krankhafte Thätigkei- ten eines Ganglions bestimmen , sind aber nothwendig äus- serst complicirt, theils wegen des Zusammenhang« der Ganglien unter sich und der consensuellen Erscheinungen, theils weil nicht blos die Ganglien vom Gehirn au« bethä- tigt werden, sondern ihre Thätigkeit aufs Gehirn zurück- wirkt , theils weil die Ganglien einer doppelten ganz ent- gegengesetzten Thätigkeit fähig sind, einer peripherischen und einer centralen, theils weil sie beide entgegengesetzte Erscheinungen in der plastischen Sphäre, in den Secretio- nen, veranlassen, und theils weil jede Vermehrung ihrer Thätigkeit zugleich ins System der willkührlichen Muskeln wirkt. Es ist also kein Wunder, wenn die ganzen hieher gehörigen Erscheinungen nichts weniger als aufgeklärt sind und in den Meinungen darüber grosses Schwanken herrscht, das nicht ohne grossen Nachtheil für die Praiis geblieben ist. Es ist der Zukunft Vorbehalten, noch manche* hier zu berichtigen und zu bestimmen; überall, wo die Fackel der Physiologie dunkel brennt, ist die Pathologie noch dunkler. Wenn es mir nur gelingt, auf diesen Gegenstand aufmerksam zu machen und einige der gröbsten Missgriffe der Praxis zu verhüten !

185.

Reflexfon der Vorstellung in ein Ganglion ist einer «ehr grossen Verschiedenheit des Grades innerhalb der Gränzen der G Wundheit fähig; von dem leisesten Anklang des Unwillens bis zu einem hohen Grade des Zorns ist ein weiter Weg, aber die Anregung aller dieser Grade ist ohne Krankheit. Es giebt aber in plus und minus einen Grad, mit dem die Gesundheit nicht mehr besteht. Swe-

237

cas Ausspruch: „ira furor brevis est“ ist in so fern rich- tig, dass hoher Grad des Zorns sich so sehr des Menschen hemeistern kann, dass die Gewalt der Leidenschaft ihn zu Handlungen treibt, die ihn dem Tollen gleich stellen. So lange jedoch der Mensch nur die Fähigkeit behält, sich selbst zu beherrschen, bleibt er gesund; verliert er diese so wird der Zorn zur Wuth, zu wahrhaft kranker Aeus- serung des Zorns , der die Gränze überschreitet , in wel- cher er die Normalität des Lebens nicht verletzt. Es ist schwer, an äusseren Zeichen diese Ueberschreitung des Grades zu unterscheiden , allein wenn ein Mensch bei al- len unbedeutenden Anlässen zum Zorn alle Mässigung ver- gisst, wenn er selbst diese Anlässe aufsucht und giebt, Wenn er mit Begierde sie ergreift und aufs äusserste treibt, so nennen wir ihn zornmüthtg und rechnen ihm dies, wenn «s zumal nicht Folge des Trunks, oder der Rohheit, oder «iner vorübergehenden Veratimmung, sondern gewöhnlicher Zustand ist , als Krankheit an. Doch kann auch ein An- fall von Wuth plötzlich bei einem sonst nicht zornmüthi- gen Menschen ausbrechen, der gewaltsame Befriedigung sucht und einen sonst sanften Charakter in ein gefährli- ches Thier verwandelt. Für den gerichtlichen Arzt ist 4ie Frage oft sehr schwer zu entscheiden, ob ein Mensch während einer Gewaltthat in diesem Zustand kranker Wuth» war, oder nicht; der nachfolgende, bleibende Zustand des- selben ist nicht der rechte Maasstab. Ein besserer ist, Wenn die Gründe der Leidenschaft in gar keinem Verhält- nis zu ihrem Grade stehen , wenn die Leidenschaft be- ifriedigt wurde ohne alle Klugheit und Schonung, selbst

«

inicht mit Rücksicht auf eigene Gefahr des Thäters , end- lich wenn derselbe nach der That in reuige Trauer ver- fiel. Bei alledem kann es dem listigen Verbrecher gelin- gen , zu täuschen und es ist deshalb dem Arzte grosse ^Voraicht zu empfehlen* Die Richter sollten in solchen ^Fällen nie mit dem Zeugnis eine« einzelnen zufrieden 'tein, sondern die« erst einem Medicinal-Collegium zur Un-

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tersuchung vorlegen. In dem Code Napoleon ist es ein bedeutender Fehler, dass dies nicht verordnet ist: die all- gemeine preussische Gerichtsordung befiehlt es* Wie dies Excesse der Leidenschaft in plus sind, so kann es auch einen Excess im minus der leidenschaftlichen Auf- regung geben, der zwar gewöhnlich als Folge des Stumpf- sinns, oder eines ungemein schläfrigen Charakters ausge- legt wird, aber auch wahrhafte Krankheitserscheinung sein kann, ja ganz idiopatische. Ich habe das Beispiel des Zorns als eine der auffallendsten Leidenschaften gewählt, um die Excesse des Grades zu zeigen : jede Leidenschaft ist eines solchen fällig; jede kann bis zur sinnlosen Wuth steigen; jede kann dem Menschen verloren gehen. Die Irrenhäuser liefern Beispiele zu allen , die aber häufig mit der Manie verwechselt werden, wenn der Grad der Lei- denschaftlichkeit erhöht ist, und mit dem Blödsinn, wenn sie vernichtet ist* Auch ist dieser Zustand sehr häufig mit andern Krankheiten des Vorstellungsvermögens cornpli- cirt* Da die Vernichtung der Leidenschaftlichkeit nicht zu Handlungen treibt , so wird sie gemeiniglich nicht als krankhaft beachtet, ja wohl gar als Tugend angesehen und dem Menschen als Selbstbeherrschung angerechnet, was ein Mangel ist* Nur einige Leidenschaften sind in Besitz, dass man ihr Vorkommen im excedirenden Grade für eigentümliche Krankheitsform erklärt, namentlich Trau- rigkeit , Angst und Geschlechtslust.

186.

Man benannte lange Zeit den Zustand, in welchem Traurigkeit oder Angst sich des Menschen bemächtigen, mit dem Namen Melancholie * Zuweilen ist es auch der Hass , der mehrentheils einen bestimmten Gegenstand wählt, dem er allerlei Bosheit andichtet; in seltenen Fäl- len macht der Mensch sich selbst zum Gegenstand seines Hasses und wüthet gegen sein Leben. Obgleich diese drei Leidenschaften, Hass, Traurigkeit und Angst, sehr ver-

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schieden sind und gewiss jede in einem andern Ganglion ihren Grund hat , so ist doch ihr gemeinschaftlicher Cha- rakter, dass sie das Leben des Unglücklichen , bei dem sie herrschend werden, verdüstern und zugleich das pla- stische Vermögen schwächen. Denn bei diesen Leiden- schaften ist die Thätigkeit der gereizten Ganglien eine centrische , keine peripherische ; die Organe , deren Leben die betroffenen Ganglien beherrschen, werden in ihrer Thätigkeit gehindert. (Wenn es schwer werden sollte, sich den Begriff zu verdeutlichen, den Rasori mit dem Worte contrastimulus verbindet, kann man hier ein recht klares Beispiel desselben sehen die Vorstellung reizt das Ganglion; «s wird thätig, allein anstatt dass die Or- gane, in die es seine Nervenfäden vertheilt, dadurch auch thätiger werden sollten, stockt in ihnen das Leben. Sie werden zwar ernährt, allein ihre Absonderungen, alle ihre peripherischen Thätigkeiten werden geringer, zugleich in der Art verändert. Folglich ein Reiz, der im gereizten Theile minus der Bewegung setzt, ist unter Contrastimu- lus verstanden ). Die Erscheinungen der Krankheit theilen sich also in drei Hauptgruppen : in die der Lei- denschaft selbst, in die des Willens, welcher durch sie bestimmt wird, und in die der plastischen Sphäre. Den Namen der Malancholie möchte ich mit dem der Schwer - muth ersetzen ; er ist gar zu unpassend und erinnert an die traurige Pathologie von der schwarzen Galle, die nicht nur nicht existirt, sondern, eine blosse Chimäre der Gale- nisten und ihrer seltsamen Elementarlehre, zur Verwech- selung der Wirkung mit der Ursache und zu groben prak- tischen Missgriffen verleitet. Das W^ort Schwermuth passt freilich auch schlecht zur prädominirenden Leidenschaft des Hasses oder der Angst, allein es ist doch allgemein verständlich und bezeichnet im Ganzen den Zustand des unglücklichen Krankeu. Wer jedoch ein passenderes Wort weiss , der möge es aussprechen !

240

187.

Wohl mit Recht müssen diese Kranken unglückliche genannt werden, denn es ist nicht wohl denkbar, dass ein menschliches Wesen in einen bedauerungswürdigeren Zu- stand sinken könne, als durch diese Krankheit. Ist die Traurigkeit prädominirende Leidenschaft, so spricht der Kranke wenig, ist unfähig zu jeder Thätigkeit, setzt sich selbst in den verächtlichsten Ausdrücken herab, seufzt, nimmt an nichts Antheil, verweigert zuweilen aufs hart- näckigste alle Nahrung, schläft nicht, sucht die Einsam- keit, ist scheu und schüchtern in Gegenwart anderer; da- bei ist die Haut kalt und trocken, der Appetit stark, wenn ihm nicht der Entschluss einfällt, sich todt zu hungern, die Pupille zusammengezogen, das Auge glanzlos, der Blick gesenkt, die Leibesöffnung fehlt oder die Faeces sind tro- cken und sparsam , der Abgang wässrigen Urins ziemlich häufig, der Puls klein, nicht frequent, doch auch nicht langsam, härtlich, der Athem langsam, tief. Andere ha- ben von solchen Kranken nichts zu fürchten , doch hat man oft gesehen, dass sie mit Feuer sehr unvorsichtig umgehen, auch wohl absichtlich Brand stiften. Dagegen haben sie sehr grosse Neigung zum Selbstmord und führen ihn meistens höchst unerwartet aus. Man kann nicht sagen, dass sie moralischer Ideen unfähig sind ; im Gegentheil scheinen sie sehr tief in sie einzuwirken; auch sind die basischen Kräfte in ihnen thätig. Ihre ganze Verkehrtheit besteht allein in der tiefen Niedergeschlagenheit ihres Ge- müths, in Selbstanklagen, in Verzweiflung am Leben, am Glück. |

Ganz anders betragen sich die , deren vorherrschende Leidenschaft Angst ist. Statt das# die Traurigen still im Winkel sitzen , erfüllen sie mit Weinen und Jammern das Haus, laufen rastlos umher, fallen alle, von denen sie Hilfe hoffen, an, knieen vor ihnen nieder und erschöpfen sich in den rührendsten Bitten. Nicht Tag noch Nacht

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Laben sie Ruhe. Die Augen sind weit offen; die Pupille weit, die Gesichtszüge entstellt, der Anzug verwildert, un- ordentlich ; der Atliem ist kurz , der Puls klein und sehr schnell, oft auch gross und hart, oft aussetzend und höchst unordentlich* Die Zunge ist unrein, der Athem riechend, der Urin trübe und sehr stinkend. An Leibesöffnung fehlt es nicht; im Gegentheil ist Neigung zu Diarrhöen da. Sie magern fürchterlich ab, ob sie gleich zuweilen viel, essen, aber oft essen sie sehr wenig und trinken fast nie. Zuweilen begehen sie gewaltsame Handlungen gegen an- dere, doch noch weit öfter gegen sich selbst, und wenn sie dergleichen gethan haben, werden sie nicht beruhigt. Sehr leicht zeigen sich hyüropischc Erscheinungen.

Von beiden verschieden sind die , deren prädomini- rende Leidenschaft Hass ist. Auch sie sitzen stumm , sel- ten beschäftigt, im Winkel, ihr Au.ge ist wild, die Züge verzerrt, der Puls sehr langsam, der Athem ebenfalls lang- sam und tief; zuweilen stossen sie beleidigende, oft sehr sarkastische Aeusserungen aus; zuweilen sind sie ironisch, hämisch, hinterlistig. Sie verlangen zu essen, zu trinken und sind sehr heftig, wenn nicht alles nach ihrem Wunsch ist. Sie spucken viel umher. Abmagerung bemerkt man aber nicht an ihnen; ihre Zunge ist rein, ihre Excretio- nen natürlich. Sie zerstören gern ihre Gerätschaften, doch selten ihre Kleider. Von allen Kranken sind sie die widersetzlichsten, stören alle Ordnung, bleiben allein, wenn sie zu andern kommen sollen und dringen sich auf, wo man sie nicht haben will. Von ihnen hat man alle mög- liche Gewalttaten zu erwarten. Merkwürdig ist ihr Schlaf: man meinet sie fest eingeschlafen; auf einmal fahren sie auf und schauen mit fürchterlichen Blicken umher. Zuweilen werden ihre Blicke starr und gerade dann brechen sie am leichtesten in Gewalttliaten aus.

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188.

Die Krankheit ist entweder Folge einer anderen, nament- lich der Hysterie und Hypochondrie, oder wo sie idiopathisch auftritt, bricht sie zuweilen höchst unerwartet und plötzlich aus , lässt gewöhnlich anfangs wieder nach , ohne ganz zu verschwinden und kommt wieder, wird endlich anhaltend und dauert lange ohne Veränderung fort, wenn es nicht der Kunst gelingt, sie zu heilen; sich selbst überlassen geht sie zuletzt in chronische Krankheit der plastischen Sphäre über, in Blutbrechen , Hämorrhoidalfluss , Gicht, und mit-

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telbar durch diese Formen in Wassersucht des Zellgewe- bes und Bauchs oder auch unmittelbar, ohne vorher diese Formen zu durchlaufen. Die Natur heilt sie sehr selten, vielleicht niemals vollständig. Sie hat keinen bestimmten Verlauf, noch weniger bestimmte Dauer. Es giebt Fälle genug , wo sie schon in der Jugend ausbricht , doch ist sie öfter Krankheit des späteren Lebens , Frauen gefähr- licher, als Männern: am öftersten entsteht sie nach Auf- hören der Menstruation. Obgleich die Thiere dieselben Leidenschaften haben , wie die Menschen , so giebt es doch kein Beispiel, das je ein solches Ueberhandnehmen der Leidenschaft bei ihnen statt linde : nur Menschen allein sind ihm unterworfen und so ist denn dies die erste Vor- stellungskrankheit, die ihnen ausschliesslich eigen ist. Denn sowohl die Krankheiten der Sinnlichkeit, als die der basi- schen Kräfte sind Thieren und Menschen gemein. Acuten Wuthanfällen sind die Thiere zuweilen auch ausgesetzt, aber rie chronischen deprimirenden Leidenschaften.

189.

Es ist uns unmöglich, anzugeber, welche Ursache die Reflexion aus dem Gehirn so beständig auf einerlei Weise in dasselbe Ganglion richtet; die Hypothese, dass der Grund im Blute liege , hat schon manches Opfer gekostet und die verkehrteste Behandlung veranlasst, und doch ist

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man ihr Jahrtausende lang treu geblieben, ohne den Schat- ten eines Beweises. Weit leichter ist es, die disponirende Ursache der Krankheit aufzufinden, doch giebt es Fälle, wo auch diese sich unserer Beobachtung entzieht. Die gewöhnlichsten Ursachen sind :

a) Hypochondrie und Hysterie , wie schon erwähnt worden. Man kann die Krankheit als deren höchsten Grad ansehen, mit um so grösserem Rechte, da sie oft als hef- tiger Paroxysmus dieses Zustandes vorübergehend eintritt.

b) Moralische Einwirkungen. Der Mensch widersteht lange dem Unglück; wenn es aber nicht aufhört, ihn au verfolgen, wenn es ihn in ewigen Kampf wirft, wenn es ihn nöthigt, bei tiefem Schmerz in der Brust ein fröh- liches Gesicht zu machen ; wenn er gar nicht die Aussicht hat, dass sein Leiden enden werde: ist es denn ein Wun- der, wenn endlich finstere Schwermuth sich seiner be- mächtigt, die allmählig steigend alle andere Gefühle ver- drängt und selbst die Empfänglichkeit für sie vernichtet? In diesem Falle bricht die Krankheit nie plötzlich aus, sondern entsteht allmählig* Doch können dunkle Leiden- schaften auch blos schwächend wirken und den Menschen dazu disponiren , dass er endlich in Schwermuth fällt , wenn irgend etwas hinzukommt, was entweder ihre Macht verstärkt, oder was den Widerstand der Hirnkraft schwächt, z. B. Schwindel, selbst eine blosse Indigestion.

c) Convulsive Krankheiten. Die Erfahrung lehrt sehr

häufig , dass nach unvollkommenen apoplektischen Anfällen zwar keine Lähmung zurückbleibt, aber statt derselben diese Angst, diese tief traurige Stimmung : gewöhnlich

pflegen dann zugleich die Sprach organe , wo nicht völlig gelähmt, doch in ihrer Bewegung gehemmt zu sein. Weit seltener habe ich diese tiefe Traurigkeit mit gleichzeitiger Hemiplegie als Folge der Apoplexie gesehen.

dl Gänzliche Unterdrückung der Geschlechtslust. Der Fall kann doppelt sein ; entweder der Mensch hat den Geschlechts trüb nie befriedigt, endlich niedergekämpft

16 *

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Mid ganz verloren , oder er hat ihn befriedigt und muss plötzlich damit aufhören. Im ersten Falle pflegt er an- fangs kleinlich, pedantisch, ein grosser Peiniger seiner Umgebungen zu werden, nach und nach in allerlei düstre Einbildungen zu verfallen, alle andere mit Hass und Bit- terkeit zu richten und so allmählig in den schwermüthi- gen Zustand zu versinken, der ihn zum Irrenhaus reif macht. Im zweiten verfällt er zuletzt in Schlaflosigkeit; wenn diese eine Zeit lang die Kraft des Gehirns ge- schwächt hat, bricht die Schwermuth mit einemmal aus. Der Kranke ist vergesslich, erstaunt über sich selbst, dass er unfähig ist, auch das kleinste zu leisten, was ihm sonst leicht war und dies selbst stürzt ihn in Verzweiflung. Während sich bei jenem die Krankheit mehr als Hass ge- gen alles gestaltet, was sich des Lebens freut, gestaltet sie sich bei diesem mehr als Selbstverachtung und Trauer. Die Frauen geben öfter Beispiele beider Fälle , als die Männer , doch fehlen sie auch bei diesen nicht. Der Um- stand, dass unter keinem Stande nach Verhältniss mehr Schwermüthige Vorkommen, als unter der katholischen Geistlichkeit, kann schon allein auf diese Quelle führen: man glaubt mit Unrecht, dass sie nichts weniger als ent- haltsam lebe viele thun es aus wahrer Religiosität, wohl auch aus Achtung für ihren Stanc , ihren Ruf, und viele biissen dafür.

e) Partielle Aufhebung des analytischen Vermögens und des quantitativen Urtheils fixe Idee. Dieser Zu- stand wird im folgendem Capitel uns näher beschäftigen.

f) Zuweilen verbindet sich diese Schwermuth mit schwachen Graden des Blödsinns. Daher bemerken wir sehr häufig als Zeichen de« ersten Uebergangs der Manie in Blödsinn ungewöhnliche Traurigkeit ; sie ist uns hier als gutes Zeichen baldiger Genesung willkommen, beson- ders wenn sie täglich nur einige Stunden, meistens um bestimmte Zeit, wieder kommt. Zuweilen dauert sie aber fort und nicht eher, als bis die Imbecillität einen höheren

Grad erreicht, geht sie in gänzliche Stumpfheit aller Ge- fühle über, ein Uebergang, der sogar wünschenswerth ist, da er eine wahrhaft unerträgliche Qual endet. Sonst ist unter allen Formen der Vorstellungskrankheiten die Schwer- mutli am wenigsten geneigt, in Blödsinn überzugehen, ei sei denn die nach convulsiven Krankheiten.

190.

Die ärztliche Behandlung unterscheidet sich in die palliative oder symptomatische und in die curative, diese letzte besonders wiederum in die psychische und somati- sche. Sehr häufig müssen wir uns mit der ersten begnü- gen , da die curativen Versuche leider oft vergeblich blei- ben. Ihr Zweck besteht besonders darin, dass man Un- glück verhüte, welehcs die Kranken für sich und andere anzurichten nur zu geneigt sind. Die in Wuth verfallen, können nicht anders als mit Zwangmitteln belegt werden: je heftiger die Wuth ist, desto gewisser ist sie von kur- zer Dauer. Dagegen steht uns Niemand dafür, ob ein neuer Anfall wieder kommen werde, ja wir können ihn nie voraus wissen, und doch ist’s unmöglich, den befallen gewesenen immer in Aufsicht zu behalten, wenn er, oft Jahre lang, ganz gesund bleibt. Bei der chronischen Schwermuth ist die Hauptaufgabe , zu verhüten, dass «ich der Kranke nicht umbringt, aber dies ist nicht leicht und wer die«e Kranken kennt, wird es den Vorstehern der ! Irrenhäuser nicht zum Vorwurf machen, wenn sie es nicht i immer verhüten können. * In der Charite zu Berlin be- fand sich ein Chirurg im schwermüthigen Zustande, schien ; gebessert und half den Chirurgen des Hauses andere ji Kranke verbinden. Dabei fehlte ihm einst eine Pincette ;

er gieng, sie zu holen, kam aber nicht wieder er hatte in seiner Stube den Wärter nicht gefunden lind den Au- genblick des Alleinseins benutzt, sich zu erhenken in weniger als fünf Minuten war er damit fertig. Eine an- dere sollte spazieren geführt werden; sie hatte ihr Strick-

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zeug vergessen, kehrte um, es zu holen, erhing sich aber ans obere Ende des Treppengeländers, während die ganze Treppe voll Kranke war, die nach dem Garten giengen. Wie ist es möglich, dergleichen immer zu verhüten? Selbst nicht das Todthungern ist immer unmöglich zu ma- chen: man kann wohl die Kranken mit Gewalt füttern, aber dazu gehört so gewaltiger Zwang, dass bestimmt das meiste verloren geht und nur sehr wenig Nahrung einge- flösst wird; nach und nach entsteht darüber solche Schwä- che, dass doch der Tod erfolgt, wenn nicht durch absolu- tes Verhungern, dennoch durch hektisches Fieber und Entkräftung* Man versucht daher viel besser den Weg der Lust, die Kranken zum Essen zu bringen; manche ver- weigern die Speise durchaus ; setzt man aber welche hin , die als für andere bestimmt gilt, so stehlen sie diese und essen sie. Bei manchen hilft das Beispiel: man macht sie zu Zeugen vom guten Appetit anderer, giebt ihnen aber nichts, schilt sie wohl auch, dass sie zur Strafe hungern müssen; aus Geist des Widerstands essen sie dann, was ihnen heimlich zugesteckt wird. Oder man lässt ihnen durch ihre Angehörigen, zum Schein, essbare Geschenke senden, vertheilt aber diese vor ihren Augen an andere. Dadurch geärgert essen sie heimlich mit. In der Charite zu Berlin befand sich eine Drehmaschine, von der ich höchst selten Gebrauch machte ; wollten aber Kranke sich todt hungern, so wurden sie darin herumgedreht, bis sie versprachen zu essen: thaten sie es nicht, so wurden sie wieder ein paarmal gedreht. Dies verfehlte selten seinen Zweck , wenn alle andere List nichts mehr helfen wollte. Doch kamen Kranke vor, bei denen alles vergeblich ver- sucht wurde. Einigemale wurde Gewalt gebraucht. Beim lebhaftesten Widerstand liess ich die Zunge mit etw as ver- dünnter Kapsicumtinktur bestreichen und setzte dann Milch oder ein anderes nahrhaftes Getränk neben den Kranken: der quälende Durst zwang sie zu trinken. Dauert der Wi- derstand der Kranken lange fort, so erreichen sie ihren

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Zweck trotz aller Zwangsmittel ; sie bekommen hektisches Fieber und sterben» Dies war das Schicksal eines berühm- ten Künstlers auf dem Sonnenstein, der jedoch nicht aus Schwerinuth, sondern aus Wahnsinn sich todt hungern wollte. Viel leichter ist zu verhüten, dass die, deren Leidenschaft Hass ist, nicht andern gefährlich werden. Nur darf man sie für verübte Versuche nicht gleich an- dern bestrafen. Es ist nämlich im Irrenhause sehr nöthig, Strafen wider die zu verfügen, die ihre Mitkranken oder die Wärter, oder die Aerzte beleidigen ; diese Art von Kranken aber wird durch Strafen noch mehr erbittert und gereizt, die Versuche zu wiederholen. Man muss sic von solchen Kranken fern halten, die ihren Versuchen nichts entgegen- setzen, aber sie mit solchen zusammenbringen , die ihnen

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mit Insolenz begegnen: Grobheit und Tücke hält sich wech- selseitig irn Zaum. Mehreren gewöhnte ich die Neigung zu schlagen oder gar noch schlimmere Versuche gegen andere zu machen, dadurch ab, dass sie nach jedem Ver- such auf der Stelle ein Brechmittel oder Jalappe nehmen mussten, indem man ihnen erklärte, ihre Krankheit, die sich so eben durch dies Schlagen geäussert habe , mache dies nothwendig. Mail kann sich wohl denken, dass solche Kranke nie gutwillig Arznei nehmen, allein wenn sie ein paarmal die Erfahrung gemacht haben, dass ihr Wider- stand unnütz ist, so nehmen sie sie doch. Ueberhaupt muss man nur selten verordnen , aber dann auch das ver- ordneie mit Ernst , Würde und Ruhe durchführen.

191.

Seit undenklichen Zeiten haben die Aerzte die Erschei- nungen, welche durch Störung des Einflusses der Ganglien auf die Eingeweide bei dieser Krankheit veranlasst wer- den, zum Grund ihrer curativen Heilversuche gemacht. Sie haben sich aber nicht einmal immer an diese streng gehalten, sondern sich mit wunderlichen Begriffen von Stockungen beruhigt, die sie auflösen wollten , von Jnfarc-

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ten, die eliminirt werden sollten, von schwarzer Galle, die zu verwandeln sei, u. dgl. Man hätte erwartet, dass der Nichterfolg ihrer Bemühungen sie auf andere Ideen hätte bringen müssen, aber nein! sie sind dem Auflösuugs- und Ausleerungssystem im ganzen treu geblieben, nur dass von Zeit zu Zeit eine andere Methode gebräuchlich wurde, diese Zwecke zu befördern. Dahin gehörte in neueren Zeiten die Infarctencur , mit vielen tausend Kly- stieren, dann die mit Kirschlorbeerwasser, dessen Eigen- schaft, Venenblut lichter zu färben, als der Beweis galt, dass es die schwarze Galle verbessere, und in den aller- neueaten Zeiten sah man chronische Entzündungen, gegen die man achtzig Blutigel täglich , nebst einigen Quenten grauer Quecksilbersalbe zu verordnen für gut fand. Die Sache verhält sich, wie erwähnt: die deprirairenden Lei- denschaften hindern die peripherischen Thätigkeiten der Ganglien und bewirken dadurch Störungen im plastischen Leben, die oft durch ihre lange Dauer sehr bedeutend werden. Die Angst verändert die Bewegung des Herzens ; eben dadurch und indem sie auch die Thätigkeit der Lun- gen hindert, vermindert sie die Masse des Bluts. Die erste Folge davon ist Beschleunigung der Herzbewegung, denn es fehlt dem Herzen an dem, was sich seiner Be- wegung entgegenstellt, an der Gegenkraft, an der nöthigen Blutmenge ; dadurch wird die Bewegung desselben immer unruhiger und unordentlicher ; jeder noch so geringe Reiz erregt auf der Stelle heftige Wallungen, Herzklopfen, Congestionen als Folge der ungleichen Vertheilung des Bluts. Wehe dem Kranken, der dann einem blutgierigen Schüler Broussais in die Hände fällt! Er wird durch ihn schleunigst zur Wassersucht befördert , die nächst allge- meiner Abmagerung die unfehlbare Folge dieses Zustandes ist. Auch dann muss ich wehe rufen, wenn der Arzt Hämorrhoiden sieht, wenn er wegen örtlicher Blutungen, die ganz begreifliche Folgen der höchst unrichtigen Blut- Bertheilung sind, bei Ilämorrhagien des Uterus in alteru-

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edn Frauen zumal, der allzugrossen Blutfülle durch schwä- chende Kost, Laxanzen und kleinere künstliche Blutun- gen Schranken zu setzen gedenkt. Wassersucht und der Tod ist solcher Sünde Sold ; am Ende wird gar auch noch die Wassersucht als Folge chronischer Entzündung der in- neren Membranen erklärt. Traurigkeit wirkt mehr auf die Lungen, als auf das Herz, nur mittelbar auf dieses, daher sind ihre Wirkungen viel langsamer, aber der vori- gen ähnlich; indem sie zugleich den Schlaf raubt, schwächt sie die Vegetation des Gehirns. Da sie den kleinen Kreis- lauf langsamer macht, bewirkt sie Ueberfiiilung der Unter- leibsgefässe , die wiederum die peristaltische Bewegung er- schwert. Ist es dadurch, oder durch Einwirken in die Secretion des Blinddarms; genug sie macht, dass die Fäccs hart und trocken werden, natürlich also weit sparsamer abgehen, als mit der Gesundheit der Digestion besteht, und hieraus folgen wiederum eine Menge von Beschwer- den, die sich ansehnlich vermehren, wenn man durch Aloe, Rhabarber die Blutanhäufung im Unterleibe ver- mehrt. Die Wirkung des Hasses auf den Unterleib ist noch stärker, aber aufs Herz wirkt er schwächer, auch erschöpft er das Gehirn weit weniger, weil er nicht sol- che Schlaflosigkeit zur Folge hat. Es ergiebt sich aus dem gesagten, welche körperliche Heilart besser als die gewöhnliche zum Zweck führt. Bei der Angst kann man entweder unmittelbar auf die Herznerven wirken oder mit- telbar, und in letztem Falle solche Mittel wählen, die den Symptomen entgegenstehen , welche die kranke Herzthäiig- keit hervorbringt. Von allen Mitteln, die in die llerzner- ven wirken, passt keines besser, keines ist kräftiger, als die Digitalis , nur dass sie nicht auf alle Individuen einer- lei wirkt und nichts nützt, wenn sie Erbrechen erregt. Man hat seltsame Meinungen von dieser Arznei vorgetra- £en , sogar ihr eine harntreibende Kraft zugeschrieben , wider alle Erfahrung, und sie zu einem Specificurn wi- per die Wassersucht gemacht. Ja, wenn »ie kranke Herz-

bewegung aufliebt, deren Folge Wassersucht sein würde, verhütet sie diese ; wo sie schon vorhanden ist , wird sie wenig mehr nützen. Soll aber die Digitalis bei dieser Angst helfen, so muss sie richtig gebraucht werden; das beste Mittel, ihren Nutzen zu vereiteln, ist, wenn man sie in kleinen, oft wiederholten Dosen giebt. Wie alle Narcotica hat die Digitalis ihre Wirkungssphäre, inner- halb welcher sie eine bestimmte Erscheinungsreihe ent- wickelt: giebt man nun immer neue Gaben mitten in die- ser, so kann diese Erscheinungsreihe nie zu Stande kom- men, denn die neue Gabe unterbricht immerfort die Wir- kung der vorigen. Und gerade bei der Digitalis währt diese Wirkungssphäre neun volle Tage. Hat also das Mit- tel einmal seine Kraft entwickelt, so muss man keine neue Gabe mehr reichen. Eine zu kleine Quantität entwickelt die Kraft nicht und eine grosse wirkt verkehrt, denn sie macht Ekel und Brechen. Die rechte Art, sie anzuwen- den, ist, dass man aus einem halben Quent ein Infusum bereiten und dies alle Stunden so lange fortnehmen lässt, bis der Puls langsam oder aussetzend wirkt: die Kürze der Zwischenräume macht , dass diese Gaben gleich Einer wirken und doch nicht Brechen erregen; geschieht dies, so kann man sich darauf verlassen, dass man dies Mittel vergeblich reicht* Verändert das Mittel den Puls, so reicht man in den neun Tagen, binnen welchen die Ver- änderung fortdauert und immer stärker wird, nichts, son- dern begnügt sich , den Kranken mit nahrhaften , aber durchaus nicht reizenden Speisen und Getränken zu unter- stützen. Dazu schickt sich die Milch, einfache Fleisch- brühe, mehliges Gemüse, namentlich Graupen, uries und dgl. Narkotische Dinge darf der Kranke in dieser Zeit durchaus nicht gemessen, kein gegohrn.es Getränk, keinen Kaffee, keinen Thce , noch weniger Gewürz, welchen Na- men es habe* Dadurch erfüllt man zugleich die zweite lleilanzeige, d e Blutmasse zu mehren und den Kranken BU nähren. Da aber das Hinderniss der Ernährung hier

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nicht im Digestionscanal liegt, sondern allein in den klei- nen Gcfässen, die die Verwandlung des Blutes unvollkom- men vollenden , so leistet inan nichts durch Mittel , die auf die Digestion berechnet sind. Ist die Wirkung der Digi- talis vorüber, ohne dass die Angst völlig gehoben ist, oder wächst sie wieder, wie das Mittel zu wirken auf- hört, so giebt man sie aufs neue. Versagt sie aber ih- ren Dienst, so muss man indirect in die Herznerven, wirken, indem man ein anderes Ganglion in Bewegung setzt : dazu schickt sich vor allen das grosse Bauchganglion. Man würde aber sehr unrecht thun, dazu reizende Mittel anzuwenden ; diese würden nichts als Congestionen veran- lassen , folglich die Angst vermehren. Die Antimonialmit- tel, namentlich der Brechweinstein in kleinen Dosen, die Ekelcur , verdient hier den Vorzug , nur darf man den Ekel nicht lange unterhalten , weil man sonst die Ernäh- rung, die ohnehin krank ist, noch mehr dadurch erschwert, dass man die Kraft des Digestionscanals schwächt. Man muss zugleich für gleichförmige Vertheilung des Blutes sorgen , namentlich durch warme Bäder , die den Trieb nach der Haut vermehren und die Congestionen aufheben, die sich hier und da vorfinden. Frictionen der Haut, be- sonders der Füsse, sind gleichfalls hiezu sehr wirksame Mittel. Hat man den Zweck erreicht, durch dies Verfah- ren die Angst zu vermindern , so muss man die Kraft der Gefässe, namentlich ihre Contractilität, erhöhen, wodurch zugleich die Ernährung wesentlich verbessert wird: das grosse, sichere Mittel hiezu ist die Chinarinde, die man eine Zeit lang fortbrauchen lässt. Ist Traurigkeit oder II ass die vorherrschende Leidenschaft, so hilft die Digita- lis nichts, denn nicht die weichen Herznerven sind hier die unmittelbar angegriffenen Organe. Andere Narcotica , als Conium, Belladonna, schicken sich vielleicht besser; ich habe Tinctura Nicotianae mit entschiedenem und auf- fallendem Erfolg gebraucht, aber zuweilen auch nichts da- mit ausgerichtet. Das Strammoneura habe ich vergeblich

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versucht. Die Nicotianatinctur wirkt 30 Stunden ; während dieser Zeit muss man keine neue Dosis geben, wenn auf die erste ein leichter Ekel und Durst erfolgt. Die Asa fcetida habe ich in einigen Fällen mit Nutzen gebraucht, in andern hat sie mich verlassen. Die Ekelcur leistet hier weniger, doch ist sie zuweilen ebenfalls wirksam gewesen. Wir besitzen nichts, wa» so bestimmt wirkt, wie die Digitalis bei der Angst , vielleicht ist daran Schuld , dass wir weder wissen, welches Ganglion dabei am meisten er- griffen ist, noch ein Mittel kennen, das eben so specifisch in das ergriffene wirkt, wie die Digitalis in die weichen Herznerven. Ist die Traurigkeit Folge der Apoplexie, so können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit vermuthen , dass Bluterguss im Gehirn sie veranlasst und müssen Mit- tel anwenden , die Resorption des ergossenen Blutes zu be- fördern: das Verfahren dabei wird im Abschnitt von der Apoplexie seine Stelle finden.

192.

Es versteht sich, dass allgemeine Curregeln und Vor- schriften nur den Hauptideen gemäss sein können, die der Behandlung solcher Falle zum Grunde liegen müssen, dass übrigens sehr viel auf den individuellen Fall ankommt und jeder ganz anders zu behandeln ist, nach dem Alter, Le- bensweise , vorausgegangenen Krankheiten und vorzüglich das Maas der Kraft des Individuums es bestimmen. Nur nachträglich muss ich bemerken , dass zum offenbarsten Beweis, wie ganz grundlos die Ideen von Stockung im Un- terleibe als Ursache der Sch wenn uth sind, Skirrhen des Unterleibs und Darmschwindsuchten niemals bei schwer-* müthigen Kranken Vorkommen. Das sind gewiss Stockun- gen, aber die psychische Wirkung fehlt. Was soll stocken? das Blut in den kleinen Gelassen ? Davon wäre Entzün- dung und Metamorphose des Organs die Folge sie fehlt. Oder der Darminhalt, der Speisebrei? Wenn dieser sich langsamer durch die Därme bewegt, so ist dies Symptom,

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nicht Ursache der Krankheit und tausendmal wird die pe- ristaltische Bewegung beschleunigt, aber die Krankheit bleibt. Oder die Darmabsonderungen ? Wie veränderlich sind diese nicht, und wie wenig ist doch Schwermuth die Folge ihrer Veränderung? Höchst offenbar hat man sich mit Worten abgespeist, mit welchem man gar keinen Begriff verband. Wenn man durch ewiges Klystiren end- lich dahin gelangt war, die Secretion der Schleimhaut der Därme ganz zu verderben und eine Masse geronnenen, d. i. ungewöhnlich fest gewordenen Schleims abgieng, so nannte man das einen Infarct und meinte, es sei deren ein kleines Heer da ; wenn dies nach und nach abmarschiere, so müsse der Kranke gesund sein. Wenn man geronnenes Blut aus- leeren sah, das allemal schwarz, wie Kaffeesatz aussieht, wenn es in die dünnen Därme ausgeflossen ist und nur der Cruor, von der Beimischung der Galle vollends ganz dun- kel gefärbt, zum Vorschein kommt, so war dies schwarze Galle. Warum sollte die Galle, die bald gelb, bald grün aussieht , nicht auch schwarz aussehen können ? Hatte doch Galen von der schwarzen Galle gesprochen ! Galle ist bitter, folglich, wenn sie ins Blut kommt, macht sie das Blut bitter, und das bittere Blut macht bitteren Cruor. Weg mit dergleichen Armseligkeiten ! Es ist eine Schande für unsere Zeit, dass man ihnen noch ein Wort der Wi- derlegung widmen muss» Galen brauchte einen Repräsen- tanten des Erdelements für sein mikrokosmisches System ; er hätte den Cruor dazu ernennen können, aber da er das ganze Blut schon mit dem Luftelement in Verbindung ge- setzt batte, schuf er die schwarze Galle, nachdem die gelbe schon der Repräsentant des Feuerelements gewor- den war. Seine Elemente, gegründet auf einen Missver- stand des alten Aristoteles, hat die Zeit zerstäubt, aber die Ideen, welche sie gebaut haben, kleben noch in man- chen Köpfen fest.

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Die psychische Behandlung1 schwermüthiger Kranken ist äussert schwer. Nur bei den leichtesten Graden der Krankheit ist es möglich, sie zu beschäftigen; bei den hef- tigeren, besonders bei von Angst gefolterten Kranken, ist dies rein unmöglich. Nichts ist vergeblicher, als wenn man ihnen das grundlose ihrer Angst, ihrer Traurigkeit , das unsittliche und abscheuliche ihres Hasses gegen an- dere , das ungerechte ihres Selbsthasses vorstellt : eher könnte man einen Blinden überreden, dass er sehe, als dass man solchen Zuredungen und Predigten Eingang in diese kranken Gemüther verschafft. Es ist schon oben er- wähnt, dass es zweckwidrig sei, sie zu strafen; besonders die hassenden erschüttert dies, die traurigen schlägt es nieder. Bios die ängstlichen kann man allenfalls durch Strafen zurückhalten, dass sie nicht mit ihrem Geheul, ihren Bitten, ihrem Knieen allzulästig fallen, aber bessern wird man sie schwerlich. Vergeblich habe ich versucht, sie zu bessern, indem ich sie mit andern Kranken von entgegengesetzter Stimmung vereinigte; sie achten nicht auf diese. Das bes*e Mittel, auf sie zu wirken, ist, wenn man eine andere Leidenschaft in ihnen erregt. Dies ge- lingt am leichtesten bei den ängstlichen oder bei den trau- rigen Kranken; man kann sie in Zorn setzen, indem man ihnen ganz erdichtete, etwa ehrenrührige Vorwürfe macht. Aber bei den Hassern wäre das ganz verkehrt ; diese sind schon erbittert auf alle Welt und würden cz durch jede Unge- rechtigkeit nur noch mehr. Eher kann man ihre Neugier rege machen dadurch, dass man ihnen etwas sorgfältig zu verbergen scheint, aber auch das bringt sie wohl auf kurze Weile aus ihren finstern Gefühlen, hindert aber nicht, dass diese wiederkehren. Ernsthafte , strenge , gerechte Behandlung, doch ohne alle Liebe, scheinbar ohne alle Theilnahme, ja nicht ohne eine gewisse Geringschätzung und Verachtung im Verhältnis* zu andern wirkt am besten

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auf sie. Sobald es nur einigermassen möglich ist, sie zu beschäftigen , muss man dazu keine Gelegenheit unterlas- sen: kann man sie an Thätigkeit gewöhnen , so sind sie gewonnen. Sehr gut ist’s, wenn man bemerkt, dass sie irgend eine Kleinigkeit gern haben und ihnen diese ver- steckt, aber so, dass sie sie nach einiger Mühe finden; das bringt sie eine Zeit lang aus ihrer Hauptleidenscliaft heraus , aber man muss sich nicht abmerken lassen , dass dies absichtlich geschehen sei und es ja nicht oft wieder- holen. Bei den höchsten Graden der Angst, wenn die Kranken ewig winseln und heulen, stellt man sie am be- sten neben recht tolle, schreiende oder zankende Kranke: die bringen sie durch Ueberschreien zum schweigen. Der

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Klugheit des Arztes muss überlassen bleiben, welchen Weg er bei solchen Kranken einschlage, der endlich zum Ziel führt.

194.

Prädominiren der Geschlechtslust ist bei Männern blos Symptom anderer Krankheiten, namentlich der Manie, Satyriasis genannt: bei Frauen kommt sie als eigenthüm- liche Krankheit vor, und zwar unter doppelter Form. Entweder zeigt sie sich als völlig schamloser, wüthender Trieb zum Beischlaf, Nymphomanie ; oder sie nimmt ' ’ne verhülltere Gestalt an, geht von der unbezähmbaren Nei- gung zu Einein bestimmten Gegenstand aus und äussert sich in Handlungen, die zwar nichts weniger als schamlos sind, aber doch die Befangenheit des Gemiiths unter der Herrschaft der sinnlichen Liebe verrathen. Es ist sehr tegreiflich, dass das Verhältniss der Geschlechter hierin kein gleiches sein kann. Beim Mann ist die Geschlechts- liebe durchaus Nebensache, allein das Weib hat nicht leicht ein anderes Mittel, seine Bestimmung zu erreichen und sich Geltung in der bürgerlichen Gesellschaft zu ver- schaffen, als die Verbindung mit dem Mann, und ihr gan- zer Körper ist so organisirt, dass die Geschlechtsbestira-

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mun g als Hauptzweck überall durchleuchtet. Die vielfv- chen Hindernisse, die ihr dabei entgegenstehen und dies«n Hauptzweck häufig vereiteln, müssen nothwendig zuweilen den Widerstand im Inneren auf eine Höhe treiben, welche die Vernunft nicht mehr beherrschen kann. Aber das Schamgefühl , der weibliche Zartsinn , ist so tief dem Ge- schlecht eingeprägt, dass er sich auch dann nicht verleug- net, sondern die Begierde, oft seltsam genug, zu verschlei- ern strebt: nur zuweilen bricht sie durch alle Schranken und stellt sich in roher Gewalt dar, die die weibliche Würde beleidigt. Bei der Manie der Frauen ist dies ein häufiges Symptom ; aber zuweilen tritt es auch ohne alle Manie ein und ist Krankheit für sich. Diese Frauen spre- chen zusammenhängend, sind fähig, sich zu beschäftigen, aber ihre Reden und Bewegungen kündigen deutlich genug an, was sie stört; die andere Art, die sich tiefer verbirgt, ist mir nie anders als in Verbindung mit hysterischen Symptomen vorgekommen. Die Erkenntniss des Hebels ist sehr leicht; die disponirenden Ursachen liegen fast immer in Hässlichkeit, in vorgerücktem Lebensalter, in ungünsti- gen Schicksalen , die eine anständige Verbindung vereitel- ten , zuweilen in Angewöhnung an Ausschweifungen und zufälligem Hinderniss derselben.

195.

Der Heilung steht sehr oft die Gewohnheit der Selbstschwächung entgegen, der man mit aller Macht ent- gegenstreben muss, denn Frauen, die pich ihr ergeben, übertreten fast immer weit mehr als Männer alle Schran- ken. Hilft die Gewalt nichts, so ist die Exstirpation der Klitoris ein nicht zu vernachlässigendes Mittel. Weisser Fluss und profuse Menstruation , die gewöhnlichen Folgen der Selbst Schwächung, verdienen ihre besondere Berück- sichtigung. Die erhöhte Thätigkeit des Nierenplexus selbst aber zu massigen hat man schon längst theils somatische, theiis psychische Heilmittel vorgeschlagen , unter jereu

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Tor allein den Gebrauch des Kamphers. Aber nichts ist gewisser, als dass dies Mittel durchaus nicht dieser Er- wartung entspricht, wenn es innerlich gegeben wird: ich habe es anhaltend, in den grössten Gaben, und immer ohne Erfolg gebraucht. Dagegen giebt es weit wirksamere Mittel * *), namentlich die Auflösung des salzsauren Baryts, welch« die Geschlechtslust nicht blos vorübergehend , sondern für lange Zeit schwächt und mässigt, ferner die Ekelcur, die jedoch nur so lange wirkt, als der Ekel dauert und in keinem Fall übertrieben werden muss, damit nicht das Digestionssystem für immer geschwächt werde. Kalte Bä- der , Seebäder , kalte Douche auf den Rücken vollenden die Cur. Die äusserliclie Anwendung des Kamphers auf die Ovarien ist eins der kräftigsten Mittel zur Besänftigung der Begierde der Frauen. Die psychische Behandlung anlangend, so besteht sie lediglich in der Kunst , die Kranken zu be- schäftigen und für ihre Beschäftigung zu interessiren: kann man es einrichten, dass sie sich im Freien beschäftigen und dabei ermüden , so dass sie recht fest und ruhig schlafen, so hat man gewonnen. Ihr Lager muss hart und nicht wärmer sein, als gerade nöthig ist, und man muss nie gestatten , dass sie wachend im Bett liegen.

196.

Mit der Reflexion ins Gangliensystem ist fast immer die in das System der willkührlichen Muskeln verbunden: die Erhaltung des Lebens beruht darauf. So wie der Ge- genstand des Bedürfnisses die Begierde erregt, erregt er gleichzeitig die Bewegungen, sich seiner zu bemächtigen. Der junge Löwe streckt, kaum geboren, gchon seine Tatzen aus, sich zu vertheidigen, wenn er berührt wird. Di«

Verbindung ist so innig, dass man sich mit dem Wort

*

Begierde gewöhnlich zugleich die Handlung denkt, die sie

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*) Man hat neuerdings den alten, lange vergessenen Syrupus Nenuphar (Nymphaeae albae) wieder in Gebrauch gezogen, nicht ohne Erfolg, wie man behauptet.

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veranlasst. Doch wie Begierde statt finden kann ohne Handeln, und Handeln ohne Begierde, so kann auch Krank- heit der Reflexion in den Willen bestehen ohne kranke Begierde. Zwar wird dann die verkehrte Handlung immer mit einer gewissen unwiderstehlichen Lust ausgeführt , aber diese ist sehr fern von einer leidenschaftlichen Re- gung. In der Charite zu Berlin befand sich ein Mensch, der ganz zusammenhängend sprach, aber mitten im Reden alle, denen er nahe stand, mit dem Fusse stiess , anfangs mit der allergrössten Heftigkeit, endlich immer subtiler und zuletzt so leise, dass er alle List anwendete, um den Schein zu geben, als habe er den, dem er es zudachte, nur unversehens, unwillkührlich mit dem Fusse berührt. Wenn ihn auch im Anfang Zorn zu diesem Stossen be- wog, so war dies doch späterhin gewiss nicht mehr der Fall. Solcher Beispiele könnte ich mehr anführen, aber dies beweist allein schon, dass oft solche Neigungen zu verkehrten, zweckwidrigen, schädlichen Handlungen Vor- kommen , die zwar mit Lust , aber ohne Leidenschaft aus- geführt werden. Die Begierde zu necken, die wir bei Geisteskranken sehr häufig treffen, ist nichts anders, eben •o der Trieb, gefährliche Dinge vorzunehmen. So konnte eine Kranke niemals am Wasser vorübergehen , ohne ge- rade hineinzulaufen , wobei sie doch sehr fern vom Wun- sche des Selbstmords war , vielmehr ängstlich schrie und sich zu helfen suchte , sobald sie hinein war. Selbst die kleinste Regenpfütze reizte ihren Trieb; sie sprang un- fehlbar mitten hinein, sobald sie eine sah. Die kranke Reflexion in den Willen äussert sich entweder als Erhö- hung desselben, oder als Verminderung: der höchste Grad der Willenserhöhung wird zur W uth , die in gewaltsamen Handlungen jeder Art ausbricht und kein bestimmtes Ziel hat: sie ist jedesmal nur von kurzer Dauer. Dieser nahe steht der unglückliche Zustand, in welchem der Mensch einen unwiderstehlichen Trieb hat, irgend etwas recht ab- scheuliches zu thun, das er selbst verabscheut, aber eben

desswegen tliun will und muss , als würde er von den Fu- rien gepeitscht. Es giebt eine Menge von Mordthaten, Brandstiftungen u. dgl. die keine andere Quelle haben ; Gail führte deren an, um seinen Mordsinn zu beweisen, nicht daran denkend, dass ja solche Menschen, denen das Organ des Mordsinns angeboren wäre, immer morden müssten, da sie es doch in einem langen Leben nur ein- mal thaten. Tiefe Reue unmittelbar nach der Tliat, gänz- liche Vernachlässigung aller Mittel, sie zu verbergen, charakterisiren sie als solche Verkehrtheit des Willens; ist aber Manie oder Wahnsinn die Quelle , so verbirgt sie der Thäter, beschönigt sie oder führt seltsame Gründe derselben an , die ihn vollkommen dazu berechtigten , wie er meint, Dieser kranken Erhöhung der Willensthätig- keit steht die Willenlosigkeit entgegen; sie ist zwar immer mit dem Blödsinn verbunden , doch findet sie auch ohne denselben statt. Es giebt Menschen; die durchaus nichts zu thun fähig sind: sie entschliessen sich, beginnen, hö- ren aber gleich wieder auf und bringen gar nichts zu Stande ; bei andern ist diese Willenlosigkeit periodisch. Ein geübter Zeichner, der sehr gut ausführen konnte, gravirte einst an dem Heiligenschein eines Apostels sechs volle Monate ; täglich brachte er mehrere Stunden , den Griffel in der Hand, vor der Platte zu. Kranke, denen ich Schriften zu copiren gab, schrieben sechs, acht Zeilen ab, dann sassen sie mit der Feder in der Hand vor dem Papier mehrere Stunden und schrieben nichts. Ein vor- maliger Officier, als Irrer in der Charite zu Berlin, sprach und handelte gewöhnlich gänzlich verständig; mit eincm- mal verlor er diese Fähigkeit ganz. Er rauchte gern Ta- bak : war er des Morgens mit Mühe au* dem Bett ge- bracht, so stopfte er sich eine Pfeife; der Diener brachte ihm brennenden Schwamm; er nahm die Pfeife in den Mund, rauchte aber nicht, und Abends konnte man ihn noch so sitzen sehen, die vollgestopfte Pfeife im Munde. Redete man ihn an, so gab er durchaus passende Antworten, nur

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währte es sehr lange, ehe er sich zum Heden entschloss. Er würde neben der Suppenschüssel verhungert sein, wenn man ihn nicht gefüttert hätte ; dann ass er ohne Wider- stand. Dabei war er nicht im mindesten gelähmt. Einst besuchte ihn sein Bruder, der auf dem Lande lebte, und da er ihn völlig verständig fand, nahm er ihn mit sich. Er hatte eine kleine Strecke von seinem Gute einen Bau, und bat den völlig unbeschäftigten Bruder, auf die Arbei- ter Acht zu gehen ; das übernahm er und that es mehrere Tage: einst geht er des Morgens dahin, kommt aber nicht an, kommt auch nicht zu Mittag nach Hause. Abends sucht man ihn, selbst mit Fackeln, überall vergebens. Den andern Morgen findet man ihn, kaum dreihundert Schritt von der Baustelle, in einem Wäldchen unter einer Eiche ganz ruhig sitzen und er erzählt, dass er die Fa- ckeln wohl gesehen , auch sich vielfältig rufen gehört habe. Auf die Frage , was er denn hier gethan und w arum er nicht geantwortet , blieb er still. Es bedarf keiner be- aondern Bemerkung, dasa es für die Krankheiten des Wil- lens keine besondere Therapie gebe, dass am allerwenig- sten die Apotheke im Stande sei , Heilmittel dazu zu lie- fern , dass man rein psychisch verfahren und durch Zwang, , Strafen, Gewöhnung, Leidenschaften, suchen müsse, die* Kranken zu heilen. Wie weit man aber damit komme, ist. eine andere Frage; ich habe nie gesehen, dass die Willen- losigkeit geheilt worden wäre, viel eher verkehrter, lief-- tiger Wille.

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Cap. XV. Von der Krankheit der quan- titativen Urtheilskraft und des analyti- schen Vermögens.

197.

Von allen bisher genannten Vorstellungskrankheiten ist wenigstens möglich, dass der Mensch sie mit den Thie- ren gemein habe , denn sie äussern sich in Kräften und Fähigkeiten, die ihm mit den Thieren gemeinschaftlich eigen sind. Allerdings muss die Art, wie sie sich heim Menschen äussern , eine andere sein , da seine Sensibilität

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die aller anderen Thiere im Ganzen überwiegt. Doch im wesentlichen, in dem, was an der Erscheinung durch die Richtung der besonderen Kraft bewirkt wird , von welcher sie ausgeht, kann jede der genannten Erscheinungsreihen auch von den Thieren gedacht werden. Aber wie es Kräfte der Intelligenz giebt, die den Menschen vor allen Ge- schöpfen der Erde allein auszeichnen, so giebt es auch Krankheiten, in welchen diese Kräfte sich nicht äussern, wie es der Norm des menschlichen Lebens gemäss ist. Diese haben keinen andern Gegenstand , auf welchen sie wirken können, als allein das, was ihnen die basischen Kräfte liefern, also die Vorstellungen , die aus der Sinn- lichkeit percipirt, reproducirt und combinirt werden, pro- iduciren also nicht selbst Vorstellungen , sondern modifici- ren sie blos , oder vielmehr sie geben ihnen eine bestimmte »Form, durch welche sie das, was an ihnen zufällig ist, idem, was der Mensch als innerlich noth wendig erkennen muss, unterwerfen. Unterordnung des materiellen und ge- gebenen unter das formale, allgemeine und nothwendige ist demnach die Wirkung des Vorstellungsgesetzes und die 1 Unmöglichkeit dieser Unterordnung dis Kriterion der Krankheit der Vorstellung.

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198.

Dies formale Gesetz offenbart sich zuerst als Quanti- tätsgesetz, als das Vermögen, die Dinge in Zeit und Raum vorzustellen. Das Thier sieht alle Grösse als Qualität, und alles VerhäJtniss der Grössen als Verschiedenheit der Qualität. Auch kann es sich die Dinge in Succession vor- stellen und diese schneller oder langsamer sich verändern lassen. Der blos sinnliche Mensch ist dem Thiere gleich; die Quantität erscheint ihm nicht; er muss erst sein Maas auf die Dinge übertragen. Daher die vielen Irrthümer über Quantitäten bei der sinnlichen Erscheinung. Das Quantitätsgesetz ist aber verwandt mit dem Vermögen der Ideen, indem es zum Begriff des Unendlichen leitet, als dem Gegensätze des Endlichen. Es ist aber auch das Hauptmittel des analytischen Vermögens, dieser eigen- thümlichsten aller Erscheinungen des Lebens, die schlech- terdings nichts analoges in der Natur hat, vielmehr allen andern Erscheinungen des Lebens zuwider ist. Denn alles Leben ist Synthesis, bindend, schaffend, in unendlicher Mannichfaltigkeit ; selbst der Tod ist nur eine andere Art von Synthesis, der Moment des Sterbens der des Beginns neuer Reihen von Synthesen. Die Phantasie des Men- schen erlahmet unter dem Gedanken an die unendliche Mannichfaltigkeit des Lebens, in seinen Bildungen sowohl als in seiner Reihenbewegung. Man denke sich nur irgend eine Bildung der Natur, z. B. ein Blatt , und erwäge, wie viele Hauptformen von Blättern es giebt, wie jede Pflan- zenart ihre eigcnthümliche Blattform hat, wie jedes ein- zelne Blatt von dieser abweiclit, wie jedes auch in Textur und Structur, in Härte, Weiche, Zellenbildung u. s. w. ahweicht, so erstaunt man über den Reichthum der Syn- these dieses einzigen Pflanzentheils. ln allen Wirkungen der Natur ist nichts sichtbar, als unendliche, überreiche Synthesis* Der Mensch allein, dessen Formen und Thä- tigkeiten übrigens alle so synthetisch sind, als alle andere,

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kann in «einem Vorstellen die der synthetischen entgegen- gesetzte Richtung einschlagen, er kann analytisch die Er- tcheinung betrachten, unterstützt von der quantitativen Urtheilskraft, die, so weit sie reicht, seinen analytischen Urtheilen Gewissheit giebt, deren sie entbehren, sobald sie weiter gehen, als dies Gesetz sie leitet. Dies rein menschliche Vermögen nennt der Mensch Verstand , zum Unterschied von der Perceptionskraft, weil er nur vorstellig was er percipirt, aber das vorgestellte erst versteht , wenn er es analytisch vorstellt. Er hat nicht nöthig, dies Ver- mögen auf alle seine Vorstellungen anzuwenden , so wenig, als er alle nach Maas und Zahl zu bestimmen nöthig hat, aber er muss beides können; es muss in seiner Gewalt stehen, die Vorstellungsreihe dem quantitativen sowohl als dem analytischen Urtheil zu unterwerfen. Kann er es nicht, geht ihm diese Gewalt theilweis oder ganz verloren, so ist sein Vorstellen krank. Hieraus geht der Unter- schied zwischen Irrthum und Wahnvorstellung deutlich hervor. Der Irrthum hat zwei Quellen, falsche Ferception und unrichtige Anwendung des quantitativen oder des ana- lytischen Urtheils. Er kann berichtigt werden durch ge- nauere Perception und durch bedächtige Anwendung der formalen Urtheilskraft, wo sich dann der Fehler leicht findet, wie z. B. beim Verrechnen. Aber die Wahnvor- stellung kann nicht berichtigt werden ; sie ist weder un- richtige Perception, noch falsche Anwendung des formalen Gesetzes, sondern eine Vorstellung oder Vorstellungsreihe, auf welche das Individuum das formale Gesetz anzuwenden unfähig ist. Bei der Manie und beim Blödsinn, bei der Schwermuth und bei der Willenlosigkeit ist jenes Gesetz tliätig , kann sich aber nicht beständig gelten machen, weil die Bedingungen in der Bildung und Succession der Vor- stellung oder deren Richtung fehlen , unter welchen es sich gelten machen kann. Aber es giebt auch einen Zu- stand , in welchem dies Gesetz selbst entweder gänzlich oder nur für gewisse Vorstellungen aufgehoben ist, wo es

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wenigsten» vollkommen unthätig auf sie bleibt, ohne dass »ich in der Bildung, Succession und Richtung der Vor' Stellungen irgend etwas krankhaftes bemerken lässt. Die- sen Zustand nennen wir Wahnsinn .

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199.

Man unterscheidet zwei Gattungen dei Wahnsinns. Bei dem einen, den man auch mit dem Namen fixer Idee zu bezeichnen pflegt, ist der Mensch in jedem Betracht völlig gesund und verständig, mit Ausnahme einer einzigen falschen Vorstellung, die sich seiner so vollkommen be- mächtigt hat, dass er unfähig ist, sie als unrichtig zu er- kennen, sondern von ihr überzeugt ihr gemäss handelt, obgleich ihre Ungereimtheit so auffallend ist, dass es gar keiner Widerlegung derselben bedarf. So lebte in Strass- burg ein Uhrmacher, der glaubte, er wäre ein Frauen- zimmer. Als solches hielt er für unschicklich, dass er sich rasiren liess, deshalb trug er den Bart einen halben Fuss lang. In seiner Kunst war er sehr geschickt, repa- rirte Uhren sehr fertig und war der gefälligste Mensch , ■o lange man ihn Madame nannte. Wurde er aber Mon- sieur titulirt, so warf er Zangen und Feilen von sich, er- zürnte sich und meinte, man wolle ihn necken. Ein an- derer höchst gebildeter Edelmann in Preussen verfiel erst im 56sten Jahre seines Lebens auf den Wahn , er sei des Königs älterer Bruder und man habe ihn von seiner Ge- burt an versteckt, um seinen jüngern Bruder zu begünsti- gen. Deshalb verschleuderte er in seiner Heimath sein Eigenthum, um in Berlin sein Recht zu suchen, das ihm die reformirte Geistlichkeit \indiciren sollte, denn die habe den Beweis« in Händen. Als er aber in Berlin an- kam, fürchtete er sich vor der Macht seines „Herrn Bru- ders“, schloss sich in sein Zimmer ein, barricadirte die Thüre , und machte so die Aufmerksamkeit des Hauswirths und der Polizei rege, die seinen Transport ins Irrenhaus besorgte , was ®r für eine Maasregel der Gewalt hielt.

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Hier benahm er sich durchaus verständig, äusserte nicht das geringste von seinen hohen Ansprüchen , ausser dass er zuweilen von seinen u Häusern in Berlin und Potsdam sprach, aber jedesmal den Ausdruck meine u durch das Wort „königliche“ verbesserte, als hätte er sich verspro- chen, und manchmal „des Consistoriums als der Behörde gedachte, von der grosse Handlungen der Gerechtigkeit ausgehen würden. Er zeigte übrigens sich als einen viel- fach gebildeten , sehr unterrichteten , sehr besonnenen Mann vom edelsten Charakter. Gleichsam zufällig liess ich ihn, da er sehr gut andern Kranken vorlas, eine Ge- schichte vorlesen, wo ein anderer, in anderer Zeit, den ungereimten Wahn genährt habe, seines jüngeren Bruders wegen unterdrückt zu werden , da dies doch unmöglich zu einer Zeit geschehen können, als dieser jüngere Bruder noch gar nicht geboren gewesen sei , dann fragte ich ihn , wie ihm das gefalle? seine Antwort war: „recht gut, doch habe es ihn nicht überzeugt, denn es geschehen zuweilen solche ausserordentliche Dinge , wo man die Geburt eines Prinzen durch Inspiration vorauswisse und sogar seinetwe- gen Verbrechen begehe, ehe er noch geboren worden/4 Meine Mühe hatte sonach wenig geholfen. Dies war ein Fall eines fixen Wahns, den der Kranke verbarg und so- gar verläugnete; das geschieht jedoch selten. Aber die Fälle, wo eia Mensch ganz verständig handelt und spricht, mit Ausnahme eines einzigen Wahns, den man nur nicht berühren darf, um ihn ganz gesund anzuerkennen, sind gehr häufig, noch häufiger indessen die, wo die Wahnbe- griffe wechseln, wo z. B. der Kranke heut glaubt, er solle vergiftet werden, morgen, es sei eine politische Verschwö- rung im Werke, in die man ihn verflechten wolle u. dgl. Diese letzte Art des Wahnsinns bietet zwar minder auffal- lende Erscheinungen dar, als erstere, aber für den For- scher der Ursache der Erscheinungen sind sie noch wich- tiger.

2G6

200.

Denn wären jene allein, so könnte scheinen, dass die grosse Gewalt der Bewegung, welche diese bestimmte Vor- stellung erregt habe, Ursache sei, dass das formale Denk- gesetz nicht mit gleicher Energie wirken könne ; es ver- halte sich mit diesen fixen Ideen so, wie mit den Leiden- schaften , die der Mensch nicht beherrscht , wenn sie ei- nen überwiegenden Grad der Heftigkeit erlangen , oder mit den Lügen, die ein Mensch oft und viel wiederholt, bis er sie endlich selbst für wahr hält. Man könnte um so eher versucht werden, dies für die Ursache dieser merk- würdigen Krankheit der Vorstellungskraft zu halten, als die Gegenstände des Wahns fast immer von sehr grossem Interesse für den Wahnsinnigen sind, namentlich selten etwas anderes, als seine Persönlichkeit betreifen, der er einen viel höheren Werth beilegt, als der Fall ist, oder die er in besonderer Gefahr glaubt, wie z. B. Haller, der meinte, gläserne Füsse zu haben, die ihm leicht zerbro- chen werden könnten. Allein dass der Wahn wechseln kann, wie noch häufiger vorkommt, als wo er immer der- selbe bleibt, beweist das Gegentheil. Nicht in der Gewalt des materiellen der Vorstellung, weiche das formale über- wiegt, kann die nächste Ursache der Krankheit liegen, sondern in der Insufficienz des formalen selbst. Dies zu erklären, müssen wir vorerst uns erinnern, wie das for- male Gesetz wirkt. Es entwickelt sich nie vor dein siebenjährigen Alter des Kindes: vor diesem Alter kann das Kind weder zählen, noch rechnen, noch die drei Di- mensionen des Raumes einsehen , noch geometriache Sätze begreifen. Es wird zwar möglich sein, dergleichen ihm papagayenmässig einzulernen, aber nicht, es ihm zur Evi- denz zu bringen. Das quantitative Urtheil ist in ihm nicht erwacht, eben so nicht das analytische Vermögen, das nicht nur aufs genaueste mit ihm xusammenhängt, sondern es überall voraussetzt. Denn wie könnte der Mensch auf

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den einfachen Grund des Mannichfaltigen zuriickgehen wollen , wenn er nicht das Mannichfaltige als die Ausfül- lung der in ihm liegenden, an sich leeren, einfachen Denk- form betrachtete? iSur das kann ihm dies Zurückgehen als möglich erscheinen lassen. Wir wenden auch in unse- ren Träumen dies formale Gesetz und unser analytisches Vermögen niemals an, eine Behauptung, die freilich nicht erweislich ist, aber wegen welcher ich mich auf jeden Beobachter seiner Träume berufen muss. Im Gewirre von zerstreuenden Sinneneindrücken, in der Bewegung der Lei- denschaft, beim Delirium, dem symptomatischen des Fie- bers, wie dem idiopathischen der Manie, entgeht uns gleichfalls dies Vermögen ; schon der natürliche Zustand der Schläfrigkeit bringt uns darum. Der gewöhnliche Haufe der Menschen macht selten davon Gebrauch und wir prei- sen den Menschen, der es öfter als andere, der es mit Fertigkeit auf alles, was ihm vorkommt, anwendet, als scharfsinnig. Aber auch bei den Scharfsinnigsten verlangt dessen Anwendung eine gewisse Ruhe, eine nüchterne Be- sonnenheit, die er doch nicht immer behaupten kann. Je roher der Mensch und je sinnlicher er ist, desto weniger braucht er dies Vermögen, das ihm den Stempel der Menschheit aufdrückt; es äussert sich also bei weitem nicht immer. Es giebt Menschen, die es in vielen und wichtigen Dingen in hohem Grade äussern , aber unfähig sind, es auf gewisse, bestimmte Begriffsreihen anzuwen- den ; wem sind z. B. nicht sehr scharfsinnige Menschen bekannt, die gleichwohl nicht das Schachspiel begreifen und in diesem von andern überwunden w erden , die in je- der anderen Rücksicht tief unter ihnen stehen ? Aus dem allen geht hervor, dass das formale Denkgesetz des Quan- titativen und das auf ihm beruhende analytische Vermö- gen verhältnissmässig gegen andere psychische Kräfte keine grosse Energie hat , obgleich seine Resultate den Charak- ter der Nothwendigkeit haben und alle Menschen sie als gesetzmässig anerkennen , daher seine Insufficienz sehr be-

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greiflich ist. Doch ist sie nie total; wie es aber gesche- hen kann, dass sie sich nur auf einen einzigen Begriff er- streckt, ist unerklärlich. Weit leichter begreift man, wie dieser Begriff häufig wechselt; immer wird man einen Zusammenhang zwischen den Begriffen finden, unter wel- chen er wechselt. So glaubte ein junger, in der Rhein- pfalz geborner und in Baicrn erzogener Mann, er sei der älteste Sohn des Königs von Preussen und betrug sich als solcher; ein andermal erklärte er, seine Mutter sei nicht seine Mutter und gab ihr alle mögliche Laster und Gebre- chen schuld. Dann war er wieder verfolgt von der gehei- men Polizei und suchte Schutz bei seiner Mutter. Der Zusammenhang dieser Wahnbegriffe bedarf keiner Erin- nerung.

201.

Dass diese Wahnbegriffe mehrentheils die Persönlich- keit des Kranken betreffen, entweder seiner Eitelkeit schmeicheln oder ihn als in grosser Gefahr darstellen, ist natürlich: ist nicht die Selbstliebe des Menschen die stärk- ste aller seiner Empfindungen? Doch giebt es auch an- dere, denen aber immer auch ein sehr interessanter Ge- genstand zum Grunde liegt, z. B. das Vaterland, wie bei einem Officier der Fall war, der entdeckt hatte, dass in Breslau, unter der Erde, eine Gesellschaft schwarzer Ver- brecher sitze, die ein Gift brauen, das sich von da aus ln immer wachsenden concentrischen Kreisen über die ganze Menschheit verbreite und diesen nichts an der kör- perlichen Gesundheit schade, sondern nur sie allmählig verleite, immer mehr und mehr wider ihren Vortheil und wider ihre Pflicht zu handeln, alles in der Meinung, dass sie sie erfüllen. Dawider hatte er Musiknoten erfunden, die dies zugleich bewiesen und das Gegengift enthielten, das die Menschen wieder entzauberte. Ein anderer Offi- cier hatte eine Verschwörung aller wohlbeleibten Menschen gegen die mageren entdeckt, denen jene täglich Substanz

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aus dem Leibe ziehen, damit sie fett bleiben; er selbst war ziemlich mager. Auch bei den Maniacis drehen sich die reissend schnell wechselnden Vorstellungen kraft des dem Menschen tief inwohnenden Egoismus fast immer um ihr Ich ; sie verkennen ebenfalls ihre Persönlichkeit und bilden sich ein, gross, mächtig , reich oder in grosser Ge- fahr zu sein , nur dass sie anhaltend und in allen Dingen rasen, doch ihre Vorstellungen sämmtlich sich gleichsam im Wirbel drehen, schneller oder langsamer, je nach dem Grade der Krankheit. Der Wahnsinn verbindet sich leicht mit der Schwermuth und besonders die Hassenden haben mehrentheils einen bestimmten Gegenstand ihres Hasses, dem sie alles Böse andichten. Da zuweilen dieser Hass in furchtbare Thaten ausbricht, während doch ihr Krank- heitszustand vorher entweder gar nicht, oder als blos vor- gefasste Meinung von geringer Erheblichkeit bemerkt wor- den ist, fand sich Platner veranlasst, hieraus eine amentia occulta zu schaffen, die jedoch nur in so fern existirt, als sie den Leuten , die mit dem Kranken umgiengen , occult geblieben ist. Die Behauptung, des berühmten Man- nes hat viele medicinisch- gerichtliche Missgriffe veran- lasst, welchen auf alle Weise entgegengearbeitet werden muss, damit nicht aus den Zeugnissen der Aerzte in Cri- minalfällen Beschönigungen der Verbrechen werden, die den Richter in Verlegenheit setzen, den Grund des Staats- vereins erschüttern und am Ende veranlassen müssen, dass der richterliche Ernst alle Einmischung der Aerzte ver- biete.

202.

Die disponirenden Ursachen dieser Krankheit sind:

a) Hypochondrie, mehr noch , als Hysterie. Diese Krankheiten selbst stehen dem Wahnsinne nahe ; so lange der Kranke noch im Stande ist, seine Gefühle als täu- schend anzuerkennen, ist er blos hypochondrisch; kann er es nicht, so ist er wahrhaft wahnsinnig.

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b) Irgend ein Missgeschick, das «ich der Kranke zu Herzen nimmt. Manchmal verbirgt er es sorgfältig und da es in den Augen anderer nicht so bedeutend ist, wird es nicht errathen. Oefters aber ist es ganz klar und be- kannt und man hört den Kranken selbst höchst verständig, ja mit Resignation sich darüber äussern, so dass man Mühe hat, zu begreifen, wie er gleich wohl deshalb wahnsinnig werden konnte.

c) Körperliche Krankheit, zumal Intestinalfieber. Wäh- rend eines solchen hatte einem Mädchen im Delirium ver- muthlich geträumt, sie sei einem ihr verhassten Mann an- getraut worden und noch mehrere Wochen nach ihrer Re- convalescenz glaubte sie das, nannte sich nach dem Namen des Mannes und bat auch um Gotteswillen , ihr doch zu helfen , dass sie wieder geschieden werden könne. Ein anderer, ein Maurergesell, war während des Deliriums in seiner Meinung zum Baumeister eines Fürsten ernannt worden; nach seiner Herstellung reiste er zu diesem hin, seinen Dienst anzutreten. Er wurde ala Irrer zurückge- bracht , und Monate* vergingen , ehe er seinen Irrthum er- kannte.

d) Nahrung der Eitelkeit und Eigenliebe, entweder durch verkehrte Erziehung oder durch unerwartetes Glück. Eine der gewöhnlichsten Quellen des Wahnsinns , was kei- ner weitern Erklärung bedarf.

e) Ein gewisser Grad geistiger Bildung. Entweder wird das analytische Vermögen dadurch zu sehr ange- strengt, so dass es sich erschöpft und nicht mehr aus- reicht , oder die ohnehin lebhafte Phantasie lernt durch Bekanntwerden mit allen Genüssen, die einer grösseren Beschränkung fremd geblieben wären, Gegenstände unbefrie- digter Sehnsucht kennen, die ihr Opfer erst zum Phantasten und endlich zum Wahnsinnigen machen. Es ist höchst selten, dass Menschen aus der niederen Volksklasse wahn- sinnig werden. Manie, Blödsinn, auch Schwermuth kommt bei ihnen eben so oft vor, als bei der gebildeten Volks-

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klasse, aber Wahnsinn ist fast ausschliesslich Krankheit der höheren Stände. Man hat gesagt, init der Zunahme der Civilisation vermehre sich die Zahl der Geisteskran- ken. Das ist wahr und nicht wahr; Manie und Schwer- muth werden durch sie seltener , aber der Wahnsinn wird häufiger.

203.

Wenn der Wahnsinn Folge körperlicher Krankheit ist, verschwindet er mit dieser; wenn z. B. ein Reconvalescent vom Typhus Wahnsinn unterhält, verliert er sich allmäh- iig , wie die vorige Kraft ganz und in allen Theilen voll- ständig wiederkehrt. Dass indessen dies oft sehr spät erst geschieht, nachdem alle andere Systeme völlig restaurirt sind , beweist, wie schwer und langsam sich das Gehirn ernähre und wie wenig seine Plastik der anderer Organe gleich stehe. So sehen wir auch die Taubheit nach dem Typhus oft sehr lange Zurückbleiben , wenn schon längst alle andere Spuren der Krankheit verschwunden sind. Diesen Fall, den die Natur immer allein heilt, wenn sie nicht gehindert wird, ausgenommen ist der Wahnsinn keine Krankheit, die sich von selbst verliert. Er kann durch das ganze Leben andauern; der Kranke befindet sich kör- perlich ganz so , wie in seinen gesündesten Tagen und die Abwechselungen des körperlichen Befindens haben auf den Wahnsinn keinen merkbaren Einfluss. Besonders die fixe Idee scheint ganz unbezwinglich fortzudauern ; der Kranke beschäftigt sich, beträgt sich wie ein Gesunder, bis auf seinen Wahn, der ihn bis zum Augenblick des Todes nicht verlässt. Anders ist’s mit dem vagen Wahnsinn; dieser verändert sich allmählig, aber ins schlimmere; der Kranke wird immer wahnsinniger und gelangt nach und nach zum Blödsinn , mit der völligen Gewissheit, nun nicht mehr zu genesen. Indessen gelingt es der Kunst zuweilen eher noch, diesen vagen Wahnsinn zu heilen, als den fixen. Auch ist dieser selten ohne eine gewisse leidenschaftliche

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Beimischung ; die immer abwechselnden Wahnbegriffe ha- ben alle einerlei Charakter, entweder einen heiteren, lä- cherlichen, oder einen finsteren, furchtbaren, und es ist höchst sonderbar, dass beständig die Veranlassungen, die den Wahnsinn herbeiführten, den entgegengesetzten hatten. Wenn ein Mensch durch unerwartetes Glück wahnsinnig wird, verfällt er in einen düstern, feindseligen Wahn; wenn er durch Unglück wahnsinnig wird, in einen fröh- lichen, muthwilligen heiteren. Ein Mann hatte sich Schul- den halber den Tod geben wollen ; seine Stieftochter , die ihn zärtlich liebte , hatte ihn im Gefängnisse , in das sie ihm aus dem Schoos des Wohlstandes treu gefolgt war, mit grösster Liebe gepflegt; sie hoffte auf seine Rettung, aber plötzlich starb er. Sie wurde wahnsinnig, sang, neckte muthwillig alle Menschen, verdarb ihre und ande- rer Kleidung und überliess sich ausschweifender Lustig- keit. Ein anderer war unerwartet um ein gehofftes Ver- mögen gekommen und dadurch sehr niedergeschlagen , als ihm das Spielglück ausnehmend günstig wurde: von dem Augenblick an wurde er finster; nichts sah er, als Verschwörungen wider den Staat und wider sein eigenes Leben.

204.

Fast möchte ich sagen, man müsse selbst an Wahn- sinn leiden, um glauben zu können, dass man den Wahn- sinn durch Arzneien heile : das Kraut w ächst gewiss nicht auf der Erde, das einem Menschen seine fixe Idee aus dem Kopfe treibt. Eben so wenig kann man von Bädern hoffen, sie mögen kalt oder warm oder wie man nur wolle angewendet werden; es ist frevelhaft und grausam, die armen Kranken so unnütz zu quälen. Eben so thöricht und vergeblich werden künslliche Geschwüre, Einreibun- gen von ßrechweinsteinsalben versucht. Der Wahnsinn ist allein durch psychische Behandlung heilbar und jede kör- perliche gänglich verwerflich. Aber diese psychische Be-

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Handlung ist nichts weniger als leicht, noch weniger im- mer von Erfolg , wenn sie auch vollkommen zweckmässig geleitet wird. Es ist vergeblich, den Wahn des Kranken zu widerlegen; der Kranke ist gerade darum krank, weil er unfähig ist, auf alle widerlegende Gründe zu achten, denn gewöhnlich ist sein Wahn so handgreiflich absurd, dass er ihn ohne diese Unfähigkeit nimmermehr hegen würde. Greift man ihn an , so reizt man den Kranken blos, dass er Gründe aufsucht, ihn zu vertheidigen , denn seine Ueberzeugung erschüttert man nicht , sondern er strengt sehr sinnreich allen Scharfsinn an , darzuthun , wie so was ausserordentliches, als sein Zustand , habe ein- treten können. Wohl aber ist es gut, ihn lächerlich zu machen ; wird er böse darüber , so muss man ihn mit al- lem Nachdruck zur Ruhe verweisen ; kurz man muss ihn dahin bringen, dass er es erträgt, dass er sich schämt, so oft er mit seinem Wahn nachdrücklich ausgelacht wirdj man muss ihn mit anderen Kranken zusammenbringen, die auch Wahnbegriffe haben und es wird sehr wenig Mühe kosten , ihn zu vermögen , dass er selbst diese auglacht. Wenn er sich seines Wahnes schämt, hat man schon viel gewonnen ; wenigstens verschweigt er ihn alsdann. Gut ist’s, wenn man veranstalten kann, dass er auf irgend je- mand grosses Vertrauen setzt und diesem seinen Wahn als Geheim niss mittlicilt , aber dieser muss ihn sodann ebenfalls derb auslachen. Wenn er sicli beständig mit Achtung und Anstand, ja mit Liebe, mit Freundschaft behandelt sieht, so lange er seinen Wahn verschweigt, aber im Gegentheil verspottet und ausgelacbt, sobald er ihn blicken lässt; wenn man ihn dabei nicht iin mindesten widerlegt, damit er keine Gründe dafür aufsuchen kann, sondern sich mit blossem Spott begnügt, so lernt er vom Wahn gänzlich schweigen. Er mag wohl eine Zeit lang über die Blindheit anderer seufzen , dass sie nicht cinse- hen, was ihm doch so gewiss ist, docli schweigt er davon denn ausgelacht zu sehen, was ihm so wichtig ist, das ist

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ihm empfindlich hat man ihn so weit , so ist cler erste Schritt zur Heilung geschehen. Die zweite Hauptbedin- gung ist, dass der Kranke durchaus und in allem so be- handelt werde, als wäre er gesund, d. i. mit dem Anstand? der ihm gebührt, nicht seinem Wahn, sondern seinem wahren Verhältnis vor dem Erkranken, nur dass er sich der Ordnung unterwerfen muss, die einmal im Institut, wo er aufgenommen ist, statt findet Nie muss er sich als das Opfer fremder Willkiihr ansehen , sondern seinen Aufenthalt im Irrenhause als ein Unglück betrachten, das man ehrt. Dann muss seines Wahnes nie Erwähnung ge- schehen, weder vom Arzte, noch Von irgend jemand, auch nicht auf die leiseste Art: proflucirt er ihn aber selbst, so wird er von den ihn Umgebenden verlacht und der Arzt wendet sich von ihm ab, ohne ihm ein Wort zu er- wiedern ; er muss durchaus wissen, dass er diege Seite nicht berühren darf. Dann muss man ihn beschäftigen und zwar mit Dingen, die ihm neu und ungewohnt sind, die ihm neue Begriffsreihen eröffnen ; das Gelingen muss belohnt, das Misslingen mit Schonung und Wirtken, wie es künftig besser zu machen sei, getadelt werden. Es ist durchaus verkehrt, wenn man den Gelehrten mit wissen- schaftlichen Dingen beschäftigt, den Künstler mit seiner Kunst; jener muss Handarbeiten lernen, zeichnen, Musik, und nur zur Erholung und Abwechselung darf er einmal lesen ; der Handwerker aber wird mit Lectüre , mit Gar- tenbau beschäftigt, der Maler mit Papparbeiten, der aber, der solche schon früher zu fertigen verstand , mit Zeich- nen und Malen. Der Zweck muss sein, neue Begriffsrei- hen zu wecken , die dem Kranken interessant sind. Dabei muss man ihn immer beschäftigen , aber immer abwech- selnd ; alles kommt auf eine gute Hausordnung im Institut an und auf strenges Festhalten derselben. Ist er an Thä- tigkeit, an Ordnung gewöhnt, hat er neue Fertigkeiten erlangt, beträgt er sich mit Anstand, erwähnt er nicht mehr seines Wahns , so muss taan Um unter andere Men- *

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sehen bringen, <3ie ihn völlig so behandeln , als sei er nie wahnsinnig gewesen. Benimmt er sich gut, so muss dies öfter geschehen ; missbraucht er das in ihn gesetzte Ver- trauen, so muss man ihn wieder aller Gesellschaft ausser dem Irrenhause entziehen , ohne ihn auszu schelten. Bei

(consequentem Durchführen dieses Ileilplans fehlt es selten,, dass mqn den Kranken vollständig und gründlich heilt: die

1 unglücklichen Fälle sind meist solche, wo durch den Ein- fluss der Verwandten oder des Zufall* von dem Heilplan abgewichen worden ist. Sehr viel kommt, wie sich ver- steht, auf individuelle Umstände, auf die Klugheit des Arztes im Benutzen derselben an ; es ist unmöglich , des-

! falls irgend eine Regel zu geben. Aber die Hauptidee t nach welcher solche Kranke behandelt werden müssen, glaube ich hinreichend dargethan zu haben. Ausser dem Irrenhaus, unter seinen gewohnten Umgebungen, bleibt der Wahnsinnige gewiss unheilbar. Täuschung durch fal- sche Nachrichten hat zuweilen bei fixen Ideen etwas ge- holfen , nur muss der Kranke keine Absicht merken. Fixe Ideen gehen mehrentheils in vage über und durch diese in Blödsinn.

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Cap. XVI. Von der Krankheit durch Einfluss des Uebersinnlichen.

205.

Das Vermögen der Ideen an sich und in so fern es das analytische Vermögen zur Basis hat, kann nicht als eine besondere Eigenschaft des Menschan angesehen wer- den. Der Begriff einer Ursache als des einfachen Grun- des des Mannichfaltigen ist mit dem analytischen Vermö- gen zugleich gegeben, also nicht al* Vernunftwesen , son- dern als verständiges Wesen sucht der Mensch die Ursa-

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chen def Erscheinungen auf. Eben *0 wenig konnte matt dem Menschen die Erkenntniss des Urtyp us der Formen des Lebendigen absprechen , wenn er blos Verstand , aber nicht Vernunft hätte, denn in den Formen des Lebens ist eben dieser Urtypus das Einfache im Mannichfaltigen. Allein die Idee des Rechts als des höchsten Zwecks de* Willens entspringt nicht aus dem analytischen Vermögen. Nur in wie fern das Recht Regulativ der Verhältnisse des Menschen im Staate ist, ist es reine Verstandssache, al- lein in wie fem es allgemeines Regulativ des menschlichen Handelns, gemäss dem höchsten Zweck der Menschheit, ist, setzt es etwas anderes voraus, als Analyse der Be- griffe, als welche nie zur Erkenntniss des höchsten Zwecks der Menschheit führen könnte. Man kann sich hierin leicht täuschen: alles in der Welt kann nach dem analy- tischen Gesetz geprüft werden , auch die Postulate der Vernunft, allein die blosse Analysis führt nicht auf diese. Recht y Tugend, al« die durch das Recht bestimmte Hand- lungsweise, selbst Wahrheit , als das Ideal des mensch- \

liehen Vorstellens, das ein Sein voraussetzt, was jenseits der Sphäre menschlicher Erkenntniss liegt , Schönheit , als dag Ideal alles Wirklichen, nach welchem dies überall un- vollkommener Ausdruck des Vollkommenen ist, sind Ideen, zu welchen das analytische Vermögen nicht führt, wenn es sich gleich an ihnen übt und sie auf seine Weise in die Wirklichkeit, seine eigentliche Sphäre, trägt. Am wenigsten kann der Glaube des Menschen an Wesen, die höher und vollkommener sind, als er selbst und der zweite Glaube desselben, dass er in seinem Handeln die thieri- uclien Zwecke, also seine Glückseligkeit, ja seine Existenz selbst, der Pflicht aufopfern müsse, Resultat seines analy- tischen Vermögens sein, denn dies führt ihn durchaus nicht über das Gebiet der Erfahrung hinaus, aber dass höhere Wesen giebt, hat er nicht erfahren; und in wie fern es Regulativ seines Handeln« ist, kann es ihn nicht zu einem höheren Princip führen, als zu seinem Wohlsein,

27?

mit dem sich die Aufopferung denselben, ja seines Daseins selbst, nicht verträgt. Dies ist so wahr, dass alle positive Religionen die Lücke dadurch ausfüllen, dass sie Unsterb- lichkeit und sinnlichen Lohn für sittliche Aufopferung im ewigen Dasein nach dem Tode versprechen. Die Ver- nunft löset die Schwierigkeit, indem sie, mit der Gott- heit Eins, ihr Gesetz als das höchste gelten machend, sinnliches Glück und sinnliches Dasein selbst als das niedere sich unterwirft und es ihrem Zweck aufopferu muss, wenn es ihm entgegen steht. Doch es ist hier nicht der Ort philosophischer Erörterungen : nur wenn

die Frage entsteht, ob auch die Vernunft erkranken kön- ne, wenn wir dies als vom analytischen Vermögen denk- bar und durch die Erfahrung erwiesen anerkennen, musste dies wenige über ihr Dasein und ihre Offenbarung im Menschen gesagt werden.

206.

X

Die Vernunft beruht also nicht auf einer besonderen Fertigkeit, sondern sie ist die höchste Gesetzgebung des Denkens und Wollens. Es wäre demnach eine absurde Frage, wenn man untersuchen wollte, ob sie erkranken, könne. Wohl aber können ihre Wirkungen im Individuum unterdrückt und gehindert werden durch Krankheit dessel- ben, ja jede Krankheit des vorstehenden Wesens, vom Schwindel an bis zum Wahnsinn, hindert ihr Wirken. Auch ist sie es, die den Menschen für den Regriff des Transscendentalen fähig macht, obgleich dagegen Einwen- dungen gelten. Denn der Glaube des Menscheu an höhere Wesen sowohl als der praktische Glaube, dass er nicht thun darf, was er möchte , sondern das, was er soll, kün- digt sich laut in jeder Menschenbrust an, lange vor der Reife der Vernunft: beide sind allgemein, nicht Resultate des Nachdenkens, sondern so innig mit allen Gefühlen des Menschen verbunden, dass sie bei keinem, vom Kindes-

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alter an bis zum spätesten Ziele des Greises, Tom Neusee* iänder bis zu Kant oder Bicbat, nicht zu unterdrücken Bind. Ob also gleich die Gründe dieses doppelten Glau- bens übersinnlich sind, erwartet doch der Mensch die Entwickelung der Erkenntniss des Uebersinnlichen nicht, um sie zu fühlen und gerade weil ihm dieser Glaube Be- dürfniss ist, ehe er Gründe für denselben einzusehen fä- hig ist, erwächst für ihn auf der einen Seite Bedürfnis positiver Religion, als äusseren Grundes desselben und auf der anderen die Möglichkeit, dass der Abfall von seinem Glauben, den er entweder fürchtet oder den er sich wirk- lich vorwerfen muss, sein ganzes Vorstellungsvermögen zerrütte und ihm die Möglichkeit, nicht blos der Vernunft- entwickelung , sondern der Vernunftwirkung, raube. Je inniger er an dem positiven und formalen der Religion hängt, durcli welches diese den Mangel der Entwickelung des Vernunftglaubens ersetzt, desto leichter kann dies ge- schehen, daher das Christenthum und der Islam mehr Schwärmerei in Religionsgefühlen und öfteren Wahnsinn aus dieser Quelle hervorgebracht hat, als alle frühere po- sitive Religionen. Das Christenthum war ein grosser Fort- schritt der Menschheit, weil sie die erste positive Reli- gion war, die den doppelten Glauben des Menschen in Eins verband und ihm gemeinschaftliche Garantie gab , während alle frühere, blos beschäftigt, dem Glauben an höhere Wesen äusseren Grund zu geben und durch sie das Dasein der Welt zu erklären , ihre Aufgabe nur halb löseten und die sittliche Natur des Menschen, seinen Glauben an die Pflicht, ohne Gewähr liessen. Sie ergrif- fen daher den Menschen bei weitem nicht so tief und so begreift es sich , warum sie nicht den Enthusiasmus erre- gen konnten, den das Christenthum erregte. Der Islam, der ebenfalls wie dieses, Gewähr für den doppelten Glau- ben des Menschen leistet , hat zu wenig sinnliches und ob er gleich grossen Enthusiasmus erregt , auch viel düstere Fanatiker erzeugt hat* ist er doch hierin dem Christen

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thum nicht gleichzustellen. Gerade das Erhabenste, ww den Menschen am höchsten hebt und ihn heiligt, was ihn mit leichter Mühe weiter bringen und fester beruhigen kann, als die höchste Reife der Vernunft könnte, wenn, es ihr gelang , ihre Aufgabe zu lösen , ist auch mehr all alles fähig, ihn in Krankheit zu stürzen.

207.

Der religiöse Wahnsinn ist weder allein eine Aberra- tion des Verstandes, noch der Leidenschaft, sondern bei- der zugleich ; die basischen Kräfte werden durch ihn eben- falls in kranke Thätigkeit gesetzt; die Phantasie, als da» Resultat der Erinnerungskraft und des Combinationsver- mögens , schafft sich groteake Bilder, springt über jede Art ron Unmöglichkeit weg und stellt ihre Schöpfungen als wirklich dar. Nicht eine einzelne Leidenschaft wird durch ihn aufgeregt, sondern alle, selbst die Geschlechts- lust, wie man schon längst zu bemerken nicht vergessen hat. Der Fanatismus treibt den Menschen zu jeder Art von Wuth oder Verkehrtheit des Willens. Es giebt nichts, was tiefer den Menschen ergreift, als er, was gleich ihm alle Kräfte seines Wesens empört und ihn unfähiger macht für alles gesetzmässige der Anwendung seiner psychischen Kräfte, ln alles andere, was sonst den Menschen fanatisi- ren kann , mischt sich Eigenliebe ein ; in den religiösen Fanatismus nicht; der Mensch opfert sein Glück und sein Leben für ihn mit Freudigkeit, mit Eifer er geht allen Martern mit Lust entgegen , reichlich entschädigt durch den Gedanken , dass er cs für Gott thue. Natürlich dass er, der sich selbst nicht schont, auch nicht andere schont; natürlich, da«s er die, die er alt Feinde seines Glaubens ansieht, auf eine Weise hasst und verfolgt, dtr nichts an Grausamkeit gleich kommt. Die Geschichte lehrt Perioden kennen, in welchen mehrere Generationen nacheinander, in welchen ganze Völker von diesem religiösen Wahnsinn ergriffen waren , der sic zu schaudervollen , entsetzlichen

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Thaten trieb. Nicht weniger ist dergleichen von einzelner! zu allen Zeiten au bemerken gewesen. Mitten in der lichtvollsten Periode der neuen Geschichte gab es mehrere Beispiele, wo Weiber ihre Kinder opferten, ja sogar eins eines venetianischen Schwärmers, der sich ein Kreuz machte, sodann seine Füsse daran fesi nagelte, dann ei- nen Nagel für die rechte Hand einschlug, hierauf sich die rechte Hand mit weiter Oeffnung durchbohrte , mit dieser verwundeten Hand die linke annagelte und nun mit unsäglicher Mühe die Wunde der rechten Hand auf den für sie bestimmten Nagel presste, bis er ihn durchgedrückt und so seine Kreuzigung selbst vollendet hatte,

208.

Es ist vergeblich zu hoffen, dass es der Vernunft ge- lingen werde, endlich den Fanatismus zu verscheuchen, der das heiligste und höchste, was der Mensch hat, in eine Quelle der allergräislichsten Greuel verwandelt. Nie wird der Mensch, mit Ausnahme weniger Individuen, den Grund seines Glaubens der Untersuchung des Verstandes unterwerfen und selbst die, die es geihan haben, werden nicht selten, gleich Haller oder Stollberg, das traurige Beispiel liefern , dass auch sie zu den dunkeln Gefühlen des Aberglaubens lieber zurückkehren ; diese Sünde wider den heiligen Geist wird zu allen Zeilen begangen werden. Und nie wird es an Listigen fehlen, die, wohl einsehend, dass man auf die Meinung der Menge durch nichts so ge- waltig einwirken könne, als durch religiöse Gefühle, diese Quelle der Macht für sich ergiebig machen. Daher darf es uns nicht befremden , dass die Beispiele religiösen Wahnsinns jetzt in gewaltiger Zunahme sind. Aber ge- rade zu behaupten, wie ein deutscher Schriftsteller gethaii hat, dass alle Vorstellungskrankheiten religiösen Ursprungs sind, oder, wie er sich ausdrückt, von der Sünde herrüh- jrens ist aufs gelindeste gesprochen ci*c eeUsame Unge-

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Ireimtheit, die wohl nur in einem Kopfe entstehen konnte» den die Religion mehr erwärmt als erleuchtet hatte.

209.

Es giebt keine Art des Wahnsinns, die schwerer iu heilen ist, als der religiöse, eben weil alle psychisch* Kräfte des Menschen zugleich durch ihn erkranken. Da- her gelingt auch keine Heilung seltener; es ist gar nichts da, woran man sich halten kann. Wie bei körperlichen Krankheiten immer nur Ein Organensystem vorzüglich lei- det, dies aber dadurch zur Genesung zurückgebracht wer- den kann , dass die Thätigkeit der nicht angegriffenen Sy- steme energischer wird , als die kranke und daher diese in ihre Schranken zurückführt, so ist es auch mit den Vorstellungskrankheiten. Die kranke Kraft muss durch die gesund gebliebene überwogen und durch sie auf ihre normale Wirksamkeit zurückgeführt werden. Aber der Fanatismus lässt keine Kraft des Menschen gesund. Will man auf den Körper wirken , so kann man diesen wohl schwächen , aber dadurch keine Veränderung der Krank- heit hervorbringen, ln die Sinnlichkeit wirkende, schmerz- hafte , unangenehne Mittel erträgt der Kranke mit geist- lichem Stolze, als ein Märtyrthum. Die psychische Be- handlung des religiös Wahnsinnigen ist die einzige, die uns übrig bleibt , aber «ie ist ausserordentlich schwer. Die Seele , das Wesen der psychischen Heilkunst ist Be- schäftigung; der religiös Wahnsinnige unterwirft sich der- selben als einem Opfer, das er bringt, ohne sich für sie zu interessiren ; alles irdische ist seinem Auge Tand und nur das himmlische begeistert ihn. Beschäftigung aber ohne Interesse heilt nicht; doch muss man ihn anfangs aus Zwang thun lassen, was er aus Neigung thun sollte, gerade wie Blödsinnige auch nur durch Zwang zuerst in Thätigktit zu setzen sind, bis sie aus Gewohnheit fortfah- ren , sich zu beschäftigen. Man muss damit beginnen, §ei- aea geistlichen Stolz zu bekämpfen, der sich sehr gewöhnlich

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in Demuth verkleidet. Man muss ihn als einen bedauern»- werthen Unglücklichen behandeln, der er wirklich ist, ihm aber immer fühlen lassen, dass er verächtlicher ist, als alle andere Menschen. Man kann ihm mit Härte, mit "Verachtung begegnen; im Anfänge nährt dies zwar nur seinen Stolz; wenn er sich aber anhaltend gegen alle zurückgesetzt sieht, so wird er doch weicher. Hält er sich für einen Verbrecher , einen Sünder , so behandle man ihn als solchen, nur nicht mit Kasteiungen, denn die liebt er , aber so , dass man ihn nöthigt , andere Irre zu bedienen. Dagegen empört sich sein Stolz und das giebt Gelegenheit , ihm fühlbar zu machen , wie wenig er werth ■ei, da er sich nicht wirklich demiithigen gelernt habe. Immer weise man ihm von allen Beschäftigungen die nied- rigsten an ! Er muss die Stube fegen , Holz sägen , Holz tragen , Wasser tragen, Gefässe reinigen u. dgl. Dagegen müssen andere für ihn seine Wäsche reinigen, seine Klei- der besorgen und dafür muss er sich höflich bedanken ; will er nicht , so macht man ihn lächerlich , denn das är- gert ihn am meisten und dadurch verwickelt man ihn am sichersten in profane Cefühle , die man nicht ermangelt als Beweise gelten zu machen, dass es um seine Religiosi- tät gar schlecht stehe. Wenn andere gelobt werden, su- che man immer auf ihn den meisten Tatal zu häufen. Gelingt es dadurch, ihn zornig zu machen, so hat man schon etwas gewonnen. Von Religionsübungen muss er streng abgehalten werden ; er darf nichts lesen , nicht ein- mal profane Dinge; jedes Gespräch, das religiöse Ideen wecken könnte, muss sorgfältig vermieden werden. Je weniger er dergleichen äussert, desto mehr muss man ihn anständiger beschäftigen, ihm Vertrauen zeigen, Hoffnung schöpfen lassen, endlich eben so gut behandeln, wie an- dere Kranke, aber gleich wieder ihn degradiren, wenn ei- sernen religiösen Wahn aufs neue producirt. Allmählig gelingt es so am besten , ihn an Arbeitsamkeit zu gewöh- nen und ihn zum Verbergen seines Wahns zu nöthigciL

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283

Ist der Kranke so weit, so beschäftige man ihn so viel als möglich mit Rechnungen , lasse ihn erst welche abschrei- ben, dann prüfen und nachrechnen, wobei es gut ist, es so einzurichten, dass er mitunter Fehler findet und das Vergnügen hat , sie zu verbessern. Endlich erlaubt man ihm wieder Lectiire , aber keine andere, als historische, nur nichts , was auf Kirchengeschichte Bezug hat. Erst nach langer Zeit darf man es wagen, ihn wieder unter andere Menschen zu bringen,

210.

So kann es am ersten glücken, einen religiösen Fana- tiker zu heilen, wenn er nicht von Gewissensbissen gefol- tert ist , die ihren Grund in wirklich strafbaren Handlun- gen haben. Einen solchen zu heilen, ist fast unmöglich; nie schweigt die innere Stimme. Selbst wenn die Schuld eine blos eingebildete ist, gelingt es sehr selten, ihn zu beruhigen; zuweilen macht es einigen Eindruck, wenn man ihn noch grösserer Vergehungen schuldig erklärt, als er sich selbst zuschreibt. Einen Mann , der sich einbil- dete, am französischen Kriege schuld zu sein und das Un- glück so vieler Millionen Menschen auf sich geladen zu haben, brachte ich auf eine Weile zum Nachdenken, als ich laut erklärte, er sei nicht blos am französischen Krieg schuld , sondern auch am siebenjährigen , der lange vor seiner Geburt beendigt war, aber die offenbar falsche Be- schuldigung wirkte nicht lange ; er verfiel bald wieder in seine vorigen Selbstanklagen. Eingebildete oder wirkliche Verbrecher verurtheilen sich selbst gern zu den niedrig- sten Arbeiten, die sie mit grossem Eifer verrichten; man muss sie daran hindern, eher suchen, sie zu erheben und aufzurichten. Ueberhiupt muss man zwar sehr darauf sehen, dass solche Menschen so wenig als möglich Zeit behalten , sich ihrem Nachdenken zu überlassen , allein darauf achten , was sie selbst gern thun möchten und ih- nen dis Gegentheil davon , nicht ohne Zwang , thun lassen.

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Der Zwang ist ihnen widrig und regt in ihnen ein Gefühl auf, das dem kranken entgegentritt ; die Mühe, die eg iie kostet, die unwillkommene Arbeit zu verrichten, ent- fernt sie noch mehr von ihren peinigenden Gefühlen. Eg muss hier alles dem Arzte überlassen bleiben, denn die individuellen Fälle gleichen »ich zu wenig, als dass möglich wäre, mehr als allgemeine Andeutungen des Richt- punkts für die Behandlung zu geben. Solche unglückliche werden gern Selbstmörder und für sie muss man eine Aus- nahme von der Regel machen , nach welcher, man den Irren im Ganzen Zutrauen zeigen muss. Es ist höchst irrig, wenn man ihnen alle Werkzeuge aus dem Wege räumt, wodurch sie sich und andere verletzen könnten ; dadurch raubt man ihnen die Mittel zu den allermeisten Beschäftigungen. Zugleich erinnert man sie daran, dass sie diese Werkzeuge missbrauchen könnten : das muss man gänzlich vermeiden und sich so benehmen , als sei dies gar nicht denkbar. Sie gehen dann mit Aextcn, Meissein, Messern und dergleichen Dingen so ordentlich um, als wenn es gar nicht möglich wäre, sie zu was anderem zu brauchen, als wozu sie bestimmt sind, ja sie hindern an- dere daran, dass sie sie nicht verderben. Nur wenn die Arbeit vorbei ist, muss man sie auf die Seite räumen. Nur die sich grosser Verbrechen schuldig glauben oder wirklich daran schuld sind, muss man vor allen in Acht nehmen, denn sie machen alles zum Werkzeuge des Selbst- mords. Fällt ein solches Unglück im Irrenhau*e vor, so muss man es den andern Irren verbergen und den Todten entfernen: sie vergessen schnell, was sie nicht mehr sehen.

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Cap. XVII. Von den Krankheiten der

Muskelbewegung,

211.

Der Mensch hat ein doppeltes Muskelsystem ; das Sy- stem der Hohlmuskeln und das der willkührlichen Mus- keln. Das erste hat nur Gangliennerven und der wichtig- ste aller Hohlmuskeln , das Herz , bewegt sich selbst ohne diese, selbstständig, ob er gleich ebenfalls Gangliennerven hat. Von der Bewegung der Hohlmuskeln, obgleich auch diese eigenthümlicher Krankheit fähig ist, braucht hier nicht mehr die Rede zu sein, nach allem, was bereit» von den Gangliennerven gesagt ist. Das System der will- kührlichen Muskeln aber hat seine Nerven zum kleinsten Theil aus dem Gehirn, zum bei weitem grössten aus dem Rückenmark , welches eine unmittelbare Fortsetzung des Gehirns ist , wenigstens im Menschen so betrachtet werden muss, denn in den Vertebralen der unteren Klassen er- scheint das Gehirn mehr als ein Anhang des Rückenmarks und dies als das Hauptcentrum des Nervensystems; der Mensch hat unter allen Thieren das kleinste Rückenmark im Verhäitniss zu seinem Gehirn. Wenn Thätigkeiten des Hirns in das Rückenmark und durch dies in die Muskeln reflectirt werden, so bewegen sich die Muskeln; in ihnen ist Nerv , Gefäss und elastisches Zellgewebe zu Einem Ganzen unzertheilbar verschmolzen. Im allgemeinen wird zwar durch den Reiz des Willens der Muskel kürzer, dicker , und bei öfter wiederholter Bewegung füllen sich dessen Gefässe immer stärker an; wie es aber geschieht, dass der Wille gerade den Muskel bewegt, den er zu einer bestimmten Absicht braucht, dass er gerade harmonisch so viel Muskeln zusammen bewegt, als die Bewegung aui- führen können, und dass er jeden in dem dazu nöthig^i) Grade bewegt, dis wissen wir nicht.

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m.

In dem allen sind Fehler möglich. Erstens kann die Reflexion vom Gehirn in die Muskeln fehlerhaft erfolgen , entweder indem sie die Muskeln zu stark und ohne Ord- nung bewegt, oder indem sie sie nicht harmonisch be- wegt, oder indem sie das System der Streckmuskeln allein bewegt, oder indem sie ganz unwirksam wird. Zweitens ist möglich, dass sich die Polarität verkehrt und das Ge- hirn vom Muskelsystem aus gereizt wird. Drittens kann der Leitungsapparat, der Muskeln und Nervencentra ver- bindet, fehlerhaft werden. Viertens können die Muskeln selbst auf mehrfache Weise zur Bewegung unfähig werden. Auf diese vier Hauptursachen reduciren sich alle mögliche Bewegungsfehler, aber bei der grossen Verschiedenheit derselben und der Bestimmung der einzelnen Theile des Muskelsystems entstehen durch sie sehr verschiedene Krankheitsformen. Häufig geht eine in die andere über und es ist oft genug schwer nachzuweisen, auf welche Art die immer auffallenden Erscheinungen im Muskelsy- stem zu Stande kommen. Die Schwierigkeit wird erhöht durch das unbestimmte der Terminologie ; die Sprache hat für höchst verschiedene Zustände einerlei Ausdruck. Das Wort Krampf, Spasmus , bezeichnet den Zustand des Ge- fässsystems , in welchem die Contraction die Expansion überwiegt, also die oscillirende Lebensbewegung durch Zu- sammenziehen aus dem Gleichgewicht kommt; es bezeichnet aber auch alle Krankheitserscheinungen im Muskelsystem überhaupt, die nicht von Localfehlern der Muskeln her rühren und nicht Lähmungen heissen. Durch diesen Dop- pelsinn entsteht grosse Verwirrung der Begriffe , welcher nisht abgeholfen wird , wenn man das Wort Zuckung , con- Tülsio, an die Stelle setzt, so oft von den Krankheiten der Bewegungsorgane die Rede ist, denn dies Wort kann wohl kranke Bewegung, aber nicht Erstarrung bezeichnen. Es fehlt durchaus der Kunstsprache an einer passenden, ver^

«tändlichen Terminologie. Zwar* nimmt «ich jeder die Freiheit, neue Worte zu machen, aber diesen neuerfunde- nen fehlt fast immer alles , was sie zum allgemeinen Ge- brauch empfehlen könnte.

213.

Der äusseren Erscheinung n?ch sind alle Muskelkrank- heiten entweder Zuckungen , oder Erstarrungen , oder Läh- mungen, oder Folgen von Localkrankheiten einzelner Theile des Muskelsystems. Heftige Bewegung eines oder mehre- rer Muskeln, die ohne Absicht erfolgt, vielmehr der Ab- sicht entgegen , nennt man Zuckung. Es ist nicht wohl möglich, dass alle Muskeln zugleich wider Absicht und dem Normaizweck entgegen sich bewegen , sonst würde die Respiration unterbrochen werden ; zwischen dem Sy- stem der Respirationsmuskeln und den übrigen willkür- lichen Muskeln findet Antogonismus statt. Wenn die Streckmuskeln starr und unbeweglich sind , wenn dadurch die Bewegung der Organe aufgehoben wird, nennen wir dies Erstarrung. Wenn die Muskeln dem Willen entweder nicht oder doch nur unvollkommen folgen , nennen wir dies Lähmung. In dem allen setzen wir voraus, dass die Ursache der Erscheinung nicht im unwillkührlich beweg- ten oder unbeweglichen Muskel liege, sondern im Nerven- system. Entzündung eines Muskels hebt dessen Bewegbar- keit auf; Entzündung der ihn umkleidenden Membranen erschwert die Bewegung und macht sie schmerzhaft; Er- kältung des Muskels vermindert dessen Bewegbarkeit oft im höchsten Grade, ohne Schmerz; ein derber Schlage Erschütterung lähmt sic; erhöhte Contraction der Gefässe eines einzelnen Muskels (crampus) hebt sie auf, aber mit Schmerz, eben so Krankheiten der Knochen und Gelenke. Von dem allen kann hier nicht die Rede sein, denn nur die Bewegungsfehler, die vom Gehirn ausgehen , sind Gfr» genstände unserer Betrachtung.

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214.

Es ist dem Muskehystem so natürlich, die Glieder zu bewegen, dass es bei weitem nicht immer de» Reiz des Willens hiezu erwartet. Der Fötus bewegt sich, Ton den Eihäuten umschlossen, ziemlich lebhaft; vom Willen kann bei ihm nicht die Rede sein. Wir bewegen uns im Schla- fe, auch ohne zu träumen; lange Zeit in einerlei Stellung und Lage zu bleiben ist uns unerträglich und jedes Thier macht daher eine Menge Bewegungen ohne andere Absicht, als seine Lage zu ändern, doch auch dieser ist es sich nicht bewusst. Das Spiel der Respirationsmuskeln setzt sich fort ohne den geringsten Einfluss des Willens, ob- gleich dieser die Respirationsbewegungen ändern kann. Wenn Muskeln der einen Körperhälfte sich bewegen , be- gleiten gern die gleichnamigen der andern Hälfte diese Bewegung. Bei vielen Handlungen verändern sich die Ge- sichtsmuskeln unwillkührlich ; so kann z. ß. niemand leicht etwas zerschneiden , ohne die Kaumuskeln zu bewegen. Das Gesetz der Reihenbildung gilt auch von der Muskel- bewegung ; ist einmal eine im Gang , so wird sie fortge- setzt, z. B. da« Gehen: es gehört der Reiz des Willens dazu, sie zu hemmen. Man würde also sehr mit Unrecht jede Bewegung, die ohne Absicht geschieht, Zuckung be- nennen. Zittern der Muskeln ist nicht Zuckung und doch Bewegung wider Willen. Man sieht, wie schwer es istf den Begriff der Zuckung genau zu bestimmen. Es giebt Zuckungen bei vollem Bewusstsein; bei den meisten jedoch ist dies aufgehoben. Alle Zuckungen der Respirationsmus- keln erfolgen bei vollem Bewusstsein. Aber jede plötz- liche Suspension des Bewusstseins ist von Zuckungen be- gleitet, besonders im Moment des Eintritts und in dem des Aufhörens. Zuckungen einzelner Muskeln geschehen immer bei vollem Bewusstsein; besonders in der Jugend kommt häufig vor, dass irgendwo ein Muskel ohne allen bemerklichen Anlass zu oscilliren beginnt, ohne im min*'

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dosten zu schmerzen ; auch bei älteren Personen rieht man dies oft im Auge, welches dann zwickert (nictitat). Durch blosse Gewohnheit kann Zucken einzelner Muskeln habituell werden ohne die mindeste Störung' des Bewusst- seins; wir sehen sehr viele, die das Gesicht, die Schul- tern, den Hals, oft seltsam genug, verzerren und drehen; manchmal sind solche habituelle Zuckungen Wirkung vie- ler Muskeln zugloich , eine Succession unwillkürlicher Bewegungen. Man kann sie nicht krankhaft nennen, ob sie gleich oft sehr entstellen, auch wohl als Folge von Krankheiten Zurückbleiben.

215.

Krankhaften Zuckungen ist das Kindesalter sehr hau-* fig unterworfen. Sie treten gewöhnlich urplötzlich und ohne Vorzeichen ein, sind immer mit Suspension des Be- wusstseins verbunden und enden häufig mit dem Tode, wenn nicht passendes Heilverfahren diesen Ausgang ab- wehrt. Die Obduction weist dann in der Regel keine Spur irgend eines Fehlers nach. Man hat ihre wahre Natur so sehr verkannt, dass man sie als idiopathische Krankheit des Kindesalters häufig dargestellt hat, ob sie gleich jedes- mal blos symptomatisch sind. Nämlich zuerst entsteht bei Kindern vor dem zweiten Jahre gewiss und vor dem sie- benten Jahre mehrentheils jedesmal ein Anfall von Con- vulsionen mit suspendirtem Bewusstsein, wenn bei älte- ren Kindern oder Erwachsenen Fieberfrost eintreten wür- de; diesen suppliren die Convulsionen. Wie aber der Fieberfrost jedesmal durch erhöhte Contraction des ge- sammten Gefässsystems entsteht, der die erhöhte Erpan-t sion, die Hitze, folgt, so hat auch ein solcher convulsiver Anfall Fieberhitze zur Folge und seine Ursache ist die- selbe. Auch beim Erwachsenen ist während des Fieber- frosts die Sinnlichkeit sehr unterdrückt; es darf nicht be- fremden, wenn sie beim Kinde, dessen Gehirn nach Ver- häitniss noch blutreicher ist, ganz ccssirt. Die zitternde

19

Bewegung beim Frost ist der convulsiven sehr ähnlich» Entzündungsfieber , Wechselfieber, welchen starker Schüt- telfrost vorausgeht, müssen also bei Kindern statt des Frosts Convulsionen zeigen. Auch bei exanthematischen sieht man dies häufig und pflegt selbst eine gute Vorbe- deutung daraus zu ziehen, die bei den Pocken auch immer bestätigt wird, aber nicht bei den Maseru und dem Schar- lach. Denn je kräftiger bei den Pocken das Ausbruchs- fieber ist, desto vollkommener und leichter erfolgt der Ausbruch und desto geringer ist in der Regel die Zahl der Pockenpusteln, folglich ist auch die nachfolgende Krankheit desto gefahrloser. Aber so verhält es sich nicht beim Scharlach; je stärker das Fieber mit einemmal be- ginnt, desto grösser ist die Gefahr, dass es in Entzün- dung der Hirnhäute übergehen werde, wenn am vierten Tage die erysipelatöse Entzündung der Ilaut etwas nach- lässt. Bei den Masern treten Convulsionen seiten ein ; es geht dem Ausbruch des Exanthems lange katarrhalisches Leiden voraus und dieser erfolgt ohne Schüttelfrost : kom- men aber Convulsionen, so kann man auf sehr heftiges Fieber rechnen. Katarrhalische und gastrische Fieber ha- ben in der Regel schwachen Frost und daher auch nur selten Convulsionen bei Kindern zur Begleitung, doch kommt dies vor, besonders bei solchen Kindern, die einen sein* starken, grossen Kopf im Verhältnis zuin übrigen Körper haben, deshalb auch spät und schlecht laufen ler- nen, auch bei allen Spuren von Intelligenz nur spät reden. Es ist eine sehr allgemeine Meinung, dass die Entwicke- lung der Zähne häufig von Convulsionen begleitet sei. Die Wahrheit ist, dass jede Fieberkrankheit der Kinder ihr Wachsthum befördert, folglich auch die Zahnentwickelung, besonders wenn sie träge und spät erfolgt, dass also häufig die Zähne nach Krankheiten erst zum Vorschein kommen. Damit soll keineswegs geläugnet werden, dass die Zahn- enlwickelung oft, obgleich bei weitem nicht immer, mit »ehr merklichem Ltbelbelindcn der Kinder verbunden sei.

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So kann cs denn wohl auch geschehen, dass bei Kindern , die grosse Disposition zu Gehirnleiden haben, oder bei solchen, die bei jeder Gelegenheit in Fieberbewegungen fallen, Convulsionen während des Zahngeschäfts ausbre- chen, aber ganz sicher ist es höchst unrecht, wenn man, wie gewöhnlich, fast alle mögliche Leiden der Kinder auf Rechnung des Zahnens schreibt. Eben so unrecht ist es, die Würmer als Ursache der Convulsionen anzuklagen. Bandwurm, von dem dies am ersten zu besorgen wäre, kommt bei Kindern höchst selten vor, und gerade bei die- sen, wo er mir vorgekommen ist, habe ich keine nach- theiligen Zufälle entstehen sehen. Die Madenwürmer ver- anlassen eher dergleichen, doch nur sehr selten Convul- sionen ; von den Spulwürmern wage ich zu behaupten, dass es nie geschehe. Wohl aber pflegen diese Würmer be> Darmkrankheiten der Kinder sehr unruhig zu werden und abzugehen; dies ist Folge des Fieberzustandes, aber wo- raus folgt, dass die Würmer dessen Ursache seien? Er- folgt der Abgang erst, wenn die Krankheit sich ihrem Ausgang nähert, so scheint es, als wenn die Herstel- lung mit diesem Abgang gleichen Schritt halte und so wäre es leicht möglich, auf die Meinung zu kommen y dass die Würmer Ursache der Krankheit gewesen wären, aber fast immer erfolgt der Wurmabgang viel früher und die Krankheit dauert nach demselben fort. Kinder, die viel Würmer haben, sind schon davon krank; unordent- liche , zu reichliche Ernährung modifleirt die Thätigkeit der Därme so, dass zugleich Würmer erzeugt werden und Disposition zu fieberhaften Krankheiten oder skrofulösen Leiden eintritt. Wenn die ersleren bei ihrem Beginn von Convulsionen begleitet sind, so kann man nicht sagen, dass die Würmer sie veranlassen ; vielmehr ist ihre Er- zeugung eben so gut Krankheitssymptom, als die Convul- •ionen selbst, und bei der Heilbehandlung kommt es mehr darauf an, dass man ihre Wiedererzeugung hindere, al» dass man sie ausleere.

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2X6.

Die Behandlung der Convulsionen der Kinder ist eine schwere Aufgabe; es kommt darauf an, dass der Arzt ihre Ursache richtig erkenne und hebe, aber dazu hat er nur wenig Zeit und es gilt, schnellen Entschluss zu fassen. Man kann tausendmal gegen einmal annehmen, dass sie den Anfang einer Fieberkrankheit bezeichnen ; gewöhnlich ist dies entzündlicher Natur und das topische Leiden ent- wickelt sich später entweder im Kopf, wozu Kinder so sehr geneigt sind, oder in den Lungen. Brennt der Kopf heftig, ist der Puls unordentlich, so kann man fast gewiss sein, dass acute Hirnwassersucht bevorstehe. Ist der Puls gleichförmig, aber der Athem lieiss, schnell, die Brust heisscr, als Kopf und Unterleib; so kann man Pleuresie erwarten. In beiden Fällen leisten Blutegel, hinter die Ohren gelegt, sehr grossen Nutzen; sie können die ganze Krankheit verhüten. Sie nützen auch bei beginnenden Darmfiebern, die man au der Hitze des Unterleibs, an dessen Härte und Aufgetriebenheit, an vorausgegangener Verstopfung erkennt; aber dann muss man sogleich aus- leerende Mittel ihrer Anwendung folgen lassen. Immer sind Klystiere höchst wohlthätig ; bei Kindern wirkt jede Art derselben schnelle Ausleerung. Nur bei Wechselfie- bern nützen weder Blut- noch Darmausleerungen; sie sind dem Kindesalter höchst gefährlich, denn selten läuft der dritte Anfall anders als tödt lieh ab: man muss also die Diagnose nicht verfehlen. Folgt dem ersten starke trockne Hitze mit ziemlicher Betäubung, dann Schwciss; lässt bei diesem die Betäubung nach und verlangt das Kind nach dem Schweisse zu essen, dem Scheine nach ganz munter, ausser dass die Zunge belegt und der Athem unrein ist; sind Wechselfieber zugleich epidemisch und begünstigt die Jahreszeit ihre Entstehung, so säume mau nicht, sofort das Chinin in nachdrücklichen Gaben anzuwenden! Der zweite Anfall bleibt wohl dennoch schwerlich aus , aber

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das Leben steht auf dem Spiele, wenn der dritte kommt. M'in versäume nicht die Zeit mit Brechmitteln! Alles kommt darauf an, die Form der Krankheit zu ändern und das ist nur durch China möglich. Wohl uns, dass wir ein Mittel haben, sie in kleiner Dosis wirksam anzuwenden!

Wenn beiin Ausbruch exanthematischer Fieber Convul- sionen eintreten, sind Blutegel ebenfalls nothwendig, be- sonders beim Scharlach, der in diesem Fall Hirnentzün- dung droht, die er so gern erregt. Gastrische oder ka- tarrhalische Fieber müssen ihrem Charakter gemäss be- handelt werden. Beim Zahnausbruch muss man Durchfall erregen; ist er von Convulsionen begleitet, so kann man sicher sein, dass auch Anhäufungen im Unterleibe zuge- gen sind und das Kind ist mehrentheils verstopft. Dag Kalomel leistet dann sicher Hülfe. Das Einschneiden des Zahnfleisches ist wenigstens ein überflüssiges , meistens ein schädliches Mittel, denn das entzündete Zahnfleisch schwillt auf, hindert das Vorwachsen des Zahns noch mehr und verschlimmert den topischen lleiz im Munde. Nichts kann unzweckmässiger und gefährlicher sein, als der Gebrauch von Moschus, Kastoreum und ähnlichen er- hitzenden Arzneien: die Alten, die sich begnügten, absor- birende Erden in allerlei Formen zu geben, waren zehn- mal vorsichtiger und glücklicher, als die Brown ianer; wehe dem armen Kinde, dessen Arzt zu Opiaten greift! Zuweilen sind Convulsionen die Folgen von organischen Fehlern des Schädels oder Gehirns : dann besitzt die Kunst •kein Mittel wider sie. Die Zinkblumen habe ich sehr oft, ganz empirisch, wider Convulsionen der Kinder verordnen sehen, aber einen Nutzen derselben habe ich nicht ge- sehen, kann mir auch kaum einen denken.

217.

Der Veitstanz- , Chorea St. Vite , ist eine convulsive Krankheit ganz anderer Art, die bei sehr jungen Kindern nie beobachtet wird, wohl aber bei Kindern nach dem sie-

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benten Jahre, am häufigsten bei solchen, die dem Jiing*> lingsalter nahe stehen oder dasselbe schon erreicht, aber ihr Wachsthum noch nicht vollendet haben. Völlig erwach- sene ältere Menschen werden nicht leicht von dieser Krank- heit befallen, ausgenommen Frauen, die um die Zeit des Eintritts der Menstruation daran litten, nachher genasen, aber dann schwanger werden ; diese werden während der Schwangerschaft gewöhnlich aufs neue davon ergriffen. Die Krankheit besteht in einer unwillkührlichen, schnel- lenden Bewegung einzelner oder mehrerer Muskeln, bei ganz freiem Bewusstsein , die gewöhnlich ohne Unterlass fortdauert, so lange der Kranke wacht; schläft er, so liegt er ruhig* Am stärksten ist diese Bewegung in den Extre- mitäten; die Füsse, die Hände und Arme werden auf selt- same Art gedreht und fast immer halbkreisförmig umher- geworfen. Allein die kranke Bewegung bleibt bei weitem nicht immer in den Extremitäten; auch die Rücken - und Schultermuskeln, die des Halses, des Gesichts, ja in recht schlimmen Fällen selbst die Sprachmuskeln nehmen daran Theil und wir sehen wunderliche Contorsionen aller dieser Theile; der Kranke will reden, aber er ist nicht Meister seiner Sprachorgane und stammelt seltsame, halbarliculirte Laute vor. Je mehr er auf sich achtet, desto toller werden diese Verdrehungen ; lässt man ihn ruhig gehen, so wird, er stiller. Dabei verliert der Wille die Herrschaft über die Mus- keln nicht ganz ; der Kranke führt die Bewegungen aus, die er machen will, aber ganz anders und auf grossen Umwegen j der Wille kämpft sichtbar mit der unwillkührlichen Bewegung* Ist der Grad heftig , so kann der Kranke nicht gehen, son- dern fällt zu Boden. Zuweilen sind es nur die Muskeln der einen Körperhälfte, die also verzogen werden, manchmal die von beiden Hälften ; manchmal sind die Füsse still, aber die Arme werden umliergeschleudert. Auch wechselt dies zuweilen, ln einigen Fällen sehen wir den Kranken plötz- lich in Delirium fallen und dann gehorchen die Muskeln dem Willen, bewegen sich aber mit ungemeiner Schnell-

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kraft und Heftigkeit; nie dauert dies Delirium lange und Schlaf folgt demselben. Diese Erscheinung gehört unter die seltenen. Vielleicht ist es in diesen Paroxysmen, dass man die Kranken hat springende Bewegungen ausführen sehen, deren gesunde unfiihig sind; ich bin nie Zeuge solcher Sprünge gewesen.

218.

Diese Krankheit ist eine der leichtesten aus der Fa- milie der convulsiven: sie verschwindet alimählig von selbst» doth kann sie mehrere Jahre nach einander fortdauern und da sie gerade in das Alter zu fallen pflegt , in wel- chen für die Bildung des Menschen an meisten geschehen muss, kann sie für diese zum grossen Hindern iss werden* Dem Leben droht sie niemals Gefahr, es sei denn, dass Delirien entstünden, in welchen sich der Kranke derselben aussetzte, wie einst einer meiner Kranken während des Anfalls durchaus zum Fenster liinabspringeu wollte. Auch habe ich nie gesehen, dass sie in Blödsinn endete. Sie ist in der Regel ohne alle Schmerzen , doch zuweilen kla- gen die Kranken über wiiihenden Kopfschmerz, der zwar nie lange anhält, aber oft wiederkommt; während dessel- ben sind sie nicht im Stande, nur einen Augenblick auf einer Steile zu bleiben. Wenn man längs des Rückgrads mit dem Finger herabstreicht, nicht ohne einigen Druck, so klagt der Kranke gewöhnlich über Schmerz bei Berüh- rung eines der oberen Rückenwirbel, aber im gewöhnli- chen Bewegen oder im Liegen fühlt er keinen* Die Kran- ken magern während der Krankheit etwas ab, ob sie gleich mit Appetit essen, ohne Fieber bleiben und im plastischen Leben keine Veränderung merklich ist. Auch die intelli- genten Kräfte sind thätig , allein sie ertragen keine An- strengung; jeder Versuch, zu studieren oder eine Arbeit zu verrichten, die Nachdenken erfordert, erregt Kopf- schmerzen und stärkere convulsire Bewegungen.

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219.

Die disponirende Ursache muss im Wachsthum liegen, da sie den Menschen nur während desselben oder bald nach dessen Vollendung befällt. Da sie bei Schwangeren auch nach Vollendung des Wachsthums wiederkehrt, so folgt, dass sie mit der Ernährung des Nervensystems Zu- sammenhang!, denn diese wird allemal vermindert, wäh- rend die plastische Kraft auf den Fötus gerichtet is!. Menschen , die eine gute Erziehung genossen haben und lebhaften Geistes sind, werden leichter befallen, als ro\e. Aus diesem allem vermuthe ich, dass die nächste Ursache der Krankheit in einem Missverhältnis zwischen dem Wachsthum der Knochen, namentlich der Wirbelsäule, und dem der Nervenmassen zu suchen ist. Wir finden sie auch wirklich häufiger bei schnell wachsenden Men- schen, als bei solchen, die sich langsam entwickeln, und sehr oft sieht man die Körperlänge während der Krankheit schnell zunehmen. Sonach entstände sie, wenn die Knochen sich stärker ausdehnten, als das Wachsthum des Rücken- marks eigentlich zulässt. Doch gebe ich diese Hypothese über die nächste Ursache der Krankheit der prüfenden Beurtheilung preis ; ich will sie keineswegs für mehr als für eine wahrscheinliche Verniuthung ausgeben. Ent- steht sie bei jungen Mädchen, so verliert sie sich, wenn das Menstruationsgeschäft in Ordnung ist, aber bei Jüng- lingen verliert sie sich nicht mit der Puberlätsentwicke- lung, also scheint sie nur mit dieser in Verbindung zu stehen, in wiefern sie die Zeit des stärksten Wachsthums ist. Die Meinung, dass der Geschlechtsreiz bei diesen Kranken überaus heftig sei, muss ich bestreiten; ich glau- be, mich vom Gegentheil überzeugt zu haben. Von Gele- genheitsursachen der Krankheit kann nicht die Rede sein ; dass sie auf den Gebrauch des Stechapfelsamens oder des Mutterkorns entstehen soll, ist eine Fabel. Mit der Krie- belkrankheit scheint sie, der Beschreibung nach, einige

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Aehnlichkeit zu haben, doch fehlen die Symptome deg Digestionscanals, die bei der Kriebelkrankheit vorgekom- men sein sollen; ich kann ton dieser nicht aus Erfahrung sprechen, denn ich habe sie nie gesehen. Ganz grundlos ist die Meinung, dass sie von Würmern herrühre.

220.

Die Cur der Krankheit ist mehrentheils leicht und gelingt in kurzer Zeit, wenn nicht diätetische Hindernisse im Wege stehen, deren grösstes ist, wenn die befallenen Kinder der Selbstbefleckung ergehen sind. Darauf muss man sehr genau achten ; wie schonend man aber in dieser Hinsicht zu Werke gehen müsse, liegt am Tage. Solche Sünden entziehen sich zuweilen der schärfsten Aufmerk- samkeit und unvorsichtiges Nachforschen kann die Schuld- losen erst im Laster unterrichten. Man wendet sich an die Mütter, die Erzieher, nicht ohne auch ihnen grosse Behutsamkeit bei der Untersuchung zu empfehlen. Ein zweites llindcrniss ist die geistige Anstrengung; diese muss man durchaus untersagen. Weil sie aber dem geübten, erzogenen Jüngling Bedürfniss ist , so muss man ihn nicht unbeschäftigt lassen, aber mit angenehmen, leichten Din- gen beschäftigen. Die Heilmittel selbst müssen auf drei Hauptzwecke gerichtet sein: erstens auf Erkräftigung des ganzen Organismus und gute Ernährung desselben , zwei- tens auf Erkräftigung des Rückenmarks insbesondere, drit- tens auf solche Reizung des Gangliensystems, dass dadurch die Ernährung nicht gestört und die Thätigkeit des Cere- bralsystems frei gemacht wird, indem man den Antagonis- mus der Ganglicnnerven bethätigt. Der erste Heilzweck erfordert zweckmässige, reichliche Ernährung, Fleischdiät, deren Quantum in Verhältnis« zum Bedarf und zur Ver- dauungskraft des Individuums steht, Wahl solcher Vegeta- bilien, die nicht blos den Darmcanal füllen, sondern leicht assimilirbar sind. Es kommt bei der Wahl alles auf die Gewohnheit des Individuums und den Grad seiner Dige-

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stionskraft an: man vergesse nie, dass auch die nährend- sten Mittel hlos GrudÜtäten erzeugen, we*nn sie nicht ver- daut werden, dass ein Verhältiiiss zwischen Masse und zwischen Assimilirbarkeit der Nahrungsmittel sein muss. Der zweite Heilzweck wird erreicht durch reizende Ein- reibungen ins Riickgrath, durch spirituöse Mittel, peruani- schen Balsam , Pflaster von burgundischem Pech , auch wohl durch kalte Waschung, kalte Douche auf den Rücken, durch Haarmatratzen, auf die man dem Kranken bettet, wenn er auf Federkissen zu liegen gewohnt war. Sollte ein Rückenwirbel so schmerzhaft sein, dass man Weich- werden desselben und daher Krümmung des Rückgraths zu besorgen hätte, so müsste man nahe demselben einen Einschnitt in die Haut machen und ein Fontanell anlegen. Int Ganzen kann die Berücksichtigung dieser Heilanzeige nur Beihülfe leisten. Die wichtigste Heilanzeige ist die dritte: durch ihre Erfüllung gelingt es am schnellsten, die Krankheit aufzuheben. Heim , dieser scharfsinnige Prakti- ker, wählte, sie zu erfüllen, seine bekannte Arsenikauflö- sung und der Erfolg entsprach seiner Erwartung schnell und vollständig. Da ich nicht den Muth hatte, dies Mittel zu geben, dessen Wirkung bei einzelnen Individuen ge- fährlich werden kann, ob es gleich bei den meisten Men- schen in vorsichtiger Gabe, wie sie Heim empfiehlt, kei- nen Nachtheil hat, wählte ich an dessen Stelle Kupferauf- lösung, entweder den Kupfersalmiak , oder schwefelsaures Kupfer. Das letzte ist darum sehr bequem , weil es sich leicht löset und weil man mit der Gabe ganz nach Gefal- len steigen kann: ich habe es lange fortbrauchen lassen, ohne je den geringsten Nachtheil: davon zu sehen. Weit entfernt, die Esslust zu zerstören, wie die Antimonialbe- rci tu ngen sämmtlich thiin , erhöht es sie vielmehr; die Kräfte des Kranken nehmen zu und es entstellt weder Lähmung, noch Kolik, noch Stuhlverstopfung, noch irgerfd eine andere chronische Folge, die nach dem Gebrauch anderer metallischer Arzneien gewöhnlich eintritt. Ich

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bin überzeugt, dass man eher das Kupfer lange Zeit nach einander ohne alle üble Nachwirkung für den Organismus nehmen lassen kann, als das Eisen (das hieher gar nicht passt). Man lässt sechs Gran schwefelsaures Kupfer in einer halben Unze destillirtem Wasser lösen und davon täglich dreimal, jedesmal zehn Tropfen nehmen, doch nur, nachdem der Kranke etwas genossen hat, nicht im nüch- ternen Magen. Da dreissig Tropfen ungefähr einen ScrupeL wiegen, nimmt der Kranke anfangs etwa einen halben Gran des Tages: allmählig lässt man ihn mit der Dosis steigen, so weit, als der Ekel es erlaubt, der eine Weile nach dem Einnehmen eintreten muss, um die Ueberzeu- gung zu geben, dass die vollständige Wirkung erreicht sei. Doch muss dieser Ekel weder anhaltend, noch viel we- niger mit Erbrechen verbunden sein : geschieht dies , so ist die Gabe zu gross. Nach dem dritten bis fünften Tage klagt der Kranke über metallischen Geschmack auf der Zunge; dieser verliert sich nach einiger Zeit. In zwei bis drei Wochon pflegen die Zuckungen, die sich gleich anfangs vermindern , gänzlich nachzulassen. Bei jungen Mädchen, deren Reinigung noch nich eingetreten ist, muss man diese durch Bewegung, durch Schaukeln oder Drehen im Kreis, mit nach aussen gerichteten Füssen , durch Tan- zen befördern , falls der Tanz bei den. unsicheren Bewe- gungen der Füsse möglich ist, aber sieh anderer treiben-* den Mittel enthalten.

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Eine der wichtigsten, aber auch eine der schwierig- sten Krankheiten aus der Familie der convulsiven ist die Epilepsie , wenn diese Benennung anders nicht eine grosse Menge von verschiedenen Krankheiten bezeichnet, ohne einer einzigen ausschliesslich anzugehoren. Denn es giebt kein pathognomonisches Kennzeichen, welches die epilepti- schen Anfälle von andern convulsiven auszeichnet; dage- gen kommen die verschiedensten Symptome bei den An-

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fällen vor, die man mit dem Wort „epileptisch“ zu cha* rakterisiren vermeint. Eine genauere Erwägung der Haupt- erscheinung wird dies ins Licht stellen.

a) Epileptischen Anfällen geht Schwindel voraus, je- doch nicht immer. Es giebt deren, die urplötzlich ohne die geringste Vorzeichen überfallen; zuweilen gehen aber bedeutende, oft lange dauernde Beschwerden vorher. Da«- delbe gilt aber von allen möglichen convulsiven Erschei- nungen , von den Zuckungen der Kinder an bis zur Apo- plexie.

b) Der Anfang beginnt mit Geschrei ; der Kranke stürzt zu Boden, seine Glieder, alle Muskeln, auch die des Gesichts, bewegen sich regel- und absichtslos; er ist ohne Bewusstsein, ohne alle Fähigkeit für Sinnenempfin- dung ; Schaum tritt ihm vor den Mund und die Daumen sind fest in die innere Handfläche gedrückt, von den übri- gen Fingern umfasst, die Hände meistens zusammengeballt. So dauert er mehrere Minuten, manchmal Stundenlang, fort, bis Ermattung und Buhe, doch ohne Bewusstsein folgt, das erst allmählig wiederkehrt. Der Puls klopft da- bei heftig und ist nach dem Anfall gross, langsam, meh- rentheils hart. Diese Beschreibung passt zwar auf die meisten , aber bei weitem nicht auf alle epileptische An- fälle. Sie bestehen oft in blossem Vergehen der Sinne, ohne alle Zuckung, bei Menschen, die andermale sehr heftige Anfälle haben. Zweitens ist nicht wahr, dass die Muskeln sich allemal regel- und absichtslos bewegen, eben so wenig, dass sie allscimmt in kranker Bewegung sind» vielmehr führen die Kranken manchmal Bewegungen aus , die sehr deutlich ihre Absicht zu erkennen geben, daher sie sich auch successiv bewegen; manche werden gar nicht ins Spiel gezogen. Auch dass der Anfall mit Geschrei be- ginnt, ist zwar oft, aber durchaus nicht immer der Fall, Der Schaum vor dem Munde entsteht, wenn die Kaumus- keln an der convulsiven Bewegung Theil nehmen; ge- schieht dies nicht, so fehlt er. Das Einschlagen der Dau-

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men kommt bei allen hysterischen Zuckungen ganz ge- wöhnlich vor. Nicht einmal das ist wahr, dass immer das Bewusstsein aufgehoben und der Kranke aller Sinnenem- pfindung unfähig ist; sobald die Zuckungen die Rcspira- tionsmuskeln ergreifen, ist Bewusstsein und Sinnlichkeit im Augenblick wieder da, bis endlich die Zuckungen aus den Respirationsorganen wieder in andere Muskeln über- gehen. Ja wenn auch die Sinnlichkeit alsdann immer auf- gehoben ist, so zeigt doch deutlich die Reihebewegung der Kranken Absicht, also eine Art von Bewusstsein. Auf der andern Seite ist bei sehr vielen andern Zuckungen, die man nicht epileptisch nennt, Sinnlichkeit und Bewusst- sein aufgehoben. Die Dauer des Anfalls ist von höchst unbestimmter Länge, eben so die Dauer der zuriickblei- benden Bewusstlosigkeit. Der Puls ist manchmal während des Anfalls klein, hart, schnell, aussetzend, sehr grosser Verschiedenheit unterworfen , so wie nach demselben.

c) Dem Anfalle, der manchmal so grässlich war, dass man meinen sollte , er müsse alle Organe aufs fürchter- lichste erschüttert haben, folgt doch weiter nichts nach, als manchmal ein kurzer Anfall von Tollheit, oder Er- mattung, oder Kopfschmerz, oder Ziehen in den Gliedern, oder auch nichts von dem allen, und die Gesundheit wird nach demselben völlig hergestellt. Nur allmählig, wenn Jahre lang die Anfälle zum öfteren wiedergekehrt sind , bleibt endlich Blödsinn zurück. Aber nie erinnert sich der Kranke dessen, was während des Anfalls mit ihm vor- gegangen ist. Hysterische Zuckungen dagegen und Syn- kope endigt fast immer mit Erbrechen. Hievon ist nichts weiter völlig wahr, als^ dass eine lange Reihe epi- leptischer Anfälle endlich zum Blödsinn führt, wenn nicht derselbe schon vor der Epilepsie vorhergieng. Alle andere Nachfolgen der Anfälle sind inconstant und andere Convul- sionen lassen ganz dieselben zurück ; nicht einmal das ist wahr, dass sich der Kranke des nicht erinnert, was wäh- rend des Anfalls mit ihm geschehen ist. Ergriffen die

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Convulsionen die Respirationsmuskeln , so erinnert er Rieh desselben sehr gut. Selbst Erbrechen folgt zuweilen eben so, wie nach Synkope oder nach hysterischen Convulsionen.

222.

Wenn ein Kind mit unvollkommenem Schädel geboren ist, so erwacht es entweder gar nicht zum Bewusstsein und endet sein Leben bald unter Zuckungen, oder es lebt zwar, hat auch eine Art von geistiger Entwickelung, bleibt aber von Zeit zu Zeit wiederkehrenden convulsiven Anfäl- len unterworfen. Wenn ein anderes Kind angeborne Herzfehler hat, so bringen auch diese keine andere Wir- kung hervor. Kinder und Erwachsene, die ganz gesund sind, werden manchmal durch den Anblick eines Menschen in Convulsionen erschreckt und verfallen auf der Steile ebenfalls in solche. Oder sie erleiden sonst ein plötzliches Entsetzen und die Folge ist dieselbe. Ist aber der Anfall einmal da gewesen, so kommt er leicht bei den unbedeu- tensten Anlässen wieder, ja endlich kommt er wieder ohne dass man die geringste Veranlassung weiss. Die Convul- sionen selbst haben zwar sehr verschiedene Grade von Hef- tigkeit, aber alle kommen doch, bei demselben Individuum, in gewissen Besonderheiten der Form überein, Und alle- mal verfällt der Ergriffene endlich, nach vielen wieder- holten Anfällen , in mehr oder weniger deutlichen Blöd- sinn. Ist dies nun als einerlei Krankheit zu betrachten, so giebt es wirklich Epilepsie als eigentümliche Krank- heitsform, doch muss man sogleich hinzufügen, dass sie von ganz verschiedenen Ursachen herrühren kann , und nur die Aehnlichkeit der Folgen in den Hauptzügen recht- fertigt, dass man sie mit demselben Namen benennt; in Nebenerscheinungen finden gewöhnlich, je nach Verschie- denheit der Ursache, die auffallendsten Verschiedenheiten statt. Ihre Mannichfaltigkeit und die wenige Aufmerk- samkeit, welche oft auf sie gerichtet worden ist, hat zu mancher Verwirrung der Begriffe Anlass gegeben. Die

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öftere Wiederkehr derselben Anfälle ist der Epilepsie mit allen Nervenkrankheiten gemein; jede Bewegung des Ner- vensystems wiederholt sich leicht. Die von Herzfehlern herrührenden Epilepsien haben alle einen andern Charak- ter, als die von Hirnfehlern ausgehenden. Bei jenen sieht der Kranke nicht bleich, nicht verfallen aus , im Gegen- theil blühend , wenn zumal der Herzfehler nicht angeboren ist; im letzten Falle pflegt er blausüchtig oder hydropisch zu sein. Dem Anfalle geht Unruhe voraus, eine gewisse Erhitzung, bei der es ihm schwer wird, an einer Stelle zu bleiben. Beginnt der Anfall , so dreht sich der Kranke mit Kopf und Brust gewöhnlich links herum , schreit auf eigenthiimliche, grässliche Weise und wird ganz violet im Gesicht und am oberen Körper , während die untern Theile weiss bleiben. So stürzt er nieder und die Arme, das Gesicht, die Rückenmuskeln haben die heftigsten Zuckun- gen, während die der unteren Extremitäten blos zittern: ehe noch die Convulsionen aufhören, wird das Gesicht wieder roth ; die Pupille wird klein, eng, die Bindehaut des Auges röthlich. Die Convulsionen dauern lange und kehren oft an demselben Tage mehrmals wieder. Kurze Bewusstlosigkeit, Schwindel, Kopfschmerz, Ziehen in den Gliedern folgt, aber nie Delirium; endlich schwitzt der Kranke enorm; der Puls ist fieberhaft; es geht trüber, stinkender, braungelber Harn ab und der Kranke bleibt einige Zeit verschont, bis irgend eine Leidenschaft, eine körperliche Erhitzung den Anfall wieder hervorruft. Liegt die Ursache im Gehirn, so sieht der Kranke bleich, e!e.id aus, nährt sich schlecht; die Anfälle kommen oft, schei- nen nicht sehr heftig, bewegen die Füsse , wie die Arme, am wenigsten den Körper, den Hals, das Gesicht, begin- nen ohne alles Geschrei, ohne Blauwerden des Gesichts» ohne sehr auffallende Veränderung der Pupille, die eher weiter wird ^ dauern nicht lange , kommen aber oft wieder und hinterlassen fast immer Delirien. Hat irgend ein Schrecken den Anfall veranlasst, so pflegt die Bewegung

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des Kranken dies auszudrücken. Nie habe ich davon ein merkwürdigeres Beispiel gesehen, als folgendes : Ein jun- ges Mädchen diente in einer Familie, wo der Sohn vom Hause mit ihr in Liebesverständniss gerieth , aber eine neidische Mitmagd berichtete das der Mutter des Jüng- lings. Das Mädchen hatte sich Zeug zu einem Kleidungs- stück gekauft ; ihre Schwester besucht sie und sie zeigt ihr das, als sie zur erzürnten Hausfrau gerufen wird, die ihr unter den heftigsten Vorwürfen den Abschied giebt. Sie geht von da weg zur Verrätherin, der sie ihren Zorn empfinden lässt, hat dann noch eine letzte geheime Zu- sammenkunft mit dem Geliebten und verlässt das Haus. Aber in ihrem Innersten erschüttert verfällt sie in Con- vulsionen. Diese beginnen jedesmal damit, dass sie nach leichten Zuckungen mit heller Stimme, doch schlecht, unvollständig, abgebrochen, ein bekanntes Volkslied zu sin- gen anfängt; sie unterbricht sich aber, macht eine freund- liche Miene, ergreift mit beiden Händen, was sie fassen kann, macht gerade die Bewegung, die Frauen zu machen pflegen, wenn sie die Festigkeit eines Stoffes prüfen , beugt «ich dann stark nach hinten, schlägt mit den Armen weit um sich, stösst unarticulirte Töne aus; hierauf verfällt sie in die fürchterlichsten, allgemeinen Convulsionen ; dann liegt sie einen Augenblick still und nun singt sie, mit der schönsten, kräftigsten Stimme das zuerst angefangene Lied ganz vollständig und deutlich bis zu Ende; hierauf liegt sie wie im Schlummer, dann erwacht sie und weiss von nichts, selbst nicht, dass sie krank gewesen; sie glaubt blos geschlafen zu haben. Bei andern kann man nicht verkennen, dass sie zu laufen oder sich zu schlagen, zu ringen meinen, aber die allermeisten machen sehr deut- lich alle Bewegungen des Beischlafs nach und bei diesen entgeht auch allemal der Same zum Ende des Paroxys- mus. Dies geschieht so häufig, dass es Aerzte gegeben hat, die hieraus ein untrügliches Zeichen der Aechtheit eines Anfalls zum Unterschied von simulirter Epilepsie

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machen wollten. Die mehr erwähnten Convulsionen der Werkzeuge des Athmens habe ich nur bei Frauen, nie bei Männern, gesellen. Der Anfall beginnt mit allgemei- nen Convulsionen ohne Bewusstsein, mit völlig erloschener Sinnlichkeit: mitten in denselben entsteht Opisthotonus; die Kranken liegen in einer fürchterlich verdrehten Stel- lung, aber einen Moment ganz ruhig, aber einen Augen- blick später schlagen sie die Augen auf, den Kopf zurück, der Kehlkopf erhebt sich und das Athmen erfolgt äussersv schnell, mit einem laut schallenden Ton, der dem einer Säge auffallend gleicht. Dabei geben sie deutlich zu er- kennen , dass sie ihren schrecklichen Zustand fühlen , ja es gelingt ihnen wohl, eine Sylbe, einen articulirten Ton als eine Bitte um Hülfe auszupressen. Hat diese Qual eine Weile gedauert, so hört plötzlich der Opisthotonus auf, die Convulsionen werden wieder allgemein und der Paroxysmus endet in bewusstlose Betäubung; kommt die Kranke zu sich, so weiss sie die entsetzliche Angst nicht rührend genug zu schildern, die sie während_der Beklem- mung des Athmens empfunden hat

223.

Der Gemüthszustand der Epileptischen verdient die allergenaueste Erwägung, besonders da manche sehr ver- diente Aerzte für sie dieselbe Milderung der Strafe in Criminalfällen in Anspruch genommen haben , die den Irren gebührt. Aber die Fälle sind in dieser Rücksicht äusser8t verschieden. Wenn Personen mit angeborenen Hirnfehlern epileptisch werden (was nicht immer der Fall ist), ao gelangen sie nie zur vollen Verstandsentwickelung sondern bleiben von Jugend an blödsinnig, daher müssen diese auch als solche betrachtet werden. Allein wenn dte Epilepsie im Laufe des Lebens entsteht, verträgt sie sich sehr wohl mit der höchsten geistigen Entwicklung. Sueton erzählt von Cäsar, er sei zuweilen epileptischen Anfällen ausgesetzt gewesen; von Muhammed wird dasselbe erzählt

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xind von Peter dem Grossen ist es gewiss. Ausser diesen illustren Beispielen fallen wohl jedem nur einigermassen mit Menschen bekannten Arzt aus seinem Bekanntenkreise eine Menge von andern ein , die zwar von Zeit zu Zeit epileptisch , aber bei sehr gutem Verstände sind ; ich kannte selbst einen berühmten Gelehrten, tiefen Denker, der epileptisch und über 60 Jahre alt war und die scharf- sinnigsten Forschungen, seines Alters und seiner Krank- heit ungeachtet, fortsetzte. Daher kann im Ganzen Epi- lepsie kein Grund sein, einem Menschen Zurechnungs- fähigkeit abzusprechen. Anders wirkt die Krankheit auf das Gemüth in der Nähe des Anfalls, anders ausserdem. Vor dem Anfall geht bei vielen Menschen eine gewisse

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Aengstlichkeit her; in dieser sind sie reizbarer als sonst, ihrer Leidenschaften weniger Meister, doch in der Regel nicht so sehr zornmüthig als schwärmerisch, sogar verliebt (besonders Frauen), wenn sich dazu Anlass findet, gerade wie die hysterischen Weiber, die zwar nicht die Schiaam verletzen, aber dennoch dem Menschenkenner sehr deut- lich blos geben, wonach sie sich sehnen* Diese leiden- schaftliche Stimmung hebt aber die Zurechnungsfähigkeit nicht auf : was würde aus den Gesetzen werden , wenn Uebertretung derselben durch eine augenblickliche Laune entschuldigt werden könnte ? Zuweilen jedoch steigt die geistige Verstimmung vor dem Anfall bis zu wirklichen Delirien, deren Heftigkeit sie deutlich genug erklärt. Noch öfter sieht man Delirien dem Anfall folgen: in die- sem Zustand hört allerdings alle Zurechnungsfähigkeit auf und die Kranken sind den Rasenden völlig gleich, aber diese Raserei ist vorübergehend und endet in soporösen Zustand, aus welchem der Kranke wieder zu voller Beson-

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r.enheit erwacht. Dass es Epilepsien gebe, in weichen der Anfall selbst nichts anders als ein Delirium sei, glaube ich durch das oberwähnte Beispiel erwiesen zu haben. In- dessen jede Epilepsie, wenn sie lange dauert, wenn die Anfälle heftig sind und oft zurückkommen , führt endlich

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zum Blödsinn, doch sehr allmählig, wofern nicht die Ur- sache derselben das Gehirn schneller zerstört, oder in schon begonnener Verbildung des Gehirns besteht. In die- sem Falle tritt der Blödsinn schneller ein, ja er kann schon vor dem Ausbruch der Convulsionen beginnen.

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Die Frage muss unentschieden bleiben, ob es eine eigenthümliche Krankheit gebe , die als morbus regius oder herculeus, wie die Alten sie nannten, von allen an- dern Convulsionen verschieden , eine besondere Form con- stituire, daher kann man auch nicht die beantworten, welche Art von Menschen ihr am meisten ausgesetzt seien. Wenn daher gesagt worden ist, dass Kinder und Frauen wohl häufig an Convulsionen leiden, ja viel öfter, als Män- ner, dass aber wahre Epilepsie fast nur Männer befalle, so muss diese Behauptung auf sich beruhen, denn was ist wahre Epilepsie? Auch kann man nicht sagen, dass be- sondere Länder oder Himmelsgegenden die Krankheit mehr begünstigen, als andere: in der Regel kommen Convulsionen häufiger in grossen Städten vor, als auf dem Lande, dar- um, weil die Gelegenheit, Epileptische im Anfall zu se- hen, in grossen Städten, wo viele Menschen dicht bei- sammen wohnen, so gut als unvermeidlich ist, auf dem Lande aber weit seltener vorkommt. Wie alle Nerven- krankheiten haben aber die epileptischen Anfälle eine Art von ansteckender Kraft, dein Gesetz der Sympathie ge- mäss, kraft dessen eine sensible Aeusseruug des einen die- selbe beim andern hervorbringt; gewiss giebt es keinen epileptischen AnsteckungsstofF, der aus dem Körper des Kranken in den des Gesunden übergeht und sich hier ent- wickelt, aber wie der Anblick eines Gähnenden zum Gäh- nen, der eines Lachenden zum Lachen, eines Weinenden zum Weinen, mindestens zum Mitleid reizt, so auch der eines Epileptischen zu Zuckungen. Daher sind öffentliche Schulen, so gross ihr Nutzen für die Volksbildung ist,

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auch nicht ohne Nachtheil, indem der Anblick solcher Krankheiten manchmal die ganze hier versammelte Jugend zur Nachahmung reizen kann. Wer in grossen Kranken- häusern gewirkt hat, wird so wie ich die betrübende Er- fahrung oft genug gemacht haben, dass der Ausbruch von Convulsionen bei Einem Kranken plötzlich ein ganzes Zim- mer voll Kranker in gleiche Stimmung setzte. Etwas Dis- position gehört freilich zu dieser Art von Mittheilung doch kann diese bei dem gesündesten eintreten, wenn z. B. derselbe müde, hungrig, erkältet, durch irgend etwas reizbarer gemacht ist, als gewöhnlich, wenn sein eigen- thümliches Leben weniger kräftig ist.

225.

Die Ursachen epileptischer Convulsionen, nämlich die disponirenden und occasionellen , lassen sich auf folgende Hauptklassen zurückführen.

a) Hirnfehler. Es ist äusserst schwer, zu bestimmen, worin diese bestehen müssen ; wir sehen oft höchst bedeu- tende Desorganisationen des Hirns ohne Epilepsie. Die Schwierigkeit wächst dadurch, dass jede, längere Zeit be- stehende, Epilepsie dieselbe Wirkung auf das Gehirn her- vorbringt, die längere Zeit dauernder Blödsinn erzeugt. Wenn man also organische Fehler im Gehirn an Epilepsie oder nach Epilepsie verstorbener Menschen antrifft, so bleibt sehr ungewiss , ob diese die Ursache, oder ob sie die Wirkung der Krankheit sind. Nur dann kann man des ersteren gewiss sein, wenn schon vor den convulsiven Anfällen Zeichen einer Veränderung der Ilirnbildung da waren und diese sich im Laufe der Krankheit zugesellten. Schwinden, Weichwerden der Hirnmasse, Verdickung des Hinterhaupts , Collaps des Cerebellums, Vergrösserung der vierten Hirnhöhle sind die Veränderungen , welche der Blödsinn immer erregt, welche also durch die Krankheit selbst hervorgebracht werden. Knochensplitter in der Fall, in der harten Hirnhaut, im Tentorium sind zwar

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oft tm Gehirne Epileptischer gefunden worden, aber auch noch öfter in Gehirnen von Menschen , die nie daran lit- ten, eben so steatomatöse Bildungen. Eiterungen iin Gehirn kommen auch vor ohne Epilepsie, doch cariöse Geschwüre des Schädels, die Corruption eines Theils der Hirnmasse erregen, tödten immer unter Convulsionen.

b) Herzfehler. Morgagni, Testa, ja alle Beobachter die diesen Gegenstand untersuchten , kommen darin über- ein , dass organische Fehler des Herzens sehr gewöhnlich Convulsionen zur Folge hatten. Wenn Venenblut in die linke Herzkammer tritt , erfolgen deren augenblicklich , daher sollte man meinen, dass das Olfenbleiben des eirun- den Lochs zwischen beiden Vorkammern diese Folge ha- ben müsse, aber das ist nicht der Fall. Diese OefFnung kommt öfter ungeschlossen vor, als man gewöhnlich glaubt und ich bin der Meinung, dass heftiger Husten sie wieder öffnen könne, wenn sie längst geschlossen gewesen ist; wenigstens habe ich sie bei vielen Lungensüchtigen offen gefunden , die vor Beginn ihrer Krankheit lange gesund gelebt hatten. Auch habe ich sie bei zwei am Keuch- husten gestorbenen Kinderleichen offen gefunden. Aber keiner von diesen litt je an Epilepsie. Es ist mir sogar wahrscheinlich, dass sich der schon geschlossene ductu« arteriosus Botalli zuweilen wieder Öffnen könne ; folgen- der Fall scheint es zu beweisen. Ein junger Mann hatte, 20 Jahre alt und in blühender Gesundheit, eine Nacht durchtanzt und vielleicht auch ziemlich viel Wein getrunken ; am frühen Morgen ritt er durch einen Waid mit mehreren Gefährten. Diese waren etwas voraus, als sie sein Pferd leer bei sich ankomraen sehen ; sie kehren zurück und finden ihn in einer Regenpfütze liegen , fast von Wasser bedeckt, in epileptischen Zuckungen, derglei- chen er noch nie erfahren. Es gab kein Mittel, ihn, mit- ten im Walde , trocken zu kleiden und mehr als eine hal- be Stunde vergieng, ehe er soweit zu sich kam, dass sie ihn zwischen sich aufs Pferd nehmen und nach Hause

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bringen konnten. Von dieser Zeit an wurde er öfter epi- leptisch; dem Anfall gieng Aengstlichkeit, Unruhe voraus; kam er, so wurde der Kranke violet im Gesicht und an Armen und Händen; die Füsse blieben weiss; er drehte den Kopf nach der linken Schulter, schrie grässlich und stürzte zu Boden; selten blieb ein Anfall allein, sondern es folgten drei bis vier, die nicht eben in lange Betäu- bung endeten, aber die Pupillen waren zusammengezogen, die Conjunctiva blieb roth. Endlich erfolgte sehr starker Schweiss, Abgang stinkenden, trüben, braunen Harns und nun vergiengen Monate, ehe ein neuer Anfall kam. Nach sechs Jahren starb er mitten im Paroxysmus. Die Obduc- tion zeigte den ductus art. Botalli offen, nicht ganz frei, sondern mit Zellgewebe ausgefüllt, durch welches jedoch Flüssigkeit durchgieng. Ich vermuthe, dass hier der Kranke, der mit erhitztem Körper ins Wasser fiel, erst durch den Schreck und die Erkältung epileptisch worden sei und die convulsive Bewegung, bei der grossen Ersti- ckungsgefahr im Wasser, Venenblut durch den nicht band- artig verwandelten, sondern mit Zellgewebe gefüllten Canal gepresst habe, das hernach von Zeit zu Zeit denselben Weg wiedergefunden, und so die Krankheit und den Tod ver- anlasst habe. Indessen ist dies eine einzelne , obgleich merkwürdige Beobachtung. In der Charite starb ein Mann im epileptischen Anfall, bei dem ebenfalls der ductus art. Botalli offen war; seine Hände waren blau, seine Finger- spitzen dick und der Kranke, ein etwa SOjähriger Schu- ster, schon mehrere Jahre blödsinnig, daher ich von der Entstehung seiner Krankheit nichts weiss. Verknöcherun- gen derValveln, Erweiterungen einzelner Höhlen, Ver- wachsung des Herzens mit dem Pericardium habe ich sehr oft gesehen, ober nie bei Epileptischen; wenn sie daher auch einmal bei diesen vorkommt, so folgt wohl nicht, dass hierin die Epilepsie begründet war.

c} Verletzungen von Nervenscheiden und aponeuroti- gehen Membranen, die ungeheilt geblieben sind, wenig-

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stens in sofern, als fremde Körper in sie eingeheilt sind. Wenn, wie gewöhnlich, dergleichen fremde Körper in den Extremitäten stecken, so entsteht hier, was man aura epi- leptica nennt : ira verletzten Gliede fühlt der Kranke zu- erst eine Art von Kälte, von Schauer, der sich nach dem Herzen zu ausdehnt und plötzlich fällt er unter Convul« sionen zu Boden. Auch Narben haben manchmal diese

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Wirkung, ohne dass ein fremder Körper da ist. Dies sind die Fälle , in welchen man den Anfall durch Anlegen ei- les Bandes zwischen der Stelle des Ursprungs der aura und dem Herzen verhüten kann.

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d) Schrecken . Unter allen Leidenschaften ist keine, die so oft Epilepsie erregt, als diese. Ohne Zweifel wirkt der Schrecken unmittelbar in die weichen Herznerven verrauthlich lähmt er im Augenblick dessen Bewegung wenigstens auf kurze Zeit, denn darauf deuten alle Er- scheiuungen plötzlichen Entsetzens. Wird dadurch der Eintritt von Venenblut in die Aorte möglich ? Steht auch das Athmen so lange still, bis unentkohltes Blut durch die Lunge ins Herz zurückgelangen kann? So unwahr- scheinlich dies ist, will ich es doch nicht für unmöglich ausgeben. Oder ist es das Zusammenwirken der Schreken erregenden Vorstellung auf Hirn und Herz zugleich, was auf weiter nicht zu erklärende Weise das Bewusstsein un- terbricht und Convulsionen erregt? Nicht ohne Erstau- nen werden unsere Nachkommen lesen, dass zu unserer Zeit Aerzte behauptet haben, von Schrecken könne Ent- zündung des Herzens entstehen; das ist etwa eben so, wie ein anderer meinte, durch die Nähe oder Entfernung der Venus von der Erde entstehe die Veränderung des Wet- ters. Wenn man aber liest, dass hierauf die Empfehlung der antiphlogistischen Heilart bei von Sckrecken frisch entstandenen Epilepsien gegründet wird, so regt sich der Unwille über das traurige Spiel, das der Hypothesengeist mit Menschenleben zu treiben wagt.

BIS

e) Zorn . Nächst dem Schrecken erregt Zorn am häufigsten Epilepsie ; auch er wirkt ohne Zweifel in die Brustganglien. Besonders häufig wird Zorn zur Gelegen- heitsursache der Wiederkehr der Anfälle.

f ) Der Geschlechtstrieb. Nirgends finde ich dessen Verhältnis zu dieser Krankheit genau dargestellt, doch scheint mir die Sache sehr wichtig. Bei Männern mag sie selten dadurch entstehen, allein ich habe auch bei diesen mehrmals gesehen , dass heftiges Erschüttern dei ganzen Körpers, Schauder und Vergehen der Sinne die Folge von heftiger Begierde war, die nicht gleich Befrie- digung fand; noch öfter entsteht der Paroxysmus unmittel- bar nach der Geschlechtsbefriedigung. Bei Frauen ist bei- des viel häufiger der Fall, als bei Männern; das erste wird zwar nicht eingestanden, allein es ist deshalb nicht minder wahr. Hier muss also die gewaltige Reizung des Nierengeflechts den Anlass zur Reaction gegen das Hirn geben, zum Beweis, dass nicht allein die Brustganglien dies vermögen.

g) Der Anblick anderer Epileptischer. Hierüber ist schon das nöthige bemerkt worden ; auf dem Gesetz der Sympathie beruht alle geistige Mittheilung , aber auch die von Krankheiten.

h) Gastrische Reize. Man hat ihre Wirkung häufig übertrieben, besonders als alles böse einst eben so von Galle abgeleitet wurde, wie jetzt von Entzündung ; die Aerzte sind, wie alle andere Menschen, geneigt, sich mit Worten abfinden zu lassen und Hirngespinste für Realitä- ten anzusehen. Doch giebt es offenbare Fälle, wo Ueber- füllung des Magens, besonders mit spirituösen Getränken, narkotischen Stoffen, namentlich Muscheln, Schwammen, giftigen Wurzeln , unmittelbar Epilepsie erregte. Dagegen Würmer, die man »o häufig angeklagt hat, mögen sie wohl noch nie hervorgebracht haben, noch weniger krank- hafte Gallenabsonderung, Gallensteine, Skirrhen im Unter- leibe, Krankheiten der Mesenterialdrüsen, der Mesente-

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rialgefässe. Nicht ein einziger Fall dieser Art ist erwie- sen, so viele auch vermuthet worden sind.

i) Das Eindringen von Luft oder Cruor in die Karo - tis. Es ist Thatsache , dass das geringste Luftbläschen, wenn es in die Arterien der Schädelhöhle dringt, augen- blicklich bewusstloses Zusammenstürzen des Verwundeten unter heftigen Convulsionen hervorbringt. Dasselbe Resul- tat geben Einspritzungen von Cruor in die Gefässe, daher die ohnehin lächerliche und unnütze Methode der Trans- fusion nicht anders als Ermordung zum Resultat zu haben pflegt.

226.

Alle diese Ursachen der Epilepsie finden statt und haben den grössten Einfluss auf den Heilplan , der für je- den einzelnen Fall zu entwerfen ist, deshalb ist ihre Er- forschung von grosser Wichtigkeit. Allein ihren Haupt- nutzen gewährt ihre Erwägung dadurch, dass sie uns auf das wahre Wesen der Krankheit, auf ihre nächste Ursa- che leiten kann. Was ist es , das plötzlich die Sinnlich- keit aufhebt, gleichzeitig convulsive Bewegungen im Mus- kelsystem erregt und hinterher dem Kranken jede Erinne- rung an das vorgefallene unmöglich macht? Und wie geht es zu, dass manchmal mitten in diesen zunehmenden Bewegungen ganze Reihen von Handlungen vorgenommen werden, von welchen dem Kranken nicht eine Spur der Erinnerung übrig bleibt? Warum erhält die Leidende Be- wusstsein und Erinnerungsfähigkeit im Augenblick wieder, sobald der Krampf die Organe der Respiration ergreift? Warum ereignet sich dies nie bei Kindern , nie bei Män- nern, sondern nur bei erwachsenen Frauen? Warum ge- hen Delirien der Epilepsie zuweilen voraus , oder folgen dem Anfall, und warum geschieht dies nicht immer? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt tief in das Heiligthum des organischen Lebens und nöthigt zugleich, anzuerkenncn , dass die äussere Form der Epilepsie , Auf-

314

heben des Bewusstseins mit Convulsionen , auf sehr ver*» schiedenen Wegen zu Stande komme,

227.

Die Suspension der Sinnlichkeit kann nur drei Ursa- chen haben, denn diese beruht nur auf drei Momenten, auf der Reizempfänglichkeit der Sinne, auf der Leitung aus den Sinnen zum Gehirn, und auf der Fähigkeit des Ge- hirns, vorzustellen. Die Reizempfänglichkeit der Sinne ist sogleich wieder da, wenn der Paroxysmus vorbei ist, zum deutlichen Beweis, dass sie an der Suspension keinen Theil haben. Wie könnten sie sonst auch alle zugleich aufhö- ren ? Folglich muss entweder das Gehirn seine Reizfähig- keit verlieren oder es muss der Grund der Suspension in der Leitung zwischen Sinnen und Gehirn liegen. Wenn bei schweren Hirnwunden , Erschütterungen, Ergiessungen in die Schädelhöhle, beim Eindringen von Luft in das Gehirn offenbar dieses seine Reizbarkeit verliert , so er- eignen sich wohl einzelne convulsive Erschütterungen , al- lein es entsteht kein schnell vorübergehender Paroxysmus, sondern der Angriff auf das Centrum der Sinnlichkeit hin- terlässt lange, bleibende Folgen , was auch gar nicht an- ders denkbar ist. Wenn auch das Gehirn zu seiner Func- tion zurückkehrt , so kann dies nur allmählig im Verhält- niss zum Aufhören der Ursache seiner Unterdrückung ge- schehen. Aber gerade dadurch unterscheiden sich die epileptischen Paroxysmen von andern Bewusstlosigkeiten , dass das Gehirn bald wieder zu seiner Function mehr oder weniger vollständig zurückkehrt, ja wir beobachten deut- lich viele derselben, während welcher es offenbar zu fun- giren fortfahrt, nur auf ganz andere Weise. Folglich muss es nothwendig solche geben , in welchen blos der Leitungsapparat verändert wirkt. Die Erscheinungen irn Muskelsystem können nur entstehen, wenn sie zur Zusam- menziehung auf ganz andere Wreise gereizt werden, als auf die normale. Da während der Anfälle die Kranken

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mweilen ganze Reihen von Handlungen ausführen , so muss die Fähigkeit des Gehirns, sie zu bewegen, nicht immer aufgehoben sein , aber nur ganz anders wirken , als im gesunden Verliältniss. Es muss also nothwendig zwei wesentlich verschiedene Zustände geben, in welchen Be- wusstlosigkeit mit widernatürlichen Muskelbewegungen er- scheint ; den einen, in welchem das Gehirn die Fälligkeit für den Sinnenreiz zugleich mit der für die Beherrschung der Muskelthätigkeiten verliert, und den anderen, in wel- chem blos der Leitungsapparat zwischen Sinnen und Ge- hirn verkehrt wirkt. Im letzen Falle kann auch das Mus- kelsystem in ein krankhaftes Verhältnis zum Gehirn tre- ten oder das normale beibehalten.

228.

Zur Erklärung aller convulsivcn Erscheinungen ist nothwendig, sich zu erinnern, dass das Enkephalon wesent- lich aus zweierlei Hauptmassen besteht, aus den Hirn- ganglien und dem grossen Gehirn. Es ist gewiss, dass die Fähigkeit, vorzustellen, beiden zukommen muss, denn in den niederen Thierreihen fehlt das grosse Gehirn gänz- lich und blosse Ganglionmassen sind vorhanden, dennoch stellen die Thiere vor und regieren die Muskeln. Allein wo das grosse Gehirn vorhanden ist, hat es die Herr- schaft über die Ganglionmassen und daher können wir uns

Inur dessen erinnern , was im grossen Gehirn vorgestellt ist; von den Vorstellungen in den Ganglienmassen haben wir keine Erinnerung. Mit den Ganglienmassen stehen die Sinne sowohl als die Muskeln durch die Nervenleitung in unmittelbarer, mit dem Gehirn aber nur in mittelbarer Verbindung; das Mittelglied der Kette bildet die Ilirngan- j glien selbst. Alle Thätigkeit im Nervensystem ist pola- risch; im Normalleben ist der Sinn der äussere, das Gan- glion der innere Pol, dessen Thätigkeit sofort polarisch wiederum eine des grossen Gehirns erregt. Nun kann aber der Zustand eintreten, dass die Polarität sich uxtv

kehrt, das Hirnganglion als äusserer und der Sinn als in«* nerer Pol wirkt, ohne dass deshalb das polare Verhältnis der Hirnganglien zum grossen Gehirn verändert wird. Dann entsteht die Vision, das Stimmenhören (s. o.). Es kann aber auch zugleich das polare Verhältnis« der Ilirn- ganglien zum grossen Gehirn aufhören; davon muss noth- wendig Suspension aller Sinnlichkeit die Folge sein. Hört zugleich das polare Verhältnis der Hirnganglien zum Mus- kelsystem auf, so bewegt sich dies entweder gar nicht oder es oscillirt blos ohne alle Leitung; dauert es wie ge- wöhnlich fort, so können die ohne Sinnlichkeit da liegen- den Kranken ganze Reihen von Handlungen vornehmen, in denen Absicht nicht zu verkennen ist. Alles dies fin- det abwechselnd in den verschiedenen epileptischen An- fällen statt.

229.

Wir nennen also epileptische Convulsionen die Er- scheinungen, die daraus hervorgehen, dass das Gehirn in seiner Totalität gerade zu unfähig zur Sinnlichkeit und zur Beherrschung des Muskelsystems wird. Wir nennen aber auch so die Erscheinungen , w elche folgen , wenn von den Hirnganglien aus eine Umkehrung der Polarität, zu- gleich gegen die Sinne und gegen das grosse Gehirn er- regt wird, wobei die gegen das Muskelsystem die gewöhn- liche bleibt. Endlich nennen wir so die Erscheinung , in welcher alle polare Verhältnisse der Hirnganglien zugleich verkehrt sind, die mit den Sinnen, mit dem Muskelsystem und mit dem grossen Gehirn. Hieraus erklären sich alle Phänomene, die bei den Epileptischen in so grosser Ver- schiedenheit Vorkommen, nur nicht die plötzliche Wieder- kehr des Bewusstseins bei Convulsionen der Respirations- muskeln. Diese beweist, dass das Centrum der Respira- tion zwar auch in einem Hirntheil liegt, aber in ganz ei- nem anderen , als alle übrige Sinnen - und Muskel thälig- keiten und dass das Umkehren der Polarität von den Hirn-

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ganglien auf dies Centrum wandern könne, dann aber die Thätigkeit der ersteren sogleich frei werde, bis die Krank- heit vom Respirationscentrum wieder in die Ganglien zu- rück wandert. Warum man dies bisher nur bei erwach- senen Frauen beobachte, davon weiss ich keinen Grund.

230.

Die äusseren Veranlassungen epileptischer Anfälle thei- len sich

a) in solche, die die gesammte Reizbarkeit des Ge- hirns aufheben, als Verwundungen , Erschütterungen des Gehirns, Eindringen fremder Körper in dasselbe, als Luft, Cruor u. dgl., unvollkommene Bildung des Hirns, entwe- der angeborne, oder erlangte. Da die Krankheit selbst das Gehirn mächtig erschüttert, folglich allmählig Anlass zur Verbildung desselben giebt, so endet jede Epilepsie, wenn sie lange genug gedauert hat, in solche, die von Unfähigkeit des Gehirns zu seinen Functionen ausgeht ; die Paroxysmen werden schwächer, bestehen blos in be- wusstlosen Zuckungen und Blödsinn bleibt der perennirende Zustand.

b) In solche , die vom System der Brust- und Bauch- ganglien ausgehen. Von diesen entstehen einige unmittel- bar im Gangliensystem selbst, namentlich die gastrischen Reize; auch muss man wohl dahin die rechnen, die von Sexualreiz ausgehen ; andere werden erst durch Reflexion aus dem Gehirn in die Brustganglien hervorgerufen , als die Wirkungen des Schreckens, des Zorns.

c) In solche, die unmittelbar von den Sinnen ausge- hen, nach dem Gesetz der Sympathie. Wenn der Anblick eines epileptischen im gesunden auf der Stelle Epilepsie erregt, so bedarf es dazu nicht der Dazwischenkunft eines Ganglions der Brust ; der Kranke braucht nicht vor dem Anblick sich zu entsetzen; er ahmt ihn unmittelbar nach.

d) In solche, die vom Muskelsystem ausgehen, nament- lich von Narben, fremden Körpern, als Glas-, Metall-,

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Knochensplittern , die in eine Nervenscheide oder eine apo- neurotische Membran stechen. Diese Art ist allemal durch die aura epileptica ausgezeichnet.

Herzfehler bewirken entweder Epilepsie , indem sie den Eintritt von Venenblut in die Hirnschlagadern veran- lassen, und dann gehören sie zur ersten Klasse, oder in- dem sie die Thätigkeit des plexus cardiaci krankhaft än- dern ; dann gehören sie zur zweiten. Da nicht alle Herz- fehler eine dieser beiden Folgen haben, ist das Vorkom- men von Epilepsie kein constantes Symptom derselben , ja sogar ein seltenes. Niemals erregt Herzentzündung Epi- lepsie, niemals eine aneurysmatische Erweiterung des Her- zens oder des Ursprungs der Aorte; niemals Hypertrophie des Herzens.

Delirien bei der Epilepsie selbst können nur statt fin- den, wo die zweite Ursache eintritt, nie bei Hirnfehlern, nie wo aura epileptica ist, nie bei sympathischen Epilep- sien. Dagegen können Delirien vor und nach dem Anfall

4

sich am leichtesten mit Epilepsien der ersten Klasse ver- binden, bei denen permanente Hirnkrankheit andauert, die nur von Zeit zu Zeit Epilepsie erregt.

231.

Nach dem Gesetz der Gewohnheit wird jede Bewegung im Nervensystem um so leichter möglich, je öfter sie wie- derholt wird, obgleich der Beiz, der sie zuerst erregt, an Wirksamkeit verliert. Dies ist der Grund , warum Epilep- sie, wo sie einmal statt gefunden hat, leicht wiederkehrt und endlich habituell wird. Allein es ist gar nicht nöthig, dass die Ursache, welche den ersten Anfall veranlasste, auch alle folgende veranlasse, vielmehr findet ganz sicher sehr häufig das Gegenthcil statt. Selbst wo organische Fehler fortdauern, können doch diese blos die Disposition unterhalten und viele einzelne Anfälle durch Zorn &c. er- regt werden. Darum sind sich dieselben auch der Form nach bei weitem nicht immer gleich; allmählich gehen

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aber alle, wie schon bemerkt worden, in die Form über, die ihren Charakter durch unvollkommene Hirnbildung er- hält. Zu dieser gehören auch alle erbliche Epilepsien. Man hat vielfach behauptet, dass diese Krankheit in gan- zen Familien forterbe, während doch die Erfahrung täg- lich lehrt, dass Kinder epileptischer Eltern nicht epilep- tisch werden, und nur einzelne Beispiele das Gegentheil zu beweisen scheinen. Alle erbliche Krankheiten müssen ihren Grund in der Form, der Bildung der Organe haben. Denn nichts erbt von den Eltern auf Kinder , als allein diese. Da es Epilepsien giebt , die von unvollkommener Hirn- oder Ilerzbildung herrühren, so kann es auch erb- liche Epilepsien geben , aber sie sind weit seltener , als andere. Die Form des Kopfs und des Hirns erbt, wo nicht ausschliesslich , doch mehr und gewöhnlicher vom Vater auf die Kinder und wirklich sind die epileptischer Väter öfter der Krankheit ausgesetzt: Kinder epileptischer Mütter bleiben viel häufiger von denselben frei.

232.

I

Die Prognose der Krankheit richtet sich nach den Ursachen und nach der Dauer derselben. Ist jene der Kunst unbezwinglich , so ist auch die Heilung unmöglich ; wenn aber nur vorübergehende Umstände, als Leiden- schaften, der Anblick anderer epileptischer, sie erregt ha- ben, so gelingt es sehr häufig, sie zu heilen, ja die Natur heilt sie allein, selbst bei sehr schiefer Behandlung. Doch sei die erste Ursache gewesen welche sie wolle, so wird die Heilung immer schwieriger, je öfter die Anfälle sich wiederholen, weil sie immer mehr habituell werden. Ganz unheilbar wird sie, wenn sie endlich in Blödsinn überzu- gehen begonnen hat; dann ist die Hirnform sicher schon so verletzt, dass an Herstellung nicht mehr zu denken ist. Im Ganzen ist keine Art der Epilepsie leichter und ein- facher zu heben, als die, welche von gastrischen Reizen herrührt; ist es aber der Missbrauch narkotischer Ge-

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tränke, den sie erregt, so kann min nur dann Heilung hoffen , wenn blos zufällig einmal dieser so unglücklich gewirkt hat. Gewohnheitssäufer sind unheilbar, theils weil sie ihre Gewohnheit nicht zu ändern pflegen, theils weil diese gewiss schon sehr weit gediehen und bereits Magen- skirrh oder andere unheilbare Folgen hervorgebracht ha- ben muss, ehe sie Epilepsie erregte. Die Krankheit en- det, wenn sie nicht geheilt wird, immer in Blödsinn, wo- fern sie nicht zum Tode führt; dieser kann im Anfall apoplek tisch erfolgen , es können auch tödtliche Blutungen entstehen. Wirklich sollte man sich wundern , dass der- gleichen tödtlicher Ausgang nicht häufiger ist, wenn man sieht, wie fürchterlich zuweilen diese Convulsionen er- schüttern. Man hat Beispiele von Verrenkungen , sogar von Knochenbrüchen durch sie. Bei alten Epileptischen werden sie immer schwächer, kommen auch wohl seltener, weshalb ihre Abnahme gerade nicht zu den vortheilhafte- sten Zeichen gehört. Wenn noch nicht Blödsinn eingetre- ten ist, pflegen schwächeren Anfällen manchmal äusserst heftige zu folgen. Auch wenn der Anfall sehr lange aus- bleibt, ist der endlich doch wiederkehrende meistens ätis- serst gewaltsam. Es vergeht manchmal lange Zeit, ehe ein Paroxysmus ausbricht; man schmeichelt sich, den Kranken geheilt zu haben und urplötzlich verfällt er wie- der in die schrecklichsten Convulsionen.

233.

Diese Krankheit ist dem Menschen mit allen Säuge- thieren und Vögeln gemein; ob Amphibien und Fische be- fallen werden können, ist ungewiss; von letzten wenigstens wird es hie und da behauptet. Um so origineller ist e», dass man sie ehedem von Teufelsbesitzungen herleitete, woher ihr der Name morbus sacer gegeben wurde; glaubt« man, der Teufel fahre auch in Thiere? Es ist zwar kein Lebensalter des Menschen verschont, indessen kann man doch die Convulsionen der Kinder im ersten und zweiten

Lebensjahre nicht für wahrhaft epileptisch halten, obgleich kein formeller Unterschied sie auszeichnet ; im späteren Leben beginnt die Krankheit nicht leicht mehr, aber wohl kann sie aus den mittleren Lebensjahren bis zum Tode fortdauern. Beide Geschlechter sind ihr ausgesetzt, Frauen häufiger als Männer; dafür ist sie bei Männern heftiger, läuft eher tödtlich ab oder führt schneller zum Blödsinn. Sie wird häufig simulirt ; es ist jedoch leicht genug, die simulirte von der wahren zu unterscheiden, wenn man den zuckenden urplötzlich mit kaltem Wasser begiesst. Der wirklich epileptische empfindet davon nicht das geringste; der verstellte kann die Bewegung, sich abzuschütteln,

Illicht unterdrücken. Man hat schmerzhafte Proben vorge- schlagen ; ausserdem , dass sie grausam sind , sind sie auch unsicher, denn der simulirende pflegt wohl den Schmerz zu überwinden, aber gegen die Ueberraschung eines Gla- ses kalten Wasser* ins Gesicht ist er nicht gerüstet Men- schen , die öfter Epilepsie sinfuliren , verfallen fast immer j in wirkliche und werden schwer für ihre Lüge bestraft. Ganz unmöglich ist es , einen Anfall nervöser Apoplexie von einem epileptischen zu unterscheiden, so lange er dauert, allein der apoplektische hinterlässt Lähmung und der epileptische blos vorübergehende Betäubung oder De- lirium, ohne Lähmung der Glieder, auch überrascht der apoplektische Anfall den Kranken urplötzlich , dem epilep- tischen gehen oft Vorboten voraus,

234.

Auf diese Vorboten legte man sonst weit mehr Werth,

Iftls sie verdienen. Von der aura epileptica ist schon ge- sprochen worden; sie kommt selten vor, da die Art der Epilepsie, zu welcher sie einzig gehört, eine der seltenen ist. Eben so ist vom Delirium als Vorboten der Epilepsie Echon die Rede gewesen. Auch andere convulsive Zustän- de, namentlich Ekstase, Somnambulismus, gehen oft der Epilepsie voraus, niemala Katalepsie, Gewöhnlich über

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besteht das Vorzeichen des Anfalls in irgend einer schmerz- haften Empfindung im Kopfe, in den Präcordien , selten im Unterleibe. Bei Männern werden die Hoden oft vor dem Anfall sehr stark nach dem Bauchring hingezogen und sie fühlen Schmerz, wenigstens Druck, im Samen- strang. Vermuthlich haben die Frauen ähnliche Empfin- dungen; was sie als Koiikschmerz bezeichnen, ist sicher nichts weiter, als ein krankes Gefühl in den Sexualorga- nen. Frauen werden um die Menstruationszeit am häufig- sten befallen. Unläugbar hat die Veränderung der Mond- phasen einigen Einfluss auf die Krankheit; in Instituten für epileptische kann man sicher sein , dass zur Zeit des Vollmonds mehr Paroxysmen ausbrechen, als sonst: ich vermuthe deswegen, weil die Helle der Nächte den Schlaf weniger begünstigt. Es giebt Epilepsien, die nie am Tage, nie im Wachen ausbrechen, sondern nur in der Nacht, während des Schlafs : solche Kranke können lange epilep- tisch sein, ohne es zu wissen, da sie selbst keine Erinne- rung von ihrem Anfall übrig behalten ; nicht eher w ird der Zustand entdeckt , als bis sie zufällig nicht allein schlafen. Oft kommen die Anfälle ohne alle Vorboten: es ist mir häufig begegnet , dass die Kranken , indem sie ganz fröhlich mit mir sprachen , niederstürzten.

235.

Es giebt wohl kaum eine Krankheit, gegen die so viele Mittel empfohlen worden sind, als gegen die Epilep- sie , und die dieses grossen Hülfsapparats ungeachtet öf- ter ungeheilt geblieben ist. Besonders die Zeit, in wel- cher man gegen jedes Uebel ein Specificum suchte, war fruchtbar an solchen wider die Fallsucht; von jedem führte man glückliche Erfahrungen in Menge an, aber sobald an- dere, als die empfehlenden, oder die Gelieimnisskrämer, das Specificum anwendeten, blieb eg wirkungslos. Dies* Haschen nach Specificis beweist mehr als alles, wie trau- rig es noch uni die Therapie aussieht. Wie kann ein

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Symptom , das die Folge ganz verschiedener Zustände i«t, das selbst in seiner Form vielfache Abweichungen hat, durch einerlei Speciticum geheilt werden? Das hätte bil- lig jedem Sachverständigen einleuchten müssen ; dann würde er alle solche Anpreisungen gewiss nicht wieder- holt, sondern richtig gewürdigt haben. Ueber dies Suchen auf Wegen, wo nichts zu finden ist, Versäumte inan die wahrhaft zu befolgenden Heilanzeigen, begnügte sich, ober- flächlich nach Gelegenheitsursachen zu fragen, etwas in Bezug auf diese zu verordnen, brachte etwa heraus, dass der Kranke in seiner Kindheit einmal die Krätze oder Skrofeln gehabt, verordnete eine Cur wider diese, und wenn, wie natürlich, dies ohne Wirkung blieb, so hatte man alle rationelle Indicationen erschöpft und hielt sich an empirische Mittel, die nichts halfen, von welchen übri- gens manche in allen Zeitungen gepriesen , mit Attesten unzähliger Heilungen ausstaffirt und um schweres Geld ver- kauft wurden. Ausserdem besass manche alte Tante ein unfehlbares Fainilienrecept , das sie im Vertrauen einem Doctor mittheilte, der die Welt durch öffentliche Bekannt- machung beglückte.

236.

Wenn man die Cur eines epileptischen unternimmt, so ist das erste, was man zu erforschen hat, die bishe- rige Dauer der Krankheit: ganz anders ist die Behandlung des ersten Anfalls , als die der folgenden. Die Bestim- mung der Ursache ist dann das erste Geschäft ; ist sie un- heilbar, so können wir sogleich und ohne uns im minde- sten mit einer notorisch vergeblichen Radicalcur einzulas- *en, zur Palliativcur übergehen, doch kann dieser Fall nur selten sein. Denn die einzigen unheilbaren Ursachen der Epilepsie sind organische Fehler des Gehirns oder des Herzens. Diese sind mehrentheils angebornc und als- dann leidet der Kranke von den ersten Wochen seines Le- bens an conrulsiviiiichen Anfällen. Sind sic aber im Laufe

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des Lebens erlangt, so kann man annehmen, dass schon bedeutende Entwickelung derselben dazu gehört, ehe sie Convulsionen erregen und dann sind diesen unfehlbar schod eine Menge von andern Symptomen vorausgegangen , an welchen man den wahren Zustand der ersten Centralorgane des Lebens erkennen kann. Hirnfehler dieser Art, die im Laufe des Lebens entstehen , sind entvVeder die Folgen von mechanischen Verletzungen oder von freiwilligen Verbil- dungen. Von diesen letzten können besonders drei den Anlass zu Convulsionen geben:

a) Verknöcherungen in der harten Hirnhaut. Man trifft deren zwar oft in Leichnamen an, ohne dass im Le- ben Epilepsie bemerkt wurde , allein da alle Beobachter darin Übereinkommen, dass sie bei den Leichen epileptischer häufig gefunden werden, so wäre es vermessen, zu läug- nen, dass sie mit dieser Krankheit in ursächlichem Zu- sammenhang stehen können. Sie geben sich durch kein gewisses Zeichen zu erkennen ; wenn jedoch der Kranke seit längerer Zeit klagt, dass er bei einigermassen heftiger Bewegung von Schwindel ergriffen werde, dass er zuwei- len plötzlich in ein seltsames Selbstvergessen verfalle, dass seine Kraft zu geistigen Anstrengungen merklich nachlasse, dass ihn jeder noch so mässige Genuss narkotischer Dinge in Schw indel versetze ; wenn endlich dieser Schw indel an- fangs in leichte Erstarrung übergeht und erst nach vielen Anfällen allmählig auch Zuckungen der Muskeln hinzutre- ten, so kann man dieser Ursache ziemlich gewiss sein. Es ist dies eine traurige Gewissheit , denn dies Uebel ist völ- lig unheilbar.

b) Steatomenbildung im Gehirn. Auch diese ist so unheilbar, als Verknöcherungen. Sie giebt sich lange vor- her, ehe sie Convulsionen erregt, durch Schwächung der Geisteskraft, Schielen der Augen, plötzliches Einschlafen mitten in Beschäftigung zu erkennen.

c) Syphilitische Ca^ies iin Schädel. Zuerst entstehen Auflockerungen des Periostiums, dann Tophen; endlich

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folgt Eiterung, Corruption der Ilirnmasse, der Tod. Man erkennt sie lange vor Eintritt convulsiver Zufälle an dem nächtlichen Schmerz, an andern syphilitischen Symptomen, an dem Schielen der Augen. Eine nachdrückliche, zweck- mässige Quecksilbercur kann hier die Epilepsie heilen, so lange noch nicht Erweichung, Schwarzwerden, Eiterung der Ilirnmasse erfolgt ist: wenn das Uebel diesen Grad erreicht hat, ist es tödtlich und der Kranke stirbt in Con- vulsionen.

Wir sind also bei frisch entstandenen Epilepsien ganz gesunder Menschen nie berechtigt, die Krankheit für Folge eines unheilbaren Hirnfehlers zu erklären. Weniger sicher sind wir der Diagnose bei Herzfehlern, doch setzen diese bei ihrem Entstehen eine sehr gewaltsame Erschütterung in der Regel voraus ; die langsam entstehenden Herzfehler, als Verknöcherung derValveln, Hypertrophie des Herzen», veranlassen keine Epilepsie.

Wenn ganz gesunde Menschen plötzlich von Epilepsie befallen werden , so ist in der Regel der Anlass dazu höchst offenbar. Entweder wirkte Schrecken, oder Zorn, oder der Wollustreiz, oder Nervenkitzel, oder der Anblick eines andern epileptischen, oder irgend ein den Magen belästigender Genuss so unglücklich; der Kranke weis» den Anlass und giebt ihn, sobald er sich erholt hat, sehr

I bestimmt an. Oder es ist sonst sehr leicht, ihn zu erkcn- nen , z. B. bei Mädchen, deren Menstruation eben eintritt, ist es der gereizte Zustand des Uterus. Manchmal ver- schweigt er ihn, namentlich wenn Unmass der Geschlechts-

Ibefriedigung oder Wollustreiz ihn hervorgerufen hat; sehr selten wird man in den Fall kommen, gar keinen unmit- i telbaren Anlass zu finden.

237.

Nie gelingt die Verhütung künftiger Anfälle leichter, als nach dem ersten Anfall ; noch ist die Krankheit nicht zur Gewohnheit geworden und es hängt oft das Glück des

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I

Lebens davon ab, dass sich der Arzt jetzt nicht in der Wahl der Mittel irre. Dabei darf er sich nicht durch die Symptome verführen lassen; wie leicht dies möglich sei, mag folgender Fall beweisen:

Ein junger Mann von zwanzig Jahren, gross, athle- tisch gebaut, der nie einen epileptischen Anfall erlitten, hatte in dem Sousterrain eines Hauses allein gearbeitet und dabei ein lebhaftes Kohlenfeuer nöthig gehabt. Plötz- lich werde ich gerufen; man hat ihn bewusstlos auf der Erde liegend gefunden. Die Pulse des vollblütigen Jüng- lings klopften heftig, sein Gesicht war glühend roth, die Adern strotzten, als er zur Besinnung zurückgekehrt war. Ich liess ihn zuerst in frische Luft bringen, in der Mei- nung, der Zufall sei Wirkung des Kohlendampfs, und be- schloss, ihm sogleich eine Ader zu öffnen. Indem ich da- au die Vorbereitungen traf, gestand er mir, er habe die Einsamkeit benutzt , Onanie zu treiben und dies so lange wiederholt , bis ihm schwindlicht worden sei ; was w eiter mit “ihm vorgegangen und wie lange er so zugebracht , wisse er nicht. Die grosse Aufregung des Gefässsystems war also blos Folge der Convulsionen ; hätte ich ihm zur Ader gelassen , so wäre er höchst wahrscheinlich lebens- lang epileptisch geblieben.

Sind gastrische Reize schuld an dem Anfall, so er- kennt man dies leicht aus dem Geruch des Athems, wenn such der Kranke noch nicht sagen kann, was er genossen; die Zunge ist öfters dabei rein, denn der Mageninhalt kann sehr verdorben sein , ohne dass deshalb -gleich an- fangs die Schleimhaut des Magens so erkrankt, dass sich dies bis zur Schleimhaut der Zunge fortpflanzt. Dann ist die Anwendung der Brechmittel das erste und nothwendig- ste, um den Magen schleunigst zu entleeren. Sind narko- tische Substanzen genossen worden , *o empfiehlt nirfn den weissen Vitriol als Brechmittel ; ich würde den Brech- weinstein immer vorziehen , weil er sicherer Brechen er- i regt, wenn man zuerst zwei Gran auf einmal, dann alle

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Viertelstunde noch einen Gran, mit wenig lauem Was- ser, nehmen lässt, allenfalls mit etwas Stärkenmehl ver- bunden. Der Kranke bricht sich mehrentheils nach dem Anfall freiwillig; das darf jedoch uns von der Anwendung des Brechmittels nicht abhalten : kräftige Reizung des

grossen Bauchganglions ist gewiss auch nach dem freiwil- ligen Erbrechen noch nöthig. Erfolgt auf den Gebrauch des Brechweinsteins Durchfall, so darf man diesen nur durch dünne Suppen, Obstdiät, unterhalten; erfolgt er nicht, so erregt man ihn durch Salze, denn diese bewirken starke seröse Absonderung der Dickdärme , folglich kräf- tige Ableitung vom Gehirn, ln allen andern Fällen ist es nicht ohne Gefahr, wenn man gleich nach dem Paroxys- mus Brechmittel giebt. Sie können leicht einen neuen An- fall hervorrufen und die Ueberfüliung der Hirngefässe aufs äusserste vermehren; besonders wenn der Anfall hef- tig war, der Kranke nach demselben lange betäubt blieb, ist dies zu fürchten. Abführmittel aber sind weit siche- rer und leiten vom Gehirn ab, wenn sie auch nicht die Krankheitsursache ausleeren.

238.

Die allermeisten Epilepsien werden durch Schrecken hervorgebracht, ln diesen kommt alles darauf an , die Herznerven zu beruhigen und vom Gehirn abzuleiten. Man kann wohl denken, wie unpassend zum ersten Zweck alle reizende Mittel sind, als Moschus, Castoreum, Asa foetida, Valeriana, Ilirschhorngeist , Wein, Opium, alle narkotische Mittel ; das einzige brauchbare dieser Klasse wäre die Digitalis, aber sie entwickelt ihre Wirkung lange nicht schnell genug, schickt sich daher wohl zur Nachcur, aber nicht unmittelbar nach dem Anfalle. Viel zweckmäs- siger ist dann die Anwendung der Kohlensäure im gewöhn- lichen Brausepulver, aus Natrum bicarbonicum siccum mit der Hälfte Weinsteinsäure , dann dieselben Mittel , welche die zweite Anzeige erfüllen, salzige Abführmittel. Zu- gleich ein laues Bad ist höchst nützlich, wenn man im.

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Stande ist, es dem Kranken zu verschaffen. Das berühmte Unzersche Pulver aus einem Theil schwefelsaurem Kali , Krebsaugen und Zucker , mit einem halben Theil Natrum, verdient Empfehlung und mag oft allein hinreichen. Be- sonders sorgfältig muss man aber jede Erneuerung des Schreckens, jede Erinnerung an den Gegenstand , der es veranlasste, verhüten. Ungefähr eben so verfährt man, wenn Zorn den Anlass gab; man denke hier nicht, auf die Galle besonders sehen zu müssen. Die laxirende Me- thode ist die rechte, die Normalabsonderung herzustellen« Höchst schädlich und verkehrt ist das Beginnen, bei der Wirkung grosser Leidenschaften, die Epilepsie erregt ha- ben , den Kranken durch Blutausleerungen zu schwächen ; der Erfolg pflegt zu sein, dass die Epilepsie von nun an immer wieder kehrt und den Kranken nur mit dem Tode frei lässt. Das Leben des Gehirns ist durch den Anfall aufs äusserste erschüttert; die einzige Möglichkeit, wie es su seiner Integrität zurückkehren kann, ist die Lebens- energie der gesund gebliebenen, der nicht erschütterten Organe. Das wichtigste für das Gehirn, das Centrum des sensiblen Lebens, ist das Herz, das Centrum des plasti- schen Lebens. Welch eine Tollheit, dies zu schwächen! es in einem Augenblick zu schwächen , wenn dessen Kraft allein im Stande ist, das entstandene Uebel aufzuheben. Gleichwohl haben viele Aerzte diese vollkommen unsinnige, durch nichts zu rechtfertigende Gewohnheit, für welche eie nicht den Schatten eines Grundes anführen können, ausser dass der Kranke durch die Heftigkeit der Muskel- erschütterung erhitzt ist. Das ist eben so, als wenn man jedem , der sich warm und müde gearbeitet hätte , zur Ader lassen wollte. So wahr ist’s, dass es der Therapie gänzlich an Principien fehlt.

239.

Der grossen Rolle, welche das Sexualaystem bei der Epilepsie spielt, ist schon gedacht worden. Am allerhäu-

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figsten bricht sie bei jungen Mädchen aus, wenn sie in die Pubertät treten , bei andern , wenn sie beim Eintritt der Menstruation heftige Schmerzen leiden. Blutigel an das Perinäum , Kataplasmen um die Geschlechtstheile lei- sten in dem einen wie im andern Falle die besten Dienste; der schmerzhaften Menstruation muss man dadurch zu- Torkommen, dass man für gleichere Vertheilung des Blu- tes sorgt und den Andrang nach dem Uterus mässigt. Das Hauptmittel dazu ist das warme Bad, manchmal der Ehe- stand allein schade, dass der Arzt diesen nicht verord- nen kann! Ist sie Folge heftiger Begierde, so ist ganz klar, dass allein deren Befriedigung weitere Anfälle zu verhüten vermag; die Fälle sind so selten nicht, obgleich nicht immer erkannt. Auch wenn das ünmaas der Wollust diese unglückliche Folge hat, kann nichts befreien, als der massige, naturgemäss beschränkte Genuss. Männern werden die hieraus entstehenden Anfälle leicht tödtlich ; sie verwandeln sich in Apoplexie , besonders wenn der Geschlechtsliebe gleich nach Mahlzeit, Weingenuss geopfert wird: auch dies geschieht öfter, als man gewöhnlich er- fährt. Die Beizbarkeit der Harnröhre kann auch dann Epilepsie veranlassen, wenn ihre innere Membran in ei- nen entzündungsähnlichen Zustand tritt, anschwillt, den Durchgang des Harns erschwert und nach gelungenem Durchgang heftiger Schauder, wie Fieberfrost, eintritt. Dieser kann sich in Epilepsie verwandeln , besonders wenn etwa Gries oder kleine Steinchen durch die Harnröhre dringen. Das Auflegen von grauer Quecksilbersalbe ist dann das einzige Heilmittel. Dies führt mich auf folgen- den seltsamen Fall. Ein 30 jähriger Musiker wollte hei- rathen, zog mich aber vorher zu Rathe, da er nie die Eichel entblössen könne, wegen übermässig langer Vor- haut, die oben sehr eng und gleichsam durch einen knor- pelartigen Ring geschlossen war. Ich kannte damals die grosse und sichere Wirkung des Pressschwammea in sol- chen Fällen noch nicht; die Härte schien mir unüberwintU

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lieh, deshalb schlug ich die Beschneidung vor; der junge Mann wollte nichts anders. Einige Stunde nachher werde ich zu ihm gerufen und finde ihn in epileptischen Zuckun- gen ; als er zu sich gekommen war, sagte er, die Berüh- rung der noch nie entblösst gewesenen Eichel mache ihm unerträglichen Reiz. Auch hier half die graue Salbe sehr schnell.* Wenn bei Frauen, die viel Temperament, aber auch feste Grundsätze haben, der höchst selten gepflogene Beischlaf Epilepsie erregt, so kann nichts die unmässige Reizbarkeit mindern, als der öftere Geschlechtsgenuss. Sehr wollüstige Frauen werden gewöhnlich epileptisch; diesen muss man Mässigung empfehlen. Zuweilen hat auch grosse Disproportion der Geschlechtstheile diese Folge: kommt sie in der Ehe vor, so muss diese getrennt wer- den , wie auch die älteren Ehegesetze bestimmten.

240.

Wenn der Anblick eines andern epileptischen Epilep- sie erregt hat, so muss man dem Kranken dies verbergen; glücklicherweise hat keiner nach dem Anfall Ahndung von seinem wirklichen Zustande. Man muss sorgfältig vermei- den, dass der Kranke aufs neue solchem Anblick ausgesetzt werde und ihn zerstreuen , ihn zw eckmässig beschäftigen , nicht anstrengen , aber ihn auch nicht einen Augenblick unbewacht lassen, damit er sich nicht Träumereien und Phantasiespielen hingebe, die sehr leicht neue Anfälle her- beiführen können. Hier hat mir die Yalerianawurzel , in Pulver, täglich in ziemlich grosser Gabe, lange anhaltend genommen, grossen Nutzen zu leisten geschienen. Die Anfälle sind nie wieder gekommen ob sie ohne die Va- leriana wieder gekommen wären, kann ich freilich nicht wissen. Boerhaave bediente sich in einem solchen Falle der Furcht , wie bekannt : er drohte in einem Waisen- hausc, wo ein Kind nach dem andern epileptisch wurde, den ersten, der wieder umfiel, mit glühenden Zangen zu kneipen , liess Kohlen und Zangen kommen , stand da und

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wartete und es bekam keiner Epilepsie. Tn Kranken- häusern kommt man oft in grosse Verlegenheit; fällt ein Kranker nieder; so fallen alle. Man kann aber wegen der nachtheiligen Wirkung des Anblicks die epileptischen nicht unter andere Kranke zerstreuen ; bringt man sie zusam- men, so ist dies die Folge. Nichts als die Gewöhnung an diesen Anblick härtet aber endlich alle so ziemlich da- gegen ab freilich ein trauriges Mittel, aber das einzige für unheilbare Kranke. Heilbare muss man aber nie mit-v teil unter andere bringen ; durch deren Beispiel wird die gute Wirkung der Cur immer wieder vernichtet. Man sollte daher nur unheilbare in Institute aufnehmen, wo sie für immer vom menschlichen Verkehr und Umgang getrennt blieben: so lange noch Hoffnung zur Heilung ist, sollte man epileptische in ihren Häusern lassen. Ich habe im Krankenhause zu Berlin öfter heilbare epileptische bei der Krankenpflege oder im Hausdienst beschäftigt und da- durch sind einige Heilungen geglückt, die auf den Zim- mern der epileptischen wahrscheinlich vereitelt worden wären.

241.

Dass man den Anfall bei denen, die aura epileptica haben, abbinden könne, habe ich schon erwähnt: auf je- den Fall kann man bei solchen Kranken annehmen, dass in dem Gliede, wo die aura anfängt, eine topische Ursa- che der Krankheit vorhanden sei. Wenn es nicht gelingt, diese zu zerstören, gelingt auch die Heilung nicht. Sie besteht entweder in einem fremden Körper, der bei Gele- genheit einer Verwundung da hinein gerathen ist, oder in Vernarbung, die an einer Nervenscheide zieht, oder in einem dort entstandenen Verknöcherungspunkt einer Mem- bran, oder in einem Knorpel, der sich eben so zufällig, wie ein Ganglion, dort erzeugt hat. Dies Aufsuchen und Fortschaffen ist nicht so leicht, als man denken sollte. Auf alle Weise ist das beste, wenn man es nicht kann, an der

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verdächtigen Stelle ein grosses Fontanell oder Setaceunt anzulegen : mehrentheils wird di« Eiterung den schädlichen Körper, wenn er nicht sehr tief liegt, zerstören* Vcr- rauthlich sind es solche Fälle, in welchen das Einheilen eines Lapidis nepliritici geholfen hat* Nämlich diesen wirklich einzuheilen ist mir niemals gelungen, ich konnte ihn so tief einlegen und so weit im Zellgewebe fortstos- sen, als ich immer vermochte; jedesmal eiterte er wieder aus, aber immer an einer ganz anderen Stelle, als wo ich ihn eingelegt hatte. Allein immer ward ehi bedeutender, langwieriger Eiterungsprocess erregt ; wenn nun dies in dem Gliede geschieht, wo eine mechanische locale Ur- sache die Epilepsie bewirkt , so kann diese sehr leicht da- durch mit zerstört werden.

242.

Im Paroxysmus der epileptischen selbst kann die hei- lende Kunst nur wenig thun* Die erste Sorge für den Kranken ist, dass man ihn vor Beschädigung sichert, ihn so fallen lässt, dass er sich die Glieder nicht zerschlagen kann. Viele haben die unglückliche Gewohnheit, sich je- desmal die Zunge zu zerbeissen; dies kann man nur ver- hüten, wenn man eine Korkscheibe oder ein Stück festes Leder zwischen die Backenzähne schiebt* Es taugt nicht, wenn man die couvulsiven Bewegungen hindert ; die An- fälle werden dadurch nur länger, folglich erschöpfen- der. Das Ausbrechen der Daumen nützt zu nichts : ich habe es vielmals versucht und nie davon Nutzen gesehen. Aber das Magnetisiren ist nicht ohne Wirkung und wenn die Magnetiseurs irgend eine Thatsache als Beweis für ihre zahllossen Schwindeleien anführen können, so ist es ihr Einwirken auf epileptische im Paroxysmus , das dar- thut, es könne durch dies Manipuliren Effect hervorge- bracht werden. Wenn man die flache Hand fest auf die Herzgrube der Kranken legt, werden sie schnell ruhiger: es giebt besonders kräftige Menschen , die weit auffaller^

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der solche Beruhigung bewirken, als andere. Man kann durch Streichen die Zuckungen des einen Arms in den andern gleichsam schieben ; man kann sie aus den Armen in die Füsse bringen. Aber trotz dieser sichtbaren Ein- wirkung, dieser Beruhigung der heftigsten Zuckungen habe ich nie gesehen, dass die Paroxysmen dadurch abgekürzt werden ; noch viel weniger ist jemals ein Mensch dadurch genesen. Am wohlthätigsten wirkt das Magnetisiren bei den wahrhaft abscheulichen Zuckungen der Respirations- muskeln: durch schnelles calmiren kann man diese sehr abkürzen und in allgemeine, bewusstlose Convulsionen ver- wandeln. 31an hat behauptet , die Paroxysmen würden leichter und kürzer, wenn man den Kranken ein Stück kaltes Eisen in die Hand gebe es hilft nicht das geringste. Auch im nachfolgenden, soporösen Zustande kann man gar nichts thun, ja ich glaube nicht einmal, dass es der Heilkunst je möglich ist, den Uebergang in Apoplexie zu verhüten, der bei heftigen Anfällen immer zu besorgen steht ; schwerlich geschieht er anders als durch Ruptur eines Gefässes im Gehirn, also während der Convulsionen. Vorbeugen könnte man wohl, durch Ader- lässe und ableitende Mittel, aber man müsste sie anwen- den, ehe der Anfall eintritt , und wie kann man wissen, wenn er eintreten wird ? Auch wenn nach dem Anfall Delirien eintreten (stadium maniacum epilepsiae), kann man nichts thun, als verhüten, dass der Kranke nicht Un- heil stiftet: nie dauert dieser Zustand länger, als einige Tage, gewöhnlich ist er schon nach ein Paar Stunden vorbei.

243.

Das Verfahren des Arztes beschränkt sich also auf die Zeit nach den Anfällen. Ist es nicht gelungen, den zweiten Anfall zu verhüten ; sind deren schon mehrere erfolgt, aber ist der Kranke noch fern vom Verfallen in Blödsinn, so muss man, wie Borsieri sagt (Instit. T. III. §. 292.), die ganze Constitution des Körpers umändern.

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Ist der Kranke athletisch, jung, vollsaftig, ist er gewohnt, sich reichlich zu nähren, ist die Veranlassung der Krank- heit nicht der Art, dass sie jede Schwächling gefährlich macht (wie z. B. Uebermaas in der Geschlechtsbefriedi- gung), ist es ein Mädchen, das schwer menstruirt , so können wohl Aderlässe, besonders am Fuss, nothwendig werden ; es kann zweckmässig sein , den Kranken Essig und Wasser trinken und magere Diät halten zu lassen. Doch stelle man die Blutausleerungen nie gleich nach dem Anfall an, sondern erst, wenn man Grund hat, die Nähe eines neuen zu besorgen! In den weit häufigeren Fällen, wo grosse Reizbarkeit des Nervensystems , verbunden mit einer minder kräftigen Plastik, die wahre Disposition zur Krankheit ausmacht, sucht man nach Verhältnis des Zu- stands der Kräfte diese kranke Nervenreizbarkeit herabzu- stimmen und gleichzeitig die Plastik zu bethätigen. Ein Hauptmittel zum ersten Zweck ist das kalte Bad, beson- ders Douche auf den Hinterkopf und die Wirbelsäule ; noch besser , wenn der Kranke Seebäder brauchen kann : diese erfüllen beide Heilanzeigen zugleich und gehören daher unstreitig unter die Hauptmii " 1 wider dies Uebel , besonders bei jungen Personen. Nur müssen die Lungen gesund sein , denn knotige Lungen vertragen überhaupt keine Bäder, vollends keine kalten, und am wenigsten Seebäder. Man hat stets die Valeriana in der Absicht an- gewendet, die kränkliche Reizbarkeit des Nervensystems zu mildern ; ich zweifle sehr , dass dies Mittel diesen Zweck erfülle. Was sie am besten und gewissesten mil- dert , ist eine kräftige Plastik : die beiden Ilauptkräfte des Lebens , die sensible und die plastische , sind in steter Ge- genwirkung und die sensible wird stärker, wenn die pla- stische an Energie verliert, doch nur bis zu einem gewis- sen Grade. Ist dieser überschritten, so sinken beide zu- gleich. Ueberhaupt entsteht durch das Sinken der Plastik keine Krafterhöhung der sensiblen Thätigkeit, sondern sie tritt nur wirksamer hervor, da die ihr parallele Kraft nicht

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hervortritt; es fehlt aber diesem Hervortreten an Zweck- mässigkeit und Tiefe, an wahrer Energie. Daher alles, was die Plastik erhebt und wahrhaft stärkt, ihdirect auch die Sensibilität stärkt und erhebt, aber ein zweckloses Auf- flammen ihrer Thätigkeit hemmt. Man kann von der Chi- narinde zum Erheben der Plastik zweckmässigen Gebrauch machen, vorzüglich in folgenden Fällen:

a) Bei jungen Leuten, deren Wachsthum sich schnell entwickelt und die bei weichlicher Erziehung und geisti- ger Anstrengung in Convulsionen verfallen sind. Gewöhn- lich ist bei diesen die Digestionskraft ziemlich unge- schwächt ; desto besser vertragen sie die China. Sie muss in Substanz, wenigstens zu einer halben Unze den Tag, gereicht werden.

b) Bei Menschen, die sich durch den Missbrauch der Geschlechtslust geschwächt haben. Auch für sie ist die Chinarinde, nebst kalten Bädern, Hauptmittel; ist die V erdauungskraft nicht die beste ; so muss man aromatische Substanzen beifügen. Unter diesen hat die Rhabarber be- sonders alsdann vor allen andern den Vorzug, wenn die Kranken, wie gewöhnlich, zu Verstopfung geneigt sind.

c) Bei Frauen, die durch öftere Geburten, starke Katamenien , Säugen , weissen Fluss , sehr geschwächt sind. Für diese ist die Chinarinde unentbehrlich, doch reicht sie selten allein hin, sondern bedarf noch des Mitgebrauchs von Eisenmitteln und aromatischen Substanzen. Die For- 7nq/’schen Pillen aus Chinaextract, eisenhaltigem Salmiak und Zimmt sind vortrefflich. Da gerade bei solchen Frauen die Reizbarkeit unendlich gross zu sein , eine Tasse Kaffee, ein Glas Wein schon heftige Wallungen hervorzubringen und eine bedeutende Blutmenge durch den Uterus abzn- gelien pflegt , sind sie häufig Opfer des ärztlichen Unver- standes , der ihre Leiden durch Laxirmittel , kühlende Arzneien, elende Wasserdiät, wohl gar durch Blutauslee- rungen ärger und unheilbar zu machen beflissen ist.

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Für solche Kranke passen auch die Pomeranzenblätter wenigstens zur Beihülfe. Man hat ihnen eine spccifische antiepileptische Kraft zugeschrieben , die erstens nicht exi- stiren kann, zweitens am wenigsten diesen Blättern inwoh- nen dürfte* Ganz dasselbe gilt ohne Zweifel von den Wurzeln der Artemisia vulgaris, in Bier gekocht, der man ebenfalls gutherzig eine specifische Wirkung zuschrieb: sie sollte heftige Schweisse erregen und dadurch vermuth- lich die Materia peccans der Epilepsie ausleeren. Es ist allerwege bei der Epilepsie keine andere Materia peccans, als der ärztliche Glaube an solche.

Natürlich, dass Beschäftigung und Lebensweise die Cur unterstützen müssen; wenn ein Jüngling, der durch Stubensitzen und Studiren epileptisch worden ist, mit Stu- diren und Stubensitzen fortfälirt ; wenn ein durch Bei- schlaf oder Onanie erschöpfter fortsündigt, wenn ein durch Geburten ruinirtes Weib wieder schwanger wird und sogar ihr Kind säugt, so kann die China und alles, was man ihr beifügen mag, zu nichts helfen.

2M.

Dies sind die Mittel, deren Zweck ist, die Constitu- tion des Kranken umzuänderii , nämlich das Verhältnis der plastischen und der sensiblen Kraft in ihm, denn dies ist es, was man mit dem Worte Constitution bezeichnet, obgleich dahin noch manches andere gehört, was dessen Individualität überhaupt ausmacht. Das zweite, was man bei der Epilepsie im allgemeinen thun kann, ist: man bringt einen Reiz anderer Art im Nervensystem selbst hervor, als der ist, durch welchen die Epilepsie erzeugt und unterhalten wird. Diese Absicht erreicht man auf doppeltem Wege, entweder indem man das Cerebralsystem selbst unmittelbar reizt, oder indem man den Antagonis- mus desselben mit den Gangliennerven, besonders den 6planchnischen , benutzt und auf diese kräftig und dauernd «u wirken sucht. Da man durch das letzte Verfahren zu -

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gleich die Plastik wesentlich verändert, als welche von dem Leben der Eingeweide unmittelbar abhängt, so be- wirkt man zugleich durch sie Umänderung [der Constitu- tion des Kranken, folglich den Heilzweck, den ma-n zu- vörderst vor Augen hatte, deshalb gehören die Mittel die- ser Klasse gewiss zu den allergemeinsten und wirksamsten.

Die Mittel der ersten Art können keine andere sein., als die unmittelbar in die Sinnlichkeit wirken. Dahin ge- hören

a) der Schmerz, erregt durch Fontanellen, Haarseile, Vesicatoren u. dgl. Ich zweifle sehr, dass diese Mittel in der Epilepsie jemals wirklichen Nutzen leisten werden, doch sind sie häufig empfohlen worden.

b) Kalte Douche, Sturzbäder, Tropfbäder, Plattgir- bäder. Die grosse Wirksamkeit der Sturzbäder in der Ma- nie haben darauf geführt, sie auch in der Epilepsie an- zuwenden ; ihr Nutzen beschränkt sich zuverlässig allein auf die Fälle, wo da« Seiualsystem empfindlich und ge- schwächt ist.

d) Das Dippelsche Oel. Der abscheuliche Geschmack und Geruch dieses Mittels mag wohl seine ganze Wirk- samkeit ausmachen : es kostet dem Kranken grosse Ueber- windung, zu nehmen und in dem Bezwingen des Ab- scheus durch die Kraft des Willens liegt eine mächtige Ursache der Veränderung der Nerventhätigkeit. Es könnte demnach wohl den Ausbruch von Anfällen verhüten, die unmittelbar bevoritänden. Dass solch ein Mittel alle Wirk- samkeit verliert, wenn es lange fortgesetzt wird, versteht sich. Uebrigens ist es erhitzend und passt deshalb nicht überall.

d) Asa foetida. Ihre sinnliche Eigenschaft ist der des Dippelschen Oels zu vergleichen, allein sie bewirkt un- gleich grössere Wirkungen im Inneren, denn ohne Zweifel ist sie eins der kräftigsten Reizmittel auf Hirn und Herz zugleich. Bei grossen Erschöpfungen, bei tief gesunkener Vitalität, ist eie daher gewiss eins der herrlichsten Ara-

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neimittel , dessen man sich auch bei Epileptischen, wenn die Umstände passen, mit entscheidendem Erfolg bedienen kann. Aber mit grossem Unrecht würde man sie für ein Specificuin anselien.

Zu den Mitteln der andern Art gehören alle mögliche narcotica, mit Ausnahme des Opiums. Es ist fast keins, das nicht wider Epilepsien in Gebrauch gezogen worden und zuverlässig kann manches sehr kräftig diese Krank- heit heilen, wenn sie von der Reizung eines bestimmten Ganglions ausgeht, auf welches gerade dies Narcoticum specifische Wirkung hat, wie z. B. Belladonna auf das grosse Halsganglion , Digitalis auf den plexus cardiacus. So lange man aber diese Mittel ohne System, ohne genaue Bestimmung der Heilanzeige, ohne Unterscheidung giebt, in welches Ganglion man eigentlich wirken wolle, ja nicht einmal recht weiss, in welches es specifisch wirkt, sieht man wohl, dass höchstens der Zufall ein und das andre mal ihre Wirkung krönen könne, aber ein bestimmter, rationeller Heilgebrauch von ihnen nicht zu erwarten sei. Sie machen fast immer den Ilaupttheil der gerühmten Ge- heimmittel aus, welche die Quacksalber, versteht sich, um hohe Preise und nie ohne viele Atteste des grossen Nuz- zens , verkaufen. Zufällig müssen auch Heilungen durch sie gelingen, denn unter vielen Käufern sind gewiss einige, für die sie passen.

245.

Die bei weitem zuverlässigeren Mittel der zweiten Art sind die metallischen. Zwar ist das Ganglion, auf welche* sie specifisch wirken, schwerlich je ein anderes, als das grosse Bauchganglion , und dies enthält gewiss sel- tener als jedes andere den Grund epileptischer Convulsio- nen , aber eben deswegen schickt es sich besser als jedes dazu, dass man von hieraus den Gegenreiz gegen den er- griffenen Theil des Gangliensystems wirken lasse. Die Er- fahrung hat sich auch bestimmt dasfallg ausgesprochen;

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die Mittel dieser Art lehrt sie als die wirksamsten von allen kennen. Vergeblich wendet man sie an , wo die Ur- sache in einem organischen Fehler des Gehirns oder des Herzens liegt, wo dem Anfall eine aura epileptica voraus- geht, wo die Krankheit bereits Blödsinn au erregen an- fängt: in allen andern Fällen kann man darauf rechnen, dass sie wenigstens sehr günstige Veränderung der Anfälle herrorbringen , wenn nicht Diät und Lebensordnung ganz entgegen sind. Der immerfort studirende Gelehrte, der Wollüstling , der Säufer kann freilich keine Erleichterung hoffen , so lange er bei seinen Gewohnheiten bleibt ; eben so wenig wird geheilt, wer täglich dem Anblick anderer epileptischer sich aussetzt und dadurch selbst Anfälle be- kommt. Die wichtigsten Mittel dieser Klasse sind

a) das salpetersaure Silber. Man giebl es von einem Achtelgran täglich in steigender Dosis , die jedoch nie zu gross werden darf: ich höre und lese von Dosen zu täg- lich vier Gran, aber ich habe nie so gefährliche Quantitä- ten dieses Mittels zu geben gewagt. Die Art, wie es in die Magennerven und durch diese unmittelbar in das grosse Bauchganglion wirkt, bestimmt unstreitig seine Wirksam- keit zunächst; es ist in kleiner Gabe nicht im Stande, Erosion der Magenhaut zu verursachen und verursacht auch keine. Wohl aber bewirkt es höchst bedeutende Ver- änderungen der Absonderung der Magenflächen, eine Wir- kung, die noch gar nicht so benutzt ist, wie sie verdient, denn unter allen Mitteln, kranke Absonderung des Magens umzuändern, ist es das stärkste, tiefste, das dann noch wirksam bleibt, wenn uns alles andere verläset, selbst die muriatische Säure; zugleich wirkt es viel tiefer und darum dauerhafter, als diese. Doch dies ist es nicht, worauf es bei der Epilepsie ankomrat; hier gilt es, die Thätigkeit des grossen Bauchganglions so zu verändern , dass dies durch Rückwirkung auf das Gehirn den Wiederausbruch der Convulsionen verhütet: die Vegetation des gesammten Nervensystems «oll durch unmittelbares Ein wirken auf den

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Theil desselben, der dem Mittelpunkt der Digestion dient, verändert werden. Die Erfahrung beweist, dass dies ge- linge, wenigstens sehr oft, allein nie schnell und auf ein- mal, sondern nur indem man den Einfluss des Mittels lange fortdauern lässt. Dass zuweilen dadurch die Haut, ja selbst die adnata der Augen, die Lippen, eine tiele Färbung annehmen, die ziemlich der eines Mulatten oder noch besser eines Malayen aus Ostindien gleicht, ist voll- kommen gegründet und Jahre vergehen , ehe diese Färbung wieder aufhört : es muss also Silber in das Blut überge- hen und aus diesem in den kleinen Gefässen abgeschieden, doch nicht ausgesondert werden, folglich die äussersten Flächen färben. Hierin liegt jedoch etwas noch unerklär- tes: ich hatte Gelegenheit, einst den Leichnam eines so dunkel gefärbten zu untersuchen und fand die Knochen von natürlicher Farbe, während Färberröthe blos die Kno- chen violet färbt und Galle zugleich der Haut sammt den Knochen, ja sogar den Eingeweiden, namentlich dem Ge- hirn , ihre gelbe Farbe mittheilt. Diese dunkle Färbung folgt auf den Gebrauch des salpetersauren Silbers nur in Ausnahmefällen; bei weitem öfter sieht man sie auch nach langer Anwendung nicht entstehen. Andere beschwerliche chronische Folgen dieses Mittels habe ich nicht bemerken können.

b) Das Kupfer , entweder als schwefelsaures Kupfer, in Auflösung, oder als Kupfersalmiak in solider Form. Die Regeln seines Gebrauchs sind: es muss nie anders ge- nommen werden, als wenn der Kranke Nahrung genossen hat, weil es sonst Ekel hervorbringt ; es muss vom Anfang in kleiner Gabe, nach und nach immer stärker gereicht werden und man muss seinen Gebrauch lange fortsetzen. Es giebt kein Metall , dessen Gebrauch so lange und so gänzlich ohne allen Nachtheil für den Organismus fortge- setzt werden könnte, als der des Kupfers; dass man ihm eine giftige Wirkung zuschreibt, ist vollkommen grundlos, es sei denn, dass es in grosser Gabe genommen Magen-

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entzündung bewirke. Wenigstens von den Metallen, deren Wirkung1 bekannt ist, giebt es kein«, das bei fortgesetztem Gebrauch so wenig Nachtheil bringt; von vielen Metallen kennen wir sie nicht und es ist seltsam genug, dass man sich so wenig darum bemüht hat, sie zu untersuchen, da man doch keine wirksameren Mittel im ganzen besitzt , als die Metalle, und sonst das ganze Gebiet der Schöpfung durch- sucht, um neue Arzneien zu finden, nicht als wenn wir wirklich neuer bedürften, denn wir haben genug, wenn wir die nur recht zu brauchen wissen , die wir haben , sondern aus Neugier und Sucht nach Auszeichnung. Unstreitig wirkt das Kupfer auch unmittelbar nur in die Nervenfläche des Magens und ins gross« Bauchganglion, aber es wirkt noch tiefer und deshalb noch bleibender, als das Silber, ohne die Haut zu färben, wie dies. Der Appetit, die Verdau- ungskraft, wird stärker, die Kranken nehmen bei dem Ge- brauch zu , ohne aber fett zu werden ; ihr Schlaf wird ruhiger und man bemerkt nicht , dass irgend eine thie- rische Function durch das Kupfer geschwächt werde. Da- her ist es ohne Zweifel das empfehlenswertheste Mittel dieser Klasse.

c) Der Zink. Boerhaave kaufte mit grossen Kosten einem Geheimnisskrämer , der Epilepsie heilte, sein Arca- nuin ab es bestand in Zinkblumen. Boerhaave würde es verachtet haben , wäre er nicht Zeuge von dessen Wirk- samkeit gewesen in seiner Hand soll es auch noch ge- nützt haben in unserer nützt es nichts. Die Kranken lernen es gut vertragen , ja am Ende Theelöffelweis neh- men , ohne dass es Ekel erregt. Sie magern ab beim Ge- brauch desselben und ihre Haut wird trockfcn ; bei man- chen habe ich die Klage gehört , dass ihnen danach die Haare ausfallen. Wenn es wirkt, so ist die Art seines Wirkens der des Kupfers und Silbers analog, allein ich gestehe, dass ich keinen Nutzen davon gesehen habe, eben so wenig, als vom Wismuth , den man dem Zink zuweilen

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substftuirt fiat. Die chemische Reinheit des Metalls mag wohl der Wirkung eher nachtheilig als vorteilhaft sein*

Schon mehrmals ist der grossen Menge von Mitteln gedacht worden, welche das öftere Fehlschlagen der ärzt- lichen Heilversuche und die Sehnsucht der Kranken nach Hülfe, die sie nicht finden konnten, in Gang gebracht hat: ich erwähne ihrer blos beiläufig, um dem Vorwurf zu entgehen, dass ich eine Lücke übrig gelassen. Die Eichen - mistel , mit der einst die Druiden Wunder thaten, ist eins der ältesten und herümtesten, aber die Zeit ist vorüber, in der man damit Wunder that; ich habe nie den gering- sten guten Erfolg davon gesehen , so wenig als vom Knall- gold, dem neuesten Specificum , wie jenes vielleicht das älteste ist. Möglich, dass hei der Eichenmistel etwas auf die Zeit ankommt, in der man sie vom Baum nimmt, oder auf die Art der Zubereitung, sonst ist nicht zu be- greifen, wie sie je hat zu solchem Ruhme kommen kön- nen. Man hat mir gesagt , die Mistel müsse von Kiefern genommen werden ; ich habe diese seltnere nicht besser als die an Eichen gefunden. Das Ragolosche Mittel, eine Mischung aus mancherlei Pflanzen , ich glaube , aus Marum Verum -Blättern unter andern, verbunden mit ätherischen Oelen, hat den Vorzug, dass es theuer ist und sich des- halb für Vornehme schickt; seine Wirksamkeit ist gleich der eines in einem neuen Kupferkessel lebendig verbrann- ten und als Kohle aufgegessenen Krebses und sehr vieler ähnlicher Zaubermittel , bei denen man nicht vergessen darf, sie in drei abnehmenden Mondszeiten nach einander nehmen zu lassen; gewöhnlich gehören noch mehr sympa- thetische Formen zum rechten Gebrauch. Diese Sympa- thien für sich , sie mögen bestehen , worin sie wollen , sind wahrhaftig die besten und wirksamsten aller Heilmit- tel in allen den Fällen , in welchen neue Accesse blos des- wegen ausbrechen, weil der Kranke sie fürchtet und er«

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wartet, in welchen also keine organische Veränderung ihre Wiederkehr bedingt, die blos von Ansehen anderer epileptischer, von Schrecken und andern Leidenschaften entstanden sind. Kann man nur dem Kranken den festen Glauben beibringen , dass er nicht wieder Anfälle bekom- men werde, so bekommt er auch keine, und solchen Glau- ben flösst die Sympathie wohl ein, nur muss sich der Arzt nickt darein mischen, denn noch haben es die Mag- netiseurs und die Homöopathen nicht dahin gebracht, dass der ärztliche Stand beim Volke allgemein als der abergläu- biger alter Weiber , und Hexenmeister gilt, so thätig sie nach dieser Ehre ringen. Irgend ein Schulmeister , oder Scharfrichter, oder ein altes Weib überbietet daher den Credit der Aerzte gewöhnlich , aber wie fest auch sonst verständig scheinende Menschen auf das Uebernatürliche bauen , davon giebt es höchst merkwürdige Beweise in Menge. Der Verstand ist nicht des Menschen höchste Kraft, sondern der Glaube.

247.

In unheilbaren Fällen bleibt dem Arzte nichts übrig , als dass er sucht das Uebel zu mildern und die Gefahren abzuwenden, die dessen natürliche Folge sind. In der er- sten Absicht muss er sich bemühen, dass die Paroxysmen seltener kommen, dass sie weniger erschütternd für den Kranken sind, dass das Stadium maniacum, wenn ein sol- ches ihnen vorausgeht oder nachfolgt, wegfalle oder kür- zer werde. In der zweiten Absicht sucht er dem tödt- lichen Ausgang des Anfalls vorzubeugen und zu verhüten, dass der Kranke in Blödsinn falle. Hierin besteht die Pal- liativcur der Epilepsie , in w elcher der Arzt fast immer viel leisten kann, während ihm die radicale leider oft misslingt* Es ist daher rathsamer, diese nicht zu lange, zu verfolgen, wenn man einmal sieht, dass sie nicht ge- linge, sondern lieber das palliative Verfahren bei Zeiten

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einauschlagen, besonder« da es dem radicalen selten entge- gen steht, vielmehr es oft fördert.

Die Frequenz der Anfälle nimmt zuweilen auf sehr beunruhigende Weise zu, selten aus anderer Ursache, als durch DiHtfehler. Besonders Leidenschaften , Geschlechts- befriedigung , Schlaflosigkeit pflegt so zu wirken. Man muss die jedesmalige Ursache erforschen und abstellen , nächst dsm das Nervensystem anders beschäftigen* es giebt kaum ein auf alle Fälle so passendes Mittel hiezu, als ein Brechmittel, das fast unausbleiblich eine Pause bewirkt. Benutzt man diese dazu , dass man das Nervensystem zu stärken sucht, so beugt man gewöhnlich der Wiederkehr der Anfälle auf eine Weile vor. Kalte Bäder, Chinarinde, Valeriana in Substanz und in grossen Gaben sind die Mit- tel, von welchen man diese stärkende Wirkung sich am ersten versprechen darf.

Wenn die gewohnten Anfälle gar zu lange ausbleiben, ist dies kein Vortheil: die ersten, die dann nach der lan- gen Pause wiederkommen , pflegen fürchterlich zu sein. Kennt man den Kranken genau , so kann man an seinem Erröthen , an der Unruhe im Sclilaf, an einer gewissen Leidenschaftlichkeit und Hitze , die man sonst nicht an ihm gewohnt ist, bisweilen an speciellen , blos diesem In- dividuum eigenthümlichen Zeichen die Nähe eines Anfalls ziemlich gewiss voraussehen , wenn nicht der Zufall den

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Ausbruch befördert. Denn ist es gut, durch kleine Ader- lässe , wohl auch nur durch Blutegel in den Nacken , durch salzige Abführmittel den Kranken vorzubereiten, damit nicht die Gewalt der Convulsionen ihn apoplektisch tödte. Der öftere Gebrauch dieser schwächenden Mittel würde die Krankheit geradezu verschlimmern ; man muss sich wohl hüten, sie nicht zur Gewohnheit, zum Bedürf- nis« zu machen.

Bei dem allen ist sorgfältige Diät nothwendig. Alles, was narkotisch wirkt, muss der Krank« entweder ganz weiden, oder wenigstens nur in sehr kleinen Quantitäten

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gemessen. Wein, Punsch, Branntwein in jeder gedenk- liehen Form, sogar der Rauchtabak ist epileptischen Kran- ken im ganzen schädlich ; am ehesten kann man kleine Quantitäten alten Weins erlauben, nur nie Champagner, oder Burgunderwein, die schnell erhitzen. Backwerk, das den Magen belästigt, muss gleichfalls ganz vermieden wer- den. Man schreibt den Hülsenfrüchten, Erbsen, Bohnen und Linsen, die Eigenschaft zu, dass sie Convulsionen befördern. Mässigkeit in allen Genüssen ist besonders zu empfehlen, sonst würde ich nach der Regel, dass alles gesund ist, was verdaut wird, keine andere Speise ausschliessen , als Muscheln, Pilze, ihrer narkotischen Kraft wegen. Der viel wichtigere Theil der Diät ist das sorgfältige Fliehen aller Gelegenheiten zum Schwindel. Der Kranke darf nicht in fliessendes Wasser schauen, nicht auf einem Kahn fahren, nicht rückwärts sitzend fahren, nicht reiten (der Gefahr wegen), nicht schaukeln, nicht tanzen. Schwieriger noch ist das Meiden aller leidenschaftlichen Aufregung, besonders bei der reizbaren Gemüthsart epileptischer Men- schen, und am schwierigsten die Diät in Absicht auf den Geschlechtsgenuss. Versagte Befriedigung ist hier so ge- fährlich, als es die Zulassung ist; grosse Mässigkeit, Ab- warten der Zeilen, in welchen der Kranke am wenigsten Anfälle zu fürchten hat, allewege zu empfehlen. Auch hat dieser Gegenstand noch eine medicinisch -polizeiliche Seite, wenn man als erwiesen annehmen kann, dass Kin- der epileptischer Väter auch epileptisch werden; anders ist es mit epileptischen Frauen, deren Kinder dieser Ge- fahr nicht so unterworfen sind. Zu bemerken ist, dass epileptische Mütter beim Geburtsact nie von Zuckungen ergrilfen werden, die gesunden in dieser Arbeit lebensge- fährlich sind. Wenn der Anfall mit einem Stadium maniacum verbunden ist, erfolgt der Uebergang in Blöd- sinn schneller, als wo dies nicht der Fall ist, und dasselbe Mittel, was diesen Uebergang hindert, erleichtert und heb^

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endlich ganz die9e Manie, das Opium. Dies ist das grösste und hülfreichste Palliativmittel für epileptische.

Es wirkt nur palliativ ; nie wird ein epileptischer durch Opium völlig geheilt, in welchen Gaben man es auch anwende oder wie man es immer verbinden möge, woraus hervorgeht, dass niemals die Krankheit blos in ver- minderter Vegetationskraft des Gehirns ihren Grund habe, denn dass diese vermehrt wird, ist die grosse, beständige, zuverlässige Wirkung des Opiums. Allein bei jeder Epi- lepsie, sie entstehe, aus welcher Ursache sie wolle, wird diese Vegetationskraft des Gehirns allmählig vermindert und deswegen verfällt jeder epileptische, wenn er lange genug lebt, endlich in Blödsinn. Dieser wird durch Opium auf lange Zeit, auf mehrere Jahrzehnte, abgehalten und dabei zugleich die Heftigkeit der Krankheit sehr bedeu- tend vermindert, das Stadium maniacum, wenn sie damit verbunden war, entfernt, und der Kranke für Geschäfte brauchbar, des Lebensgenusses und der Wirksamkeit fähig erhalten. Somit ist das Opium unter allen Mitteln in der Epilepsie zuverlässig das wohlthätigste , ob es gleich die Krankheit nicht aufhebt. Aber bei der Nothw endigkeit, die Gabe immer zu erhöhen, damit sie wirksam bleibe, kommen die Kranken nur zu bald so weit, dass sie dessen eine grosse Menge bedürfen; sind sie arm, so ist der hohe Preis des Mittels keine geringe Schwierigkeit. Zwei bis drei Quent Opiumpulver den Tag wird nicht blos ver- tragen, sondern erfordert: giebt man weniger, so bemerkt der Kranke sogleich das Sinken seiner Kräfte und entzieht man ihm das Opium ganz, so werden nicht blos die epi- leptischen Anfälle sofort ungemein heftig, sondern es fin- det sich sehr bald der Blödsinn ein, in welchem der Kranke alsdann zu Grunde geht. Deshalb wird das Opium denen, die sich einmal daran gewöhnt haben, zur Existenz unentbehrlich. Eine Gabe wirkt nicht länger als 24 Stun- den; nach Verlauf derselben können sie der neuen Gabe picht entbehren , ohne sofort in tiefe Ermattung, in einen

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unerträglichen Zustand, zu sinken. Während der Wein- geist, auch in geringen Quantitäten, die Anfälle herbei- führt und ärger macht, hält das Opium sie auf und ver- mindert sie , zum sicheren Beweis , dass beide Mittel denn doch nicht so identisch wirken , als man gewöhnlich glaubt. Wenn man bemerkt , dass ein epileptischer in Gefahr kommt, in den blödsinnigen Zustand überzugehen, so giebt es für ihn auf Erden keine Hülfe weiter , als dass man ihn zum Opiopliagen macht. Dadurch erhält man ihn nicht nur in dem leidlichsten Zustande, dessen er fähig ist, sondern er bleibt auch für Geschäfte des Lebens ge- schickt. Alle sogenannte Surrogate dieses Mittels , als Hyoscyamus, Lactucaria und was sonst die Kunst erfunden hat, leisten nichts. Ich habe versuchen wollen, in wel- chem Bestandtheile des Opiums diese Kraft liege. Die Meconsäure brachte sofort ärgere Convulsionen mit langer Betäubung hervor und es dauerte lange , ehe sich die Kranken wieder erholten; das Morphium, mit Essigsäure verbunden, erregte zwar keine Convulsionen, aber grosse, trockene Hitze, heftigen Durst und Kopfschmerzen. Nur das Opium in Substanz wirkte wie es sollte. Die Kranken lind die besten Kenner der Güte des Mittels ; ist es zu stark geröstet, oder von schlechter Qualität, so bemerken sie dies sogleich. Das Opium, welches sich in Wein am schnellsten und vollständigsten auflöst, ist das beste; die sinnlichen Kennzeichen trügen. Ich habe zehn Jahre lang täglich eine ganze Gesellschaft von Opiopliagen in der Charite zu Berlin gesehen und beobachtet, also kann ich aus Erfahrung sprechen.

Sonderbar ist, dass diese Opiophagen , wenn sie fieber- haft werden, ihr Opium gern entbehren und so lange das Fieber währt, keinen Anfällen ausgesetzt sind. Zwar er- eignet sich selten , dass Fieberkrankheiten solche Men- «chen befallen, aber wenn es sich ereignet, verschmähen pie selbst den Opiumgenuss.

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248.

Eine der seltsamsten Erscheinungen gewährt die Ka- talepsie ; sie ist mit dem Somnambulismus aufs genaueste verwandt; immer geht eine Form in die andere über und das wesentliche beider ist eins. Die Kranken verfallen ur- plötzlich in Bewusstlosigkeit, fallen aber nicht, wenn sie stehen, sondern bleiben genau in der Stellung , in welcher der Anfall sie überrascht. Das erste Mal geht ihm in der Regel ein heftiger Eindruck aufs Nervensystem vor- aus, allein die folgenden Anfälle kommen ohne alle Gele- genheitsursache, so dass sie z. B. Frauen, die ihnen über- haupt mehr ausgesetzt sind, als Männer, bei der gleich- gültigsten Arbeit überraschen. Die Augen haben sie offen, der Puls wird klein, krampfig, der Athem ist kaum hörbar, langsam, leise, die Hauttemperatur ist die natürliche. Man kann die Glieder beugen; man kann ihnen die widernatür- lichste Stellung geben ; sie bleiben doch stehen. Zuweilen fällt jedoch das widernatürlich ausgestreckte Glied langsam in seine er*te Stellung zurück. Man kann ihnen gegen die weit offenen Augen fahren, ohne dass sie sie schlies- sen, man kann jedes Geräusch um sie machen, ohne dass sie das geringste vernehmen. Ergreift man aber ihre Hände, streckt ihnen die Finger aus und setzt seine Fin- gerspitzen auf die ihrigen, so beantworten sie mit leiser, doch vernehmlicher Stimme an sie gerichtete Fragen, die sich auf ihren Zustand beziehen, bestimmen meistens ziemlich genau die Zeit, wann sie wieder erwachen wer- den, sagen, was ihnen angenehm ist oder nicht, aber pro- phetische Sprüche anderer Art habe ich niemals von ih- nen gehört, eben so wenig ärztliche Verordnungen. So- bald man die Fingerspitzen von ihnen entfernt, verstum- men sie. Nach dem Erwachen wissen sie nichts von ih- rem Zustand, sondern fahren in dem ruhig fort, was sie thatcn, als der Anfall kam, aber wenn sie wieder katalep- fisch werden , und derselbe , der beim vorigen Anfall mit

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ihnen sprach, wieder mit ihnen spricht, so wissen sie, dass sie schon mit ihm gesprochen, auch was sie ihm ge- sagt haben. Zuweilen geht dieser kataleptische Zustand in Zuckungen über und endet in tiefen Schlaf. Beim Som- nambulismus gehen die Kranken bewusstlos und mit ver- schlossenen äusseren Sinnen umher und nehmen allerlei vor ; in allem anderen ist ihr Zustand , wie der in der Katalepsie. Schon die Alten kannten dies Uebel, aber durch die magnetisirenden Aerzte sind eine Menge von Wunderdingen von ihm erzählt worden und man hat un- gemein viel gelogen. Die Kranken gefallen sich in der kataleptischen Rolle und äffen Aerzte und Publikum. Eine solche sagte im (scheinbar) somnambulen Zustande vor- aus , dass sie bestimmt um elf Uhr des Nachts aus dem Bett aufsteigen und an einer bestimmten Stelle des Zim- mers niederfallen werde ; sie practicirte dies auch meh- rere Nächte und man legte dahin weiche Decken, damit sie in ihren Zuckungen sich nicht beschädige. Alle Zu- schauer waren erstaunt. Ich besuchte sie des Abends, als die Decken schon gelegt waren , und gteckte unbemerkt eine Hechel unter die oberste. Als es elf Uhr schlug, macht sie die Augen gross, starr, erhebt sich aus dem Bett, wankte mit Geisterschritten im Zimmer umher und stürzte plötzlich mit Heftigkeit auf die Decken nieder, aber sogleich schrie sie laut, rieb sich den Hintern und war ganz gesund ; den folgenden Tag verliess sie in gros- sem Zorne das Krankenhaus.

249.

Die nächste Ursache der Krankheit kann keine andere sein , als plötzliche Umkehrung der Polarität des grossen Gehirns mit der des Systems der Hirnganglien. Warum aber die Kranken reden, folglich Willen beweisen, wenn man mit den Fingerspitzen ihre Fingerspitzen berührt, weiss ich nicht zu erklären. Bei völlig gesunden, robusten Menschen kommt die Krankheit gewiss sehr selten vor;

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einmal habe ich sie bei einem neunzehnjährigen , wohlge- bildeten Jüngling gesehen , der auf eine überraschende , unangenehme Nachricht plötzlich kataleptisch worden war, und nachher in Wahnsinn verfiel, aber nach drei Wochen völlig hergestellt wurde. In der Regel befällt sie nur ner- venschwache Personen, bei denen alle Arten von Convul- sionen möglich sind. Leicht geht sie in Tollheit oder Wahnsinn über ; tÖdtlichen Ausgang , von dem die älteren Aerzte sprachen, habe ich nie gesehen. Ihre Heilung wird auf dieselbe Weise bewirkt, wie die der Epilepsie; da die Krankheit sehr selten vorkommt , ist sie mehr als Gegenstand der Beobachtung interessant. Zweimal folgte der Katalepsie nach einigen Jahren die Lungensucht.

250.

Die Katalepsie macht den Uebergang von den kloni- schen Muskelkrämpfen zu den tonischen, deren wichtigste Form die des Trismus und Tetanus ist» Wesentlich ist der Unterschied zwischen tonischen und klonischen Mus- kelkrämpfen nicht, auch sind, wo klonische statt finden, tonische jedesmal zugleich, z. B. bei der Epilepsie sind die Finger im tonischen Krampf, bei hysterischen Kräm- pfen sind alle Muskeln starr; die Wachsweiche der Glieder in der Katalepsie macht einen Mittelzustand aus. Wieder- um sind tonische Krämpfe selten ohne klonische ; zum Tetanus gesellen sich immer zuletzt Convulsionen. Aber da- rin sind Trismus und Tetanus von andern , nur nicht von Veitstanz, wesentlich verschieden, dass das Bewusstsein jedesmal dabei völlig frei bleibt. Der Kranke fühlt zuerst einen leichten Schmerz, entweder in einer Wange, oder in beiden zugleich; es ist ihm, als wenn er zubeissen müsse und dies doch nicht recht gelingen wolle. Mit ei- nem mal wird die Unterkiefer steif, fast immer fest nach der oberen hingezogen, seltner aufgesperrt und unbeweg- lich nach unten gezogen; geschieht die* letztere, so kann der Krampf so gewaltig werden, dass ei* wahre Verrenkung

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veranlasst (ein Fall, den ich nie selbst gesehen habe). Dauert dieser rictus oris lange, so veranlasst die Trocken- heit der Zunge und des Mundes, die gänzliche Unmöglich- keit der Dcglutition, nicht nur überaus grosses Leiden, sondern wahre. Lebensgefahr. Zuweilen bleibt die Krank- heit hierauf beschränkt, aber sehr oft gesellen sich zur Mundsperre ziehende Schmerzen iin Rücken, im Nacken; der Kopf wird nach hinten gebeugt und unbeweglich, end- lich auch der ganze Rücken. Noch kann der Kranke ge- hen und die Arme bewegen , aber auch die Füsse werden steif, nach hinten gezogen ; die steifen Arme ziehen sich nach hinten (Opisthotonos ). Manchmal wird auch der Körper nach vorn gebeugt ( Emprosthotonos )♦ Doch ist diese Form nicht so häufig , auch nicht so anhaltend , wie die Beugung nach hinten. Zuletzt wechseln Einprostho- und Opisthotonos mit einander ab und es entstehen die scheusslichsten Convulsionen. Ziehen nach einer Seite (Pleurothotonos) habe ich nie beim Tetanus gesehen, son- dern allemal nur als gleichzeitiges Symptom der Zuckun- gen der Respirationsmuskeln bei epileptischen Anfällen,

251.

Es giebt drei Arten von Trismus und Tetanus , die sogleich unterschieden werden müssen, weil ihre äussere Form zwar dieselbe, aber ihre Prognose und ihre Behand- lung so gänzlich verschieden ist, dass ich überzeugt bin, ihre nächste Ursache sei es nicht minder. Nämlich der hysterische kommt häufig vor und ist höchst unbedeutend; der rheumatische ist sehr selten bei Menschen, häufig beim Pferd (ob bei andern Thieren, weiss ich nicht), und ge- hört zu den gefährlichsten Formen des Rheumatismus; der traumatische aber ist eine der furchtbarsten Erscheinun- gen, die sehr selten anders, als tödtlich endet. Wie ist es nur denkbar, dass ein so gefährlicher Zustand, wie der letzte , einerlei Ursache haben könne mit dem hysterische* Tetanus? Nämlich einerlei Grund und nächste Ursache,

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denn die Verschiedenheit der prokatarktischen fallt ohne- hin in die Augen. Die Form aller drei Arten ist gleich- wohl nur eine.

252.

Der hysterische Tetanus ist sehr oft ohne Trismus ; wenigstens geht ihm dieser nie voran, sondern tritt gleich- seitig mit ihm ein. Er ist nichts anders, als eine Form convulsiver Hysterie, der Ursache, der Dauer und der Gefahr nach in nichts von jeder andern verschieden, be- darf keiner besondern Behandlung und kann hundertmal dasselbe Individuum befallen, ohne es in die mindeste Ge- fahr zu setzen. Immer sind die hysterischen Muskelkräm- pfe, wie schon erwähnt worden, mit Starrheit der Streck- muskeln verbunden ; diese darf nur allein Vorkommen ,

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ohne klonische Krämpfe, so ist der hysterische Tetanus fertig. Doch verdienen einige besondere Formen desselben Beachtung, zuerst der Pleurothotonos der Frauen, der ge- wöhnlich die Zuckungen der Respirationsmuskeln zu be- gleiten pflegt. Dies ist wohl der Zustand der allerhöch- sten Qual , die über ein menschliches Wesen kommen kann ; Todesangst des Erstickens bei der fürchterlichen Bewegung der Respirationsmuskeln und zugleich convulsi- ves Zusammenziehen des Körpers in eine höchst peinliche Stellung, immer nach einer Seite. Die Natur hüllt sonst ihre Schauder in Bewusstlosigkeit ; ihr Opfer fühlt sein Leiden nicht, aber diesem giebt sie volles Bewusstsein; andere Convulsionen sind schmerzlos, aber diese Zusam- menziehung nach Einer Seite ist, wie alle versichern, die sie erfahren haben, äusserst schmerzhaft. Indessen hat die Erscheinung blos ihrer Furchtbarkeit wegen pathologi- sche Wichtigkeit, therapeutisch können wir dabei nichts thun , ausser der allgemeinen antispastischen Behandlung nach dem Anfalle, der glücklicherweise selten lange an- hält, aber oft wiederkehrt. Ich muss hierbei der gänz- lichen Unwirksamkeit der Blausäure in allen ihren For-

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men gedenken , die ich zur Verhütung diese* grässlichen Leidens innerlich und im Anfall äusserlich mit grossem Vertrauen , aber ohne allen andern Nutzen angewendet habe, als dass ihr Gebrauch den Qualen der Kranken auch noch Kopfschmerz hinzufügte. Ich habe überhaupt noch nicht gefunden , wo und wozu man von der Blausäure nützlichen Gebrauch machen könne: nicht alles, was wirk- sam ist , ist auch hülfreich.

Eine zweite sehr beschwerliche, ja gefährliche Forni ist der hysterische Trismus, der seltener in Zusammen- ziehen des Mundes besteht, als in Aufsperren desselben: ich habe ihn fünf Tage ohne Aufhören fortdauern sehen. Um die Kranke (denn bei Männern kommt er nie vor) zu nähren , muss man warme Milch einspritzen ; man kann sehr bequem in den Schlund gelangen , obgleich alle Fä- higkeit der Deglutition verloren ist. Kataplasmen von Leinsamen und Brodkrume haben den doppelten Nutzen, dass sie den Krampf abkürzen und zugleich die Schleim- haut der Mund- und Rachenhöhle, der Zunge durch den Dampf, den sie verdunsten , vor allzugrosser Trockenheit bewahren. Warme Bäder, in welchen man die Kranke Stundenlang sitzen lässt, Auftröpfeln von Aether auf die Magengrube haben zuweilen den Krampf gelöset. Hier J sollte der Magnetismus sich kräftig zeigen, aber er hat meiner Hoffnung nicht entsprochen.

253.

IDer rheumatische Tetanus kommt beim Menschen äus- *erst selten vor: plötzliche Erkältung bei stark schwitzen- dem Körper kann ihn allein erregen. Eine epileptische Frau fiel öfter in diesen Trismus , der sich nie anders lösste , als durch allgemeine Convulsionen. Eigentlich ge- hört seine genauere Bezeichnung nicht hierher , wo von Krankheiten des Gehirns gehandelt wird, allein wegen der Möglichkeit der Verwechselung mit der folgenden Pf Art, wegen der Seltenheit und wegen der grossen Gefahr

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muss seiner gedacht werden. Schon die Gelegenheitsur- Bache macht ihn kenntlich , zweitens der Schmerz ^ denn der Kranke klagt über bedeutende Schmerzen des ganzen Rückens und Halses ; endlich das gleichzeitige Eintreten des Trismus mit dem Tetanus unterscheidet ihn. Fehlt der Trismus, so ist auch keine Gefahr; dann ist die Krankheit nichts als Lumbago mit caput obstipum rheu- maticum verbunden, und Dampfbäder, in Ermanglung der- selben warme Bäder, Vesicatorien längs des Rückgraths, Opium mit Kampher , besonders der letzte , beweisen sich wirksam. Doch beim Tetanus genügt diese Behandlung nicht: man muss sofort Scarificationen längs des ganzen Rückgraths machen, aber durchaus keine allgemeinen Aderlässe. Den Schweiss muss man befördern , aber dazu lieber heissen Thee mit Essig trinken lassen , als erhitzen- de Mittel anwenden. Nach dem dritten Tage , wenn trotz der Schweisse keine Besserung erfolgen will , beruht alles Heil auf der Anwendung des Kamphers in den stärksten Gaben: bleibt der Urin des Kranken auch dabei bleich

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und wässerig, so stirbt er; wird aber der Urin trübe oder lässt er einen rothen Bodensatz fallen , so geneset der Kranke. Im Anfang kann man Brechmittel reichen, wenn auch keine Spur gastrischer Symptome da ist: sie helfen schnell, wenn der Tetanus blos im Beginnen ist, leisten aber keine Hülfe , wenn er schon völlig sieh ausgebii- det hat*

254.

Der traumatische Tetanus ist zwar genau genommen auch keine Krankheit des Gehirns , sondern des Rücken- marks, allein dies ist zu nahe mit dem Gehirn verwandt, als dass er nicht hier seine Stelle finden sollte. Er ist weit häufiger, als der rheumatische. Nie erscheint der Tetanus allein, nie zuerst, sondern es geht ihm allemal Trismus voraus. Der Kranke hat nur sehr massige Schmer- zen im Nacken, keine heftige Empfindungen; selbst die

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Wunde, die ihn veranlasst; schmerzt nicht, entzündet sich auch nicht stärker. Es geht ihm bei Erwachsenen ein unwillkürliches Blinzeln der Augen (nictitatio) voraus, zuweilen auch heftiger Schüttelfrost , der grosse Aehnlich- keit mit dem des Wechselfiebers hat. Er gesellt sich als Symptom zu Wunden jeder Art , verhält sich aber ver- schieden. Nach grossen Quetschwunden, Amputation, an- dern grossen Operationen sieht man zuerst die Wunde schmerzhaft , dann bleich und schlaff werden ; hierauf folgt Schüttelfrost, der Puls wird hart, klein und plötzlich wird die Bewegung der Unterkiefer sehr beschwerlich, ja ganz unmöglich, ohne Tetanus. Dabei bleibt es denn meh- rentheils : es tritt neuer Schüttelfrost ein, endlich kommt dieser alle Augenblicke und der Kranke stirbt , ehe es zum Tetanus kommen kann. Die Wunde ist dabei trocken , eher kalt als heiss. Nach kleinen Wunden aponeuroti- scher Theile, nach Zerschmetterungen einzelner Glieder, namentlich der Finger und Zehen, vergehen immer meh- rere Tage, ehe Trismus eintritt: ich habe ihn nicht leicht vor dem fünften und niemals nach dem zwölften Tage eiu- troten sehen. Unreine Spitalluft und Sommerwärme be- günstigt ihn , zuweilen so arg , dass man ihn fiir epide- misch zu halten versucht wird. Die Wunde ist trocken, wenig entzündet ; der Kranke fühlt Ziehen in den Masse- teren , die Unterkiefer wird in die Htjhe gezogen , endlich ganz unbeweglich. Den folgenden Tag geht das Ziehen in den Nacken über, der ganze Rücken wird steif, die Extre- mitäten noch nicht. Endlich werden auch die Füsse steif, nach hinten gebogen; dann wird er plötzlich nach vorne gebogen; der Kranke bleibt bei vollem Bewusstsein und «ein Puls ist fürchterlich gross und hart. Lässt man in diesem Zustand zur Ader , so erfolgt der Tod auf der Stelle. Endlich wechselt das Vor- und Rückwärtsbeugen ein Paarmal der Kranke streckt sich aus und verschei- det. Anders ist der Verlauf bei neugebornen Kindern, die entweder zu früh zur Welt kommen, als dass sie saugen

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könnten, wo es dann keiner Wunde bedarf, sondern der Lufteindruck auf die Haut, die noch nicht fähig ist, sie zu ertragen, die Wunde ersetzt, oder die bei der Geburt, wenn auch nur unbedeutend , gequetscht und verletzt wor- den sind. Bei diesen zeigt sich blos Trismus und sie ster- ben, ohne dass man Tetanus wahrnimmt. In den tropi- schen Regionen ist die Neigung zum Tetanus so gross , dass schon das Abschneiden der Nabelschnur hinreicht, den Kindern den Tod zu geben: man muss sie daher erst völ- lig erkalten und absterben lassen , ehe man sie unterbindet und durchschneidet (ein Verfahren, das auch in Europa sehr rathsam ist). Zuweilen sind die Wunden, die den Tetanus machen, so unbedeutend, dass der Kranke be- hauptet, gar keine zu haben ; eine leichte Quetschung ei- nes Fingers, ein Splitter, in den Fuss getreten und längst wieder herausgezogen, kann ihn veranlassen. Ich sah ihn bei einem Offleier entstehen, der gar keine Wrunde hatte; eine Kugel hatte an den Absatz des Stiefels so ange- schlagen , dass nicht einmal das Leder zerrisssen , sondern die Ferse blos leicht gequetscht war, was sogar dem Kran- ken sehr wohl zuliess, zu gehen.

255.

Wenn man die Leichname an Starrkrampf verstorbe- ner untersucht, findet man die Membranen, die das Rü- ckenmark, besonders in den Halswirbeln, umschliessen, geröthet, wie sammtartig, eingespritzt , das Rückenmark selbst ebenfalls geröthet, doch weniger, als die Bedeckun- gen desselben. Folglich ist die nächste Ursache dieses fürchterlichen Uebels, dass die Entzündung, statt in der Wunde zu bleiben, in die Hüllen des Rückenmarks, na- mentlich in die Fortsetzung der harten Hirnhaut übergeht. Im Schädel findet man alles normal und nirgends die ge- ringste Spur von Entzündung. Wrie diese Uebertragung durch unreine Luft, durch Sommerhitze befördert werden, wie sie am leichtesten dann entstehen könne, wenn apo-

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neurotische Theile verletzt sind, ist allenfalls begreiflich. Nämlich das ganze System der aponeurotischen Häute er- krankt und die Entzündung tritt an der das Rückenmark cinschlies8enden harten Hirnhaut stärker hervor , als an allen andern, selbst an der Wunde, ganz analog der ge- wöhnlichen Erscheinung beiin Rheumatismus, wo sie eben- falls wandert. Warum aber diese Uebertragung bei Wun- den gerade nach dem Rückenmark geht und nicht , wie beim Rheumatismus, von einer Aponeurose der Extremi- täten auf die andere , das weiss ich nicht zu beantworten. Und warum besonders bei Neugebornen diese Uebertragung so äusserst leicht geschieht, ist ebenfalls unbeantwortlich: geschieht es vielleicht, weil die Vitalität dieses Theils de* Systems der Flechsenhäute die höchste im ganzen System ist, um so mehr, je weniger das Kind volle Reife hat? Die Bedingungen der Erscheinung des traumatischen Tris- mus sind also: a) es muss eine aponeurotische Haut ver- letzt sein, b) Das ganze System der Aponeurosen musst deshalb erkranken, c) Die aponeurotische Hülle des Rü- ckenmarks muss am stärksten erkranken und sich entzün- den. d) Die verwundete Stelle muss deswegen nicht ent- zündet sein. Ist sie es, eitert die Wunde gut, so entsteht dieser Metaschematismus nie. Bei warmer Luft ist das gesammte Aponeurosensystem mehr geneigt zu erkranken, als bei kalter, und in unreiner Luft verliert die Wunde zu viel an Vitalität , um lebhaft entzündet zu bleiben.

Beiläufig erlaube ich mir die Bemerkung , dass man neuerdings von Myelitis häufig gesprochen hat, wo keine ist. Entzündung des Rückenmarks selbst ist selten ; ge- schieht sie , so verläuft sie chronisch und ist nur an der immer zunehmenden Lähmung zu erkennen. Ist die pia des Rückenmarks entzündet, so entstehen Exsudationen, blutige oder seröse, die man häufig in Leichnamen findet; der Fall ist immer und ohne Ausnahme tödtlich und wenn uns in einer Krankheit, die gar nicht das Ansehen hatte, als würde sie mit dem Leben enden, der Tod überrascht.

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so finden wir gewöhnlich solches Exsudat: wir dürfen «ach herausgenommenem Gehirn nur das Rückgrath des Leichnams senken, um sogleich die Todesursache ßehr reichlich auslliessen zu sehen. Ist sie dann entzündet, so entsteht Tetanus. Andere Formen der Myelitis giebt es nicht.

256. ' V

Wie äusserst traurig die Prognose beim Wundstarr- krampf sei, weiss die Welt: ich habe zwar häufig von glücklichen Heilungen desselben gelesen , aber sie sehr selten gelingen sehen, zumal in Feldlazarethen , aus denen die unreine Luft zu verbannen unmöglich ist. Bei Neu- gebornen halte ich vollends den Tetanus für absolut tödt- lich; man kann ihn allenfalls verhüten, aber gewiss nicht heben, wenn er einmal da ist. Unreife Kinder muss man nicht dem Eindruck der Luft aussetzen; die ganze Haut- fläche wirkt, wie eine Wunde. Sobald sie daher mit aller Vorsicht gebadet sind, muss man sie in gewärmte Wolle legen; dadurch wird die Haut getrocknet und der Ein- druck der Luft gemildert. Saugen können sie nicht; man muss ihnen also warme Muttermilch mit dem Löffel ein-

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flössen. Durch recht beharrliche Vorsicht bei solchem Verfahren gelingt cs zuweilen, den Tetanus abzuhalten und das schwache Leben zu retten. Auch ist es zweck- mässig, die Haut des Kindes mit warmem Oel zu bestrei- chen, ehe es in Wolle gelegt wird. Quetschwunden, das caput succedaneum, wenn es bedeutend geschwollen ist, müssen mit aromatischen Pflanzenaufgüssen gebrüht wer- den: man empfiehlt dazu 'vornehmlich Arnicablüthen, mit Wasser und einem kleinen Zusatz von Essig infundirt. Den Totanus bei Wunden Erwachsener verhütet alles, wai die Wunde in lebhafter Entzündung und guter Eiterung er- hält. Erbleicht die Wunde , sieht man den Kranken mit den Augen blinzeln, so ist das beste, was man thun kann, mit stark reizenden Mitteln zu verbinden. Allein sobald

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der Trismus beginnt, muss ihm aus allen Kräften entge-

Igen gearbeitet werden. Die vielerlei Heilversuche lassen sich auf drei Hauptarten zuriickführeu : &) auf die anti- phlogistische Heilart ; b) auf die Anwendung des Queck- silbers; c) auf den Gebrauch des Opiums. Die Erfahrung entscheidet, dass alle drei sehr selten gelingen , die anti- phlogistische Heilart am wenigsten , die Opiumbehandlung noch am meisten, dass die ersten und letzten auf Neu- geborne nicht anwendbar sind, sondern nur die zweite, die aber nichts hilft, dass uns folglich bis jetzt die wahre Heilart unbekannt ist. Doch wollen wir die drei üblichen Heilarteu zu prüfen versuchen.

^ .... 3*r. 2f>7.

Das antiphlogistische Verfahren hat für sich, dass die Krankheit von einer Wunde, folglich von einer topischen Entzündung , ausgeht, dass die Obduction örtliche Entzün- dung der Rückenmarksmembran sichtbar nachweist, das« in sehr vielen Fällen der Kranke sehr bei Kräften und sein Puls ungeheuer hart, gross und voll ist. Der Neu- gebornen nicht zu gedenken, so verhält sich dies zwar nicht so bei denen , die grosse Fleischwunden haben und in Schüttelfrost fallen , denn bei ihnen wird der Puls oft klein genug, aber bei denen, die durch Verwundung apo- neurotischer Theile in Tetanus fallen, sehen wir es ge- wöhnlich. Nach der jetzt gewöhnlichen Art zu raisonniren muss alles, was Entzündung ist, entzündungswidrig curirt werden , aber entzündungswidrig ist nichts , als was schwächt, besonders Blutvergiessen. Folglich muss man bei Trismus und Tetanus Aderlässen. Die Erfahrung aber lehrt , dass ausser der gänzlichen Unanw endbarkeit dieses Verfahrens bei Neugebornen das Aderlass im Anfinge des Trismus den Tetanus, folglich dem Tod noch einmal so . schnell herbeiführt und dass , wenn man bei schon ausge- bildetem Tetanus Ader lässt, gewöhnlich kaum die Opera- tion vollzogen ist, als der Kranke schon agonisirt. Man

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tarn» daher den Aerzten nicht vorwerfen, dass sie 211 we- nig Blut weggelassen und blos deshalb den Kranken nicht gerettet haben; sie konnten nicht mehr ablassen, da der Kranke gleich nach der ersten Probe todt war. Trotz die- ser Erfahrung haben die Aerzte , durch den Schein ver- führt, immer wieder das tödtliche Experiment begonnen lind immer mit gleichem Erfolg. Aber alle Entzündungen aponeurotisclier Häute vertragen das Blutlassen nicht, wie jeder Rheumatismus, wie die Gicht, wie die Lustseuche beweist und bei Gicht und Rheumatismus kann ein ver- wegenes Aderlass eben so tödtliche Folgen haben, als beim Tetanus. Wie viele Menschen sind nicht schon ankylo- tisch worden, weil die Saalbader, die sich für Aerzte aus- gaben, ihnen an ein rheumatisch geschwollenes Gelenk, namentlich ans Kniee , Blutegel ansetzten! Wie viele, die Erysipelas hatten , sind schon durch Aderlass ermordet

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worden, und doch ist dies eine Entzündung der Haut. So lange die Aerzte bei jeder Entzündung an schwächenden Heilapparat und Blutvergiessen denken , haben wir noch keine Pathologie, viel weniger Therapie.

258.

Den Gebrauch des Quecksilbers in Entzündungen ver- danken wir zuerst der blossen Empirie ; die englischen Aerzte sahen die ostindischen, die sie mit europäischem Dünkel verachteten, solche Kranke mit Quecksilber heilen, die sie mit der Aderlasslanzette ermordeten und hatten so viel Verstand und Mässigung, dass sie es den ostindischen Collegen nachthaten. Rasoris Theorie vom Contrastimulus brachte den Quecksilbergebrauch in Entzündungen noch mehr empor und der sehr glückliche Erfolg übertraf alle Erwartung. Natürlich, dass man es auch im Tetanus ver- suchte. Liest man die Beobachtungen , die gedruckt wor- den sind, so hat es nicht an günstigen Erfolgen gefehlt: dies Mittel hat noch den Vorzug , dass es selbst bei Neu- gebornen eben so anwendbar ist, als bei Erwachsenen.

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Ueber die Art der Anwendung sind die Stimmen getheilt: einige empfehlen blos die graue Salbe, andere Kalomel in grossen, andere in kleinen, oft wiederholten Gaben, an- dere versichern vom Sublimat grosses Heil gesehen zu ha- ben. Sublimat kann wohl unmöglich je ira Tetanus pas- sen, denn überall, wo Entzündung ist, wirkt kein Queck- silberpräparat schlechter , als dieses. Bei Neugebornen , die noch nicht zur völligen Reife gediehen sind, passt das Quecksilber nie , denn es vermindert die Vitalität und das Kind geht wegen Mangel derselben unter ; auch weiss ich nicht, dass es je hier versucht worden wäre. Dagegen, wenn nach Quetschwunden reifer Früchte Tetanus ent- steht, hat man graue Salbe in die Wangen, das Rück- grath, den Kopf eingerieben und innerlich Kalomel ge- reicht, aber ohne allen Nutzen; die Kinder sterben trotz des Mittels eben so , als sie ausserdem gestorben wären. Da man bei Fortsetzung der \ ersuche nichts verliert, in- dem nichts schlimmeres folgen kann, als der Tod, der ohne sie auch gewiss ist , so wäre es wohl der Mühe werth , sich nicht abschrecken zu lassen : vielleicht gelingt es, eine Modification der Anwendung zu linden, die die armen Opfer rettet. Bei Erwachsenen, die nach grossen Am- putations- oder Quetschwunden Frost und alsdann Trismus bekommen, zweifle ich sehr, dass jemals vom Quecksilber nützlicher Gebrauch gemacht werden könne: hier kommt alles auf Erhebung der aufs äusserste gesunkenen Vitalität an. Doch gestehe ich, dass ich unter diesen Umständen niemals einen Menschen vom Tode habe retten sehen. Anders ist beim Trismus von aponeurotischen Verletzun- gen, bei welchen der Kranke volle Kraft hat. Sind jemals Quecksilbercuren wirksam gewesen , so waren sie es gewiss bei solchen Kranken. Zwar habe ich keine glücklichen Erfolge gesehen, aber der Versuch hat die Wahrschein- lichkeit für sich, da es nur darauf ankommt, die Rücken- markshaut zu befreien.

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259.

Von der Behandlung durch Opium allein habe ich günstigen Erfolg gesehen, wenn sie zeitig genug und nach- drücklich genug angewendet wurde. Die Kranken vertra- gen es in unglaublichen Gaben, ohne dass die mindeste Narkose entsteht: ich habe es alle Stunden zu fünf Gran reichen sehen, ohne eine Spur von Betäubung, und nach- dem der Tetanus vorüber war, bewirkte ein Gran Opium bedeutende Narkose bei demselben Kranken, der vorher hundert und zwanzig Gran in 24 Stunden ohne solche ge- nommen hatte. Schon diese Eigentümlichkeit der Wir- kung dieses Mittels lässt hoffen, dass es das rechte sei: sie erinnert an die des Quecksilbers in Pneumonien, das auch nicht eher Salivationsspuren hervorbringt, als bis die Entzündung gehoben ist. Damit wird der Gebrauch eines Vesicators vom Nacken an bis zu den Lendenwirbeln ver- bunden, das in starker Eiterung erhalten werden muss. Wenn ich wieder Gelegenheit haben sollte, den Trismus zu behandeln, werde ich sogleich leichte Einschnitte in die Haut vom Nacken bis zu den Lendenwirbeln machen und über diese einen Teig von Kantharidenpulver legen, in der Absicht , durch die äussere Entzündung die innere aufs kräftigste zu mindern.

Wie kann aber das Opium diese Entzündung aufheben? Es ist Thatsache , dass es geschieht; die Erklärung ist dem Verstand überlassen. Man muss erwägen, dass sie in ei- ner aponeurotischen Membran statt hat, dass sie nicht geneigt ist, in Exsudation, noch weniger in Eiterung zu enden, wohl aber das Rückenmark, dessen Substanz nicht mit entzündet ist, so reizt, dass dieses die bekannten Muskelerscheinungen veranlasst. Während das Gehirn frei bleibt, wird der Leitungsapparat zwischen Hirn und Mus- keln in seinem Iiaupttheil ergriffen, aber in seiner Thä- tigkeit gehemmt. Diese Folge kann nur auf zweifache Art jaufgehoben werden, entweder durch Hebung der Entzün^

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düng oder dadurch, dass man die Vegetation der Nerven- masse, die in höchste Gefahr kommt, mit Gewalt so lange unterhält, bis die Entzündung von selbst nachlässt. Ich glaube nicht, dass das Opium geschickt ist, die Entzün- dung zu mindern , weshalb es auch niemals schnelle Bes- serung hervorbringt, sondern dass es, wie immer, als das grösste aller Beförderungsmittel der Nervenvegetation wirkt und diese bis über die Perioden hinaus unterhält, in wel- cher die Entzündung der Hölle sie in Gefahr des Aufhö- rens bringt. Wer eine bessere Erklärung weiss, der theile sie mit !

Cap. xvm. Von der Apoplexie und

Lähmung.

260.

Der Form der äusseren Erscheinung nach mit epilep- tischen Zuckungen ganz nahe verwandt, obwohl in Folgen und Ursachen sehr von ihnen verschieden ist di e Apoplexie. Es ist sehr schwer, ihr Bild zu zeichnen, da es oft verschieden ist: ich will die Hauptlinien entwerfen. Zuweilen werden ganz gesund scheinende Menschen eben so, wie bei der Epi- lepsie, plötzlich von Zuckungen ergriffen: die Augen stehen starr, der offene Mund schäumt, das Gesicht wird ver- zerrt , die Füsse zittern ; nach kürzerer oder längerer Dauer der Convulsionen tritt Ruhe , scheinbarer Schlaf ein, aber bei demselben ist der Athem schnarchend, langsam, der Puls bald sehr klein, bald heftig, höchst ungleich, die Wärme natürlich, des Gesicht fast immer bleich, die Pupille eng, unveränderlich; der Kranke hört nicht, sieht nicht, erwacht nicht; Koth und Harn sind unwillkür- lich ergossen; die Glieder fallen, wie leblos nieder, wenn jnan eie auf hebt. Erfolgt nicht der Tod, so erwacht

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zwar endlich der Kranke, lallt aber, kann nicht sprechen * noch weniger ein Glied bewegen. Fast allmählig kehrt die Bewegung in eine Hand zurück, aber höchst schwach; eine Körperhälfte erholt sich eher als die andere ; der Mund steht schief nach der Seite hingezogen, welche sich am ersten erholt. Es vergeht geraume Zeit, ehe sich auch die Lähmung der andern Seite mindert ; endlich ge- lingt aber auch dies und nur sehr schwache Spuren der Krankheit bleiben übrig. Namentlich bleibt der Kranke vergesslicher, als er sonst war; er hat in seinem Beneh- men etwas seltsames, was ihm sonst fremd war ; zuckt zu- weilen mit den Gesichtsmuskeln, hat einen schwerfällige- ren Gang. Je mehr solcher Reste übrig bleiben, desto gewisser steht bald ein neuer Anfall bevor.

Oder der Kranke wird unversehens von Schwindel be~

t i *

fallen ; in diesem delirirt er etwas , will etwas , kann eg aber nicht angeben, viel weniger ausführen. Das Gesicht wird roth, die Pulse klopfen heftig; versucht er zu gehen, so hebt er die Beine, als wenn er durch Wasser wadete und wankt, wie ein Trunkener. Fndlich fällt er; der Mund schäumt wenig , die Augen stehen offen ; eine Seite des Gesichts ist krampfig zusammengezogen , die andere nicht. Er versucht allerlei Bewegungen , kann sie aber nicht vollenden ; allmählig schläft er ein, der Athem wird langsam und schnarchend, der Puls gross, voll, hart. So liegt er lange, endlich erwacht er, will sprechen, stam- melt, weint, bewegt die Glieder der einen Körperhälfte höchst unvollkommen, die der anderen etwas besser, be- sieht den gelähmten Arm und weint aufs neue ; der Aus- druck der Trauer im verzogenen Gesicht ist höchst rüh- rend. Der Mund bleibt schief, und die Lähmung der ge- troffenen Seite wird immer totaler. Nach einigen Tagen längstens ist sie cornplett.

Oder der Kranke stürzt plötzlich unter Convulsionen , besonders des Gesichts , zusammen ; das Gesicht wird bleich, leichenähnlich, die Respiration ungleich ^ der Pula

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sehr klein, wankend, ungleich; es streckt sich eil Paar- mal nach hinten und stirbt, oft so schnell dass man kaum begreift , wie dies zugegangen. Wahre sideratio der Alten, oder Apoplexia fulminans.

261.

Dass diese drei verschiedenen Bilder nicht auf alle Fälle passen, weiss jeder; die Hauptzüge, Convulsionen, Bewusstlosigkeit, Hemmung der Bewegung, unvollkommene

! Rückkehr derselben, oder schneller Tod sind in allen. Der Tod erfolgt, wenn die Lähmung sich den Respira- tionsmuskeln mittheilt ; das genauere hierüber hat Bichat mit meisterlicher Feder gezeichnet. Wie die Gestalt der Paroxysmen , so sind auch die demselben vorangehenden Umstände höchst verschieden. Zuweilen hat die Krank- heit nicht den geringsten Vorboten. Schrecken, Freude, Zorn, kann den gesündesten auf der Stelle apoplektisch tödten, so schnell, dass man nicht einmal Zuckungen be- merkt. Merkwürdig ist , dass dies der blosse Wunsch zu

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sterben vermag : ich habe Selbstmordversuche gesehen, die so schlecht ausgeführt w aren , dass daran niemand hätte sterben können, und doch war der Tod erfolgt. So hatte sich ein Weib ein baumwollenes Halstuch blos um den

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Hals geschlungen, ohne es zu knüpfen und an eine Thüre angebunden ; sie sass ; die Thüre war aufgeklinkt und sie lehnte daran mit dem Rücken , aber sie war und blieb todt. Sehr oft erfolgt der Tod apoplektisch in Krankhei- ten, z. B. im Hydrocephalus, im Scharlach, im Wechsel- fieber. Epilepsie, Tetanus, Manie, alle Nervenkrankhei- ten tödten nicht anders als apoplektisch , aber auch ganz andere Fieber, wo man es nicht erwarten sollte; dann ist die Apoplexie symptomatisch, aber der letzte Act der Krankheit. Doch auch idiopathischen Apoplexien gehen manchmal Vorboten vorher, namentlich Schwindel, Ueb- lichkeit, Erbrechen, Frost. Sehr viele gewaltsame Todes- arten erfolgen apoplejktisch , als die Vergiftung durch

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Blausäure , durch Kohlengas , durch die Ausdünstung fri- schen Kalks, ferner das Ertrinken; die Obduction zeigt oft genug, dass der Ertrunkene nicht erstickt, sondern apoplektisch gestorben ist. Eben so die Gehenkten sterben häufig so, doch irrt man in der Annahme, dass durch den Druck auf die Jugularvenen der Tod immer apoplektisch erfolgen müsse, wenn nicht das Ersticken schneller wirkt: die Gehenkten , die wieder zu sich kommen, beweisen den Irrthum. Ich selbst sah einen Bauer, der im löblichen Vorsatze, sich die Kehle abzusehneiden , von der Frau ge- stört worden war; die Frau war gegangen , die Nachbarn zu rufen und er hatte diesen Augenblick des Alleinseins benutzt, sich zu hängen, aber der Strick lag über der ßchildknorpelwunde und er athmete recht gut. Die Nach- barn Hessen ihn hängen; da er endlich abgenommen wurde, befand er sich ganz wohl.

262.

Die Folgen des Paroxysmus sind höchst verschieden. Dass ihn der Tod sehr häufig begleite oder ihm folge , ist bekannt; bleibt aber der Kranke leben, so kehrt er manch- mal sehr bald wieder zum Bewusstsein zurück , aber nicht so schnell zum Gebrauch seiner Geistes- und Muskelkräfte, Doch öfter dauert lethargischer Zustand lange fort; der Kranke liegt schnarchend in unerwecklichem Schlafe. Zu- weilen tritt wahrer Carus ein ; alle Sinnlichkeit ist völlig erloschen, aber Puls und Athem allein währen noch einige Tage fort, bis endlich der Athem aussetzt, der Puls sinkt, ungleich wird und leichte Convulsion das Leben endet. Oder das Bewusstsein kehrt zurück, doch bleibt Lähmung übrig, der Mund steht schief, der Kranke hat die Sprach- fähigkeit zum Tbeil verloren und zugleich manche geistige Fähigkeiten» Hierin zeigen sich oft seltsame Erscheinun- gen. Zuweilen delirirt der Kranke anhaltend fort; oder er kann zwar sprechen, aber gewisse Arten ?on Worten nicht, oder er hat für ganze Begriifireiken, als Zahlen

367

oder Namen, gar keine Erinnerung mehr, oder er wieder- holt immer einerlei YYort, das nach dem Ion, den er ihm giebt, sehr verschiedene Begriffe ausdrückt. Manche keh- ren jedoch 2u vollem Bewusstsein und ziemlicher Herstel- lung ihrer psychischen Kräfte zurück, aber ihre Muskeln bleiben gelähmt, fast immer nur die einer Körperhälfte (Hemiplegie), sehr selten die beider Füsse (Paraplegie).

Die Lähmung ist mehr oder weniger vollständig.

\

263.

Diese Krankheit kann jeden Menschen zu jeder Le- bensperiode befallen, doch ist der idiopathische Schlag- fluss (zum Unterschied von apoplektischem Ausgang ande- rer Krankheiten und vom Schlagfluss nach Vergiftung oder Erdrosselung so genannt) dem männlichen Geschlecht im Ganzen gefährlicher als dem weiblichen, und dem ersten Kindesalter, dann dem späteren Lebensalter vom 50sten Jahre an gemeiner, als jüngeren Menschen, vom Ende des ersten Lebensjahres bis zum fünfzigsten. Auch kommt er häufiger zur Zeit der beiden Solstitien , als zu andern Jahreszeiten vor, wovon wir den Grund nicht kennen. Er ist manchmal so häufig , dass man ihn für epidemisch hält, doch sind sicher dabei blose Localumstände wirksam, da eine selche Epidemie sich nie über ein Land erstreckt, sondern immer nur auf die Bewohner einer einzelnen Stadt. Menschen , die einmal schlagflüssig waren , sind stets Rückfällen unterworfen. Auch für erblich hat man ihn gehalten ; in sofern ein eigenthümlicher Körperbau , breite Schulteru, kurzer Hals, starker Kopf, dazu mehr als ein anderer disponirt und die Körperform wirklich erblich ist, kann man diese Annahme rechtfertigen. Es giebt Familien, in denen mehrere Genei ationen durch alle Mitglieder in einem gewissen Lebensalter schlagflüssig und gelähmt worden sind.

363

264.

Ehe wir zur Erwägung der Ursachen dieser Krank- heit fortschreiten können, müssen wir ihrer Ilaupteinthei- lung gedenken , da die verschiedenen Arten ganz verschie- dene Ursachen haben. Gewöhnlich unterscheidet man drei Arten, den Blutschlag, den Nervenschlag und dann spricht man noch von einem serösen Schlagfluss. Bei dem ersten steckt man sich aber die Gränzen zu eng , wenn man sich weiter nichts darunter denkt, als Bluterguss innerhalb der Schädelhöhle ; es kann auch Erguss von Eiter , von Serum ins Enkephalon diese Art von Apoplexie veranlassen. Nie erfolgt sie; ohne dass sie sich vorher ankündigt; sehr oft gehen ihr bestimmte Krankheitszufälle voraus. Und den- noch ist sie vielleicht am seltensten unter den drei Arten der Apoplexie die Ursache des schlagflüssigen Ausgangs fieberhafter Krankheiten. Die Obduction könnte sie be- stimmt nachweiseil, allein es giebt einen Fall, in dem sie es nicht kann, wenn nämlich Hydatiden im Gehirn waren, die platzten. Dann findet man wohl das ergossene Serum, aber die feine Membran der geplatzten Hydatide schwer- lich. In dieser Art von Apoplexie ist die Substanz des Hirns völlig gesund, es sei denn, dass irgendwo sich ein Abscess verborgen hatte, dessen Hülle platzte und ihr Ei- ter ausschüttetc , oder dass eine vorbeachriebene Wasser- blase da war. Beide können vorhanden sein , ohne das« der Kranke sie bemerkt, allein ob sie bis zum Platzen kommen können , ohne Zufälle zu erregen , bezweifle ich. Bei weitem häufiger, als jede andere Ursache dieser Apo- plexie ist es Bluterguss in das Gehirn ; die Stellen , wo das Blut austritt, sind entweder die obere Fläche des gros- sen Gehirns , die Gyren , oder die gestreiften Körper, odeT die Schädelbasis oder der hintere Theil eines Seitenven- trikels. Der Verlauf ist dann folgender: Es zeigen sich die deutlichsten Merkmale von Congestionen nach dem Kopfe, Uöthe des Gesichts, Schwindel, Ohrenbrausen ,

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Lichtschein im geschlossenen Auge, Erscheinung rother Massen, Verdunkelung des Gesicht« nach dem Erwachen aus dem Schlaf. Der Kranke fühlt sich schläfrig, schläft auch , aber unruhig und ängstlich. Der Puls ist langsam , gross, der Atliern iin Wachen langsam, im Schlafe schwer, schnarchend. Der Kranke ist heftig, lebhaft, bewegt sich gern , wird aber schnell erhitzt und kann keine Anstren- gung aushalten; dabei ist er misslaunig. Mehrentheils hat der Kranke schon lange an Hämorrhoiden und damit zusammenhängenden gastrischen Erscheinungen mancher Art gelitten , auch wohl an den damit verwandten der Gicht. Wenn in Fieberkrankheiten der Blutschlag die Scene schliesst, so sind gewöhnlich Congestionssymptome nach dem Kopf und den Lungen die Verkündiger. Bei Kindern, die jünger als zwei Jahre sind, werden wir die Vorboten der Apoplexie kaum gewahr : sie gehört aber seltener einer andern Art an, als dieser; Neugeborne, die apoplektisch «terbcn, sterben allemal an Blutergiessungen* Hydatiden im Gehirn erkennt man selten, doch erre- gen sie Schwindel , Gedächtnissschwäche , momentane Be- täubung; der Kranke befindet sich anders, verhält sich gegen seine Umgebungen anders, als sonst. Zuweilen fühlt er sich nach einer Seite plötzlich hingezogen und macht Bewegungen , deren Grund man nicht begreift , die etwa« lächerliches haben und an ihm sehr auffallen, da man sie nicht von ihm gewohnt ist. Der Schlaf ist länger, als «onst, aber nach demselben fühlt sich der Kranke matter, als zuvor* Alle diese Symptome sind freilich unbe- stimmt, es würde aber auch zu nicht« helfen, wenn sie ganz bestimmt wären, da es unmöglich ist, das Uebel zu heben. Eitersammlungen im Gehirn setzen nothwendig Entzündung voraus , allein das Eiter kann sich hier so langsam vermehren, dass der Kranke lange vergessen hat, wenn zuerst entstanden war. Die Erscheinungen, wel- che es hervorbringt, sind äusserst unbestimmt und ver- schieden ; es ist erstaunens würdig , das« man zuweilen

24

370

grosse Eitermassen nach dem Tode antrifft, ton welchen man im Leben nicht die geringste Spur erkannte. Dem Paroxysmus geht immer Angst und Schwindel voraus. Die Convulsionen , die ihn begleiten, sind kurz und unbedeu- ' tend, aber allemal bleibt der Mund schief stehen. Die Betäubung nach dem Paroxysmus ist länger oder kürzer im Verhältnis zur Menge und zur Stellendes Extravasats. Jedesmal folgt auf den Blutschlag Lähmung, aber sie ist nicht unmittelbar nach dem Paroxysmus am stärksten, son- dern sie verschlimmert sich allmählig in den ersten 48 Stunden ; bei weitem in den meisten Fällen zeigt sie sich als Hemiplegie , oft auch als Amnesie , Manie oder Blöd- sinn ; im ersten und letzten Falle ist allemal die Sprache unvollkommen, aber bei der Hemiplegie und der Manie nicht immer.

265.

Stirbt der Kranke, so finden wir fast immer im Ge- hirn die nachweislichen Spuren des Anfalls, aber dabei SMüssen wir uns wohl hüten , dass wir nicht Spuren ganz anderer Desorganisationen mit dem Schlagflusse in Verbin- dung bringen. Verknöcherungen in der Falx, im Tento- rium, in andern Stellen der harten Hirnhaut, kleine Stea- tomen, steinige Concremente in der Zirbeldrüse, Wasser in den Seitenventrikeln , Gefässeanfüllungen in der pia kommen unzählig oft vor, wo an gar keinen Blutschlag zu denken ist ; wenn aber ein Mensch apoplektisch gestorben ist, gehen wir mit dem Vorurtheil an die Obduction, das» wir durchaus im Gehirn die Todesursache finden müssen und erklären frisch weg alles pathologische , was wir da finden, für die Todesursache. Ich glaube nicht einmal, dass wir berechtigt sind, die sichtbare Ausdehnung von Blutgefässen in der Marksubstanz dafür anzuerkennen ; sie kommt bei Fiebertodten häufig vor, die gewiss nicht apo- plektisch gestorben sind und fehlt niemals in Leichen, die den Erstickungstod starben. Gewisse Spuren des Blut-

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Schlags sind blutige Extravasate, entweder »wischen den Gyren, oder im, oder auf dem gestreiften Körper, oder in der Schädelbasis, oder im hinteren Horn des einen Seitenventrikels, ferner Eitererguss. Ungewisse Spuren sind grosse Anfüllung aller Hirngefässe ohne Extravasat, Serumanhäufungen in Einem Seitenventrikel. Alle andere Desorganisationen gehören nicht zu den Beweisen des Blut- schlags; ja vielen sieht man sogleich an, dass sie langsaT» entstanden und sehr allmählig zu der Grösse gelangt sind, in der wir sie finden, als Steatomen, Verknöcherungen, Steinbildungen ; sie können also wohl die Disposition zum Schlagfluss vermehrt, aber nicht den Paroxymus veranlasst haben. Erweichungen einzelner Hirnstellen haben nach meiner Ueberzeugung ganz eine andere Bedeutung. In der Brust, im Unterleibe treffen wir zwar oft auf Krankheits- spuren, allein nichts beweiset, dass sie mit dem Blut- schlag in anderem Verhältniss standen, als in dem dispo- nirender Ursachen.

260.

Ganz anders verhält es sich mit der Nervenapoplexie ; sie hat andere Vorboten, wenn sie deren hat; der Paro- xismus hat ein anderes Ansehen und die Folgen sind an- ders ; die Obduction aber weiset nie die geringste Spur der Todesursache nach* Gleichwohl ist sie die Erschei- nung einer wahren Hirnkrankheit; beim Blutschlag verhält sich das Hirn passiv; es ist eigentlich gesund, wird aber von einer äusseren Gewalt, vom Blute, das es ernähren soll, überschwemmt und unterdrückt. Aber in der Ner- venapoplexie verhält es sich activ ; seine Fähigkeit zur Sensibilität hört entweder ganz und auf einmal , oder nur partiell, auf, oder wird blos plötzlich in so hohem Grade vermindert, dass sie eine Pause macht. Wie dies genau zugehe, wissen wir nicht. Die Fortdauer des Lebens hängt blos davon ab, ob der Hirntheil, welcher der Respiration vorsteht , mit ergriffen wird , oder nicht ; geschieht es , so

24 *

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ist der Tod so schnell da, dass nicht einmal Convulsionen ausbrechen. Respirirt aber der Kranke fort, so brechen deren aus , die ganz die Form der epileptischen haben ; hierauf folgt Lähmung. Nach und nach erwacht der Kranke zur Sinnlichkeit wieder, aber noch nicht zur Bewegung. Sehr allmählig kehrt zuerst der Gebrauch der Sprache zu- rück, noch viel langsamer auch die übrige 31 uskelbewe- gung, doch erreicht sie so wenig als die ganze psychische Kraft des Kranken ihre vorige Stärke. Sehr selten zeigt sich die Lähmung als Hemiplegie, eher als Paraplegie. Der auffallendste Unterschied von der Lähmung nach Blut- schlag ist aber, dass sie bei diesem allmählig zunimmt, dann wieder abnimmt, doch nur bis zu einem gewissen Grade , auf welchem sie stehen bleibt. Beim Nervensclilag aber ist sie unmittelbar nach dem Paroxysmus am stärk- sten, nimmt allmählig ab und verschwindet endlich ganz, obwohl die frühere Energie des Kranken sehr selten zu- rückkehrt. Hat die Nervenapoplexie Vorboten, so sind dies Nervenzufälle , Schwindel ganz anderer Art, als der beim Blutschlag der Kranke glaubt schnell über eine Fläche weg zu gleiten. Der Schlaf ist unruhig oder er schläft gar nicht ; er bemerkt , dass ihm das Gedächtniss den Dienst versagt; die Functionen des Vegetationslebens verhalten sich , wie bei Hysterischen ; schneller Ekel, ohne äusseren Grund, flüchtiger Kopfschmerz, Ziehen im Na- cken, Schmerz im Hinterkopf, blagser, häufiger Urin, kleiner, schneller Puls pflegen wohl dem Anfall voraus- zugehen.

267.

Ursprünglich war es gewiss diese Art der Apoplexie, die von den Aerzten als seröse begriffen wurde ; blos weil man im Leichnam nichts fand, wollte man sich mit der Erklärung helfen, dass zwar keine blutführ enden Gefässe zerplatzt wären, wohl aber sehr feine, kleine, die nur un- gefärbtes Serum führen. Dagegen erhob sich die ärztliche

373

Meinung in der Folge um so mehr, als die Humoralpatho- logen die seröse Apoplexie bis zum lächerlichen miss- brauchten, um zu erklären, wie bald Krätzschärfe , bald Flechtengift, bald die Gicht, bald die Materie eines ge- heilten Fussgeschwürs , kurz Schärfe aller Art, in die se- rösen Gefässe des Hirns gestiegen sei, diese gesprengt oder zerfressen habe und so der Tod erfolgt sei. Wenn Vernunft und Erfahrung dergleichen Absurditäten verwar- fen, war dies recht löblich, allein mit Unrecht bestritt man die Existenz der serösen Apoplexie. Diese ist viel- mehr unbestreitbar eine der häufigsten und die gewöhn- lichste Form, wenn bei acuten Krankheiten das Ende apo- plektisch erfolgt. Sie ist absolut tödtlich und beruht dar- auf, dass seröse Ausschwitzung in den Membranen des Hi rns und seiner Höhlen die Höhe erreicht , bei welcher das Leben nicht fortdauern kann. Da wir auf die serösen Absonderungen in der Schädelhöhle bald besonderes Au- genmerk richten müssen, so werden wir die nähere Be- trachtung der serösen Apoplexie dahin verschieben und uns jetzt begnügen, von den beiden andern Arten zu reden.

268.

Die nächste Ursache des Blutschlags ist also, wie schon erwähnt, Erguss von Blut oder Eiter ins Gehirn, doch glaube ich , dass nicht immer wahrer Erguss dazu nothwendig ist, sondern dass «s zuweilen hinreicht, da« Nerrenleben , die Sensibilität des Gehirns aufzuheben, wenn die Gefässe eine solche Ausdehnung erhalten , dass sie die Marksubstanz in ihrer speciellen Thätigkeit hem- men. Weil aber dieser Grad nur allmählig erreicht wer- den kann , so müssen solchen Anfällen Congestionssympto- me und heftiger Schwindel vorausgellen; die Betäubung selbst ist weniger total und die folgende Lähmung kann allmählig verschwinden : die ganz glücklich vorübergehen- den Anfälle des Blutschlags sind gewiis nur solche. Er- folgt Extravasat , so hängt die Fortdauer des Lebens von

374

dessen Art und Grosse ab. Platzt ein verborgener Abscess im Gehirn, so ist das Leben sicher verloren; es erfolgt Cari^ und der Tod, ebenso wenn das Bluteitravasat gross ist. Kleine Blutquantitäten können resorbirt werden, allein sie machen den Hirntheil, auf dem sie liegen, unwirksam, daher die Lähmung, deren Aeussernng verschieden ist, je nach der speciellen Function des leidenden Hirntheils. Vielleicht gelingt es uns einat, gerade durch den Ver- gleich der Lähmungsart mit der Stelle des Extravasats die Functionen der einzelnen Hirnparthien besser kennen zu lernen, als jetzt. Weil aber die Resorption ausgetretenen Bluts nicht vollständig gelingt, sondern der Cruor endlich eine Pseudomembran bildet, die unauflöslich ist, bleibt auch die Heilung der Lähmung endlich auf einem Punkte stehen , den sie nicht überschreiten kann ; sie ist unvoll- ständig. Man will bemerkt haben , dass Extravasat auf den Gyren die Sprache lähmte, dass aber, wenn es auf den gestreiften Körpern lag, Hemiplegie zurückblieb. Mir haben die Obductionen diese Behauptung nicht immer be- stätigt.

269.

Dass alles, was zu Congestionen nach dem Gehirn disponirt, auch zum Blutschlag disponire, ist sehr klar, folglich der habitus apoplecticus , das Kindesalter , das höhere Alter, Verknöcherungen der Vertebralschlagadern, Ver Schliessungen der Communicationsgefässe zwischen den ainubus und den äusseren Schädelgefässen , Erweiterungen der Gefässe der pia, des Hirns selbst, Missbrauch narko- tischer Dinge, Kopfarbeiten, heftige Muskelbewegung, Zorn, epidemische Einflüsse, die das Blut aus den Gefässen der Haut oder der Schleimhäute nach innen treiben, Krank- heiten aller Art, die Kopfüberfüllung bewirken, ungleiche Gefässthätigkeit , veranlassen sie. Es wäre eben so unmög- lich, als überflüssig, diese disponirenden Ursachen voll- ständig zu nennen. Unter sie gehören wesentlich unter* drückte Secretionen, sie mögei^ natürlich pde? krankhaft

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sein, also auch zurückgetretene Flechten, geheilte Fussge- schwüre u. dgl. und wir haben nicht nöthig, deshalb an Metastasen zu glauben, wie die Humoralpathologen woll- ten. Unterdrückung der Menstruation bewirkt sehr selten Apoplexie, viel eher Blutbrechen, Lungenblutungen; wa- rum? das weiss ich nicht , aber e* ist gut, dass es so ist. Eben so der Druck auf die Gefässe bei der Schwanger- schaft, die Anstrengung während der Geburtsarbeit, be- wirkt sie fast niemals; es wäre interessant zu wissen, wo- durch der weise Schöpfer die Hälfte der Menschheit vor so grosser Gefahr bei Erfüllung ihrer Bestimmung ge- schützt hat. Dagegen unterdrückte Hämorrhoiden bewir- ken sie leicht, auch zurückgetriebene Gichtanfälle. Un- sern Wasserbegiessern sei zugegeben : man kann das Po- dagra auf der Stelle vertreiben , wenn man die •climer- zende Zehe mit kaltem Wasser begiesst, gerade so wie man die Masern durch dasselbe Mittel auf der Stelle aus der Haut wegbringen kann. Nur schade, dass der Patient die Cur nicht über 24 Stunden überlebt ! Wie werden unsere Nachkommen erstaunen, wenn sie erfahren, das« zu unserer Zeit solches Verfahren von Aerzten empfohlen worden ist! Gelegenheitsursachen des Blutschlagflusse« sind alle Ereignisse , die den Rücklauf des Bluts aus dem Kopfe plötzlich hemmen , als mechanische Compression der Jugularvenen ; ferner alles, was den Andrang des Bluts nach dem Kopf schnell steigert, als kohlansaures Gas, allerlei andere Gifte, narkotische Gifte, Opium be- sonders, alle starke Erhitzung. Auch hier ist das Detail der Ursachen überflüssig. Alles , was Erstickung macht, kann aus diesem Grunde auch apoplektisch tödten , wie die Erfahrung tausendmal bewiesen hat.

2T0.

Die nächste Ursache der Nervenapoplexie weiss nie- mand : wie es komme , dass ein sehr gewaltiger Nerven- eindruck mit einemmal die Reizbarkeit des Gehirns vor-

376

nicht«, benennen wir blos mit dem Namen des Gesetzes , dass jeder stärkere Reiz den geringeren aufhebt, folglich ein «ehr starker für alle schwächere unfähig macht, allein damit wissen wir nicht die Art der Veränderung, die durch diesen starken Reiz im Nervensystem vorgeht. Der Blitz tödtet allein auf diese Weise und alles , was an Ge- waltsamkeit des Eindrucks ihm nahe kommt, als die Blau- säure, sehr heftige , plötzlich ausbrechende Leidenschaft, selbst gewisse Krankheitsgifte. Besonders von Pestgift weiss man , dass es so wirken kann : auch das Petechial- gift ist solcher Steigerung seiner Kraft fähig, wenn man besonders Effecten , die davon impraegnirt sind , lange übereinander in verschlossenem Raume liegen lässt und dann öffnet. Disponiren kann zum Nervenschlag alles, was die Vitalität des Gehirns schwächt , also Schlaflosig- keit, Entwöhnung von gewohnten Reizen, daher Gewohn- heitssäufer, die sich bekehren und auf einmal nicht mehr trinken , in grosser Gefahr des Schlagflusses sind ; ferner chronische Nervenkrankheiten aller Art, auch Manie, Epi- lepsie. Zuweilen bleibt sehr zweifelhaft, ob nach Schwä- chung des Nervensystems eine erhitzende Ursache Blut- schlag, oder eine reizende Nervenschlag hervorgebracht habe, z. B. wenn ein Epileptischer schlagflüssig stirbt, wenn ein Mensch unmittelbar nach dem Beischlaf also un- tergeht* Wenn daher Hr. Hofr. Kreystg eine gemischte Apoplexie annimmt, so hat er in so fern völlig recht, ob- wohl genau genommen unmöglich ist, dass die Vitalität des Gehirns zugleich mechanisch und durch höchste Stei- gerung der Sensibilität zu Grunde gehe: beide Arten von Apoplexie sind wesentlich verschieden. Die eine ist Krank- heit der Vegetation , die andere der Sensibilität des Ge- hirns; ob nun wohl beide von einander abhängen, so ist doch nicht wohl denkbar , dass Eine Ursache beide direct zerstöre , sondern vielmehr den Gesetzen des Lebens ge- mäss, dass ihr gemeinschaftlicher Untergang jedesmal nur von einer ausgehe.

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17h

Die Hippokratische Prognose: „eine heftige Jpoplexie heilen , ist unmöglich , eine leichtere , schwer , ist noch heute wahr: die Apoplexie ist einer der gefährlichsten Zu- fälle, die den Menschen treffen können, und oft ist sie absolut tödtlich, ja so schnell, wie der Blitzstrahl, so dass an gar keinen Rettungsversuch zu denken ist. Beson- ders wenn sie im Verlauf fieberhafter Krankheiten aus- bricht, ist sie allemal tödtlich, selbst während der Recon- valescenz, wo sie uns zuweilen um Kranke bringt, über deren Erhaltung wir uns freuten. So bemerkte ich un- ter einem Trupp Reconvalescenten, die ich aus dem Laza- reth zu ihren Corps abgehen lassen wollte, beim Aus- marsch einen , dessen bleiches Gesicht mir auffiel ; ich liess ihn, der schon bewaffnet und bepackt war, aus dem Gliede treten und fünf Schritt hinter demselben fiel er todt zu Boden ; er hatte das Petechialfieber mit Mühe überstanden. Im Verlauf chronischer Krankheiten ist sie nicht so unbedingt tödtlich, z. B. bei Manie tödtet sie nicht immer gleich beim ersten Anfall; bei Hämorrhoidal- übeln, der Gicht, ist sie sogar oft nicht tödtlich , bei Epi- lepsie aber immer. Idiopathische Apoplexien sind entwe- der auf der Stelle tödtlich, oder sie lassen lange, viel- leicht unheilbare Lähmung zurück , oder selbst im aller- glücklichsten Falle hinterlassen sie grosse Disposition zur Wiederkehr, die endlich doch einmal den Tod herbeiführt. In Absicht auf das Lebensalter ist sie Kindern , wenn sie ßie nicht sofort tödtet , am wenigsten gefährlich ; ganz junge Kinder freilich leben selten , wenn sie apoplektisch werden, aber solche, die schon einige Wochen alt sind, überstehen die Folgen meistens vollständig, wenn sie nicht sogleich sterben , auch kommt der Anfall meistens im gan- zen Laufe des Lebens nicht wieder. Erwachsene, die die Mitte des Lebens noch nicht erreicht haben, sterben ent- weder sogleich, oder sie bleiben doch höchst elend und

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bekommen öfters Anfälle , die sie endlich todten. Bei Menschen, die über die Mitte des Lebens hinaus sind, ereignet es sich öfter, dass sie erhalten werden, ob- gleich die Wiederkehr der Anfälle zuletzt auch sie töd- te t. ln Absicht auf die einzelnen Arten ist die seröse Apoplexie , wie wir weiter unten sehen werden , alle- mal absolut tödtlich ; eben so die, bei welcher sich Ei- ter ins Gehirn ergiesst. Aber der Blutschlag kann vor- übergehen, ohne das Leben zu enden und der Nerven- schlag tödtet entweder sogleich , oder , wenn sich der Kranke erholt, kann er ganz genesen. Doch dass der Kranke in Lebensgefahr ist, kann man bei der Apoplexie nicht das schlimmste nennen; dies i«t die darauf folgende Lähmung. Sie bringt zuweilen das menschliche Wesen in den allerelendesten Zustand , dessen es fähig ist. Wenn sie Blödsinn Jiervorbringt , ist dem Kranken, meistens das Gefühl seines Unglücks entzogen ; aber sie kann den Ge- brauch der Glieder, die Sprache selbst, rauben und das volle Bewusstsein, das innere Bedürfniss des gewohnten Wirkens, übrig lassen, bei absoluter Unmöglichkeit es zu befriedigen ; sie kann das Gefühl vernichten , das die Aus- leerungen ankündigt, oder die Kraft, sie zurück zu halten und doch dem Kranken das volle Gefühl des Ekels lassen, den er sich und andern bereitet.

272.

Eine Menge einzelner Prognosen bei der Apoplexie müssen noch erwähnt werden : zuerst die seltsame des Hippokrates , dass , wenn nach der Apoplexie Fieber ein- tritt, der Kranke erhalten werde. Dies ist vollkommen irrig. Nach Nervenapoplexien ist zwar der Puls nie so langsam, als nach dem Blutschlag, und wenn diese grös- sere Schnelligkeit Fieber heissen soll, so ist die Prognose richtig, allein wirklich fieberhaft sind die Kranken so we- nig, als nach einem epileptischen Anfall. Fiebert der franke nach dem Blutschlag, so sei man sicher, dass der

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Anfall, spätestens in zehn Tagen, gemeiniglich viel eher, wiederkehrt. Auch hierin ist die hippokratische Prognose von der Wiederkehr innerhalb drei, längstens sieben Ta- gen falsch; der Schlagfluss hat keine regelmässigen An- fallsperioden, es sei denn das Wechselfieber, das mit Schlagfluss statt des Frostes beginnt. Dies ist aber, der Natur überlassen, allemal tödtlich und nur der Kunst, dieser aber leicht und sicher heilbar; es stellt das Bild, der nervösen Apoplexie recht deutlich dar, auch in so fern, als es niemals bleibende Lähmung xurücklässt. Von der Behandlung hängt freilich alles ab. Unmittelbar beim Anfall ist der Atliem das wahre Maas der Gefahr; wird er ungleich, so ist dessen Aufhören nahe; je freier er ist , desto besser. Der Puls kann noch eher klein und unregelmässig werden, ohne Todesgefahr, auch das Bleich- werden und Verfallen des Gesichts, selbst das Erkalten, ist weniger sicheres Todeszeichen. Je stärker die Convul- sionen , desto eher kann man hoffen , dass der Anfall glück- lich vorübergehe, ja nicht einmal lange anhaltende Läh- mung hinterlassen wurde. Ist der Anfall vorüber, so bestimmt der Grad und die Dauer der Betäubung die Prognose : absolute Betäubung mit sehr grossem , hartem Puls und Geschwulst des Gesichts, der gelähmten Seite, vollkommen unempfindlicher Pupille zeigt Carus und den Tod an. Zieht sich die Pupille zusammen, wenn das Auge geschlossen war und schnell hellerm Lichte geöffnet wird, ist der Puls nicht so sehr langsam und hart, so kann man Rückkehr zum Leben hoffen. Lähmung der Füsse allein ist weniger gefährlich, als Hemiplegie. Besser, wenn die Lähmung gleich nach dem Anfälle sehr allgemein und stark i«t, als wenn sie sich allmählig verschlimmert. Doch ge-» nug von Prognosen !

275.

Die Cur der Apoplexie theilen wir mit Recht in die prophylaktische, die Behandlung im AnfalJ und die

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handlung nach dem Anfall. Bei weitem die nützlichste und wichtigste ist die prophylaktische , wenn man nur sicher wüsste, dass ein Anfall bevorstehe, indessen kann man doch sehr viel thun, sowohl bei solchen, die schon frühere Anfälle erlitten haben, als bei solchen, die noch nie welche hatten. Die Behandlung der serösen Apoplexie beschränkt sich allein auf die Prophylaxis; ist der Anfall da , so ist der Tod gewiss. Die nervöse Apoplexie zu ver- hüten ist zwar unmöglich, wenn sie vom Blitzstrahl, von grossen Leidenschaften, als Schrecken, Freude, oder wenn sie vom Wechselfieber herrührt, doch bei Menschen, die offenbar derselben ausgesetzt sind, die schon schwächere Anfälle erlitten , können wir durch Beförderung des Schlafs, durch Beruhigung ihres Gemüths, durch Bäder, welche der ungleichen Blutvertheilung entgegen wirken, durch Mässigung ihrer geistigen Anstrengungen , durch zweck- mässige diätetische Pflege wenigstens etwas beitragen, die entscheidenden Anfälle hinauszuschieben. Bei apoplekti- seben Wechselfiebern müssen wir eben so wie bei epilep- tischen dem Ausbruch des neuen Anfalls zuvorkommen* Wo wir aber am meisten prophylaktisch wirken können , ist beim Blutichlag älterer Personen. Einige Uebung setzt uns leicht in den Stand, aus der Lebensweise, dem Bau, den Neigungen, den früheren Krankheiten derselben vor- aus zu beurtheilen , dass sie diesem Anfall ausgesetzt wer- den könnten: wenn wir bei solchen durch zweckmässige Diät, hinreichende, doch nicht anstrengende und er- hitzende Bewegung , Kühlhalten des Kopfs, Unterhalten gewohnter Blutungen , namentlich auch das Beibehalten gewohnter Aderlässe, obschon dieselben nicht gerade sehr zweckmässig erscheinen möchten , durch Olfenhalten lange bestandener Fussgeschwüre, durch Sorge für hinreichende Leibe*öffnung den Andrang nach dem Kopfe mässigen , so erreichen wir sehr lange die Absicht, drohende Apoplexie abzuwenden. Kennen wir solche Candidaten des Schlag- Busses recht genau , so mag wohl ein gedunsenes Ansehen

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des Gesichts , etwas fremdes, starres im Auge den nahen Ausbruch verrathen und dieser durch zeitige Aderlässe abgewendet werden. Sind sie aber schon früher dem An- fall unterworfen gewesen, so können wir durch sorgfältige Aufmerksamkeit auf Lebensordnung, Leibesöffnung und alle Spuren grösserer Congeition nach dem Kopfe das bedrohte Leben noch durch eine Reihe yon Jahren erhalten.

274.

Werden wir zu einem Schlagflüssigen im Anfall geru- fen, so kann der Fall eintreten , dass wir durchaus kein gewisses Zeichen haben, das uns leitet, dass wir uns den- noch auf der Stelle entschliessen müssen und von unserem Entschluss Leben und Tod des Kranken unmittelbar ab- hängt. Es kommt darauf an, zu wissen, ob wir Blut- schlag oder Nervenschlag vor uns haben; lassen wir im letztem Falle Blut ab, so stirbt der Kranke, und thun wir es nicht , wo der erstere Fall statt findet , so stirbt er nicht minder gewiss. Ist uns der Kranke genau bekannt, so können wir nicht in Zweifel stehen, aber wir sollen oft ganz unbekannten Schlagflüssigen beistehen. Sind wir Zeugen des Anfalls von Anfang an, so entscheiden die Convulsionen , die Schnelligkeit des Ausbruchs, wiewohl auch dem Nervenschlag eine ganze Weile Vorboten vor- ausgehen können, der Blutschlag aber ungemein plötzlich überraschen kann. Aber wir werden gewöhnlich gerufen, wenn der Anfall vorbei und der Kranke blos betäubt ist; die Anwesenden sind zu bestürzt , um uns genaue Auskunft über alles, was vorgegangen, geben zu können, oder sie wissen auch selbst nichts, so dass nichts als rathen gilt. Der gewissenhafte Arzt fühlt dann die Schwere seines Be- rufs, der ihm auflegt, ein vielleicht wichtiges Menschen- leben auf der Stelle von seinem Urtheil abhängig zu ma- chen. Der Anblick des Betäubten kann uns nicht leiten: bei sehr schwerem Athem , gänzlicher Blässe und Leichen- baftigkeit des Gesichts, nussetzendem Pulse, Kälte der

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Glieder kann gerade ein Aderlass auf der Stelle helfen; bei rothem Gesicht, heissem Kopf, hartem, vollem Pulse den Tod geben. Was das Urtheil leiten kann, ist:

a) Kenntniss der Gelegenheitsursache. Wurde der Anfall durch «ine grosse Leidenschaft urplötzlich erregt» so ist er gewiss nervös. Gieng dagegen Weingenuss, eine gute Mahlzeit , bedeutende Körperbewegung voraus , so kann man nur an Blutschlag denken.

b) Kenntniss der Disposition des Kranken. Ist er zu Nervenzufällen geneigt, mager, mit anstrengenden Kopfar- beiten beschäftigt, hat er ungewöhnlichen Kummer gehabt, so kann' man Nervenschlag voraussetzen : hat er Neigung zu Kopfcongestionen gehabt, Blutschlag. Das höhere Le- bensalter und der apoplektische Bau gehören zu diesen disponirenden Ursachen.

c) Kenntniss der Art des Anfalls , ob er urplötzlich kam, oder ob er Vorzeichen hatte und welche? Ob die Convulsionen unbedeutend waren, oder ob sie lange dauer- ten und den epileptischen glichen?

d) Der Anblick der Pupille. Ist sie sehr verengt und erweitert sie sich nicht, wenn man das Auge schliesst, so macht dies den Nervenschlag sehr wahrscheinlich; beim Blutschlag ist sie zwar auch unempfindlich, aber erweitert.

Das erste, was man auf jeden Fall zu thun hat, ist, dass man den Kranken von allem Druck am Halse, am Unterleibe , befreit und in eine bequeme Lage bringt , mit dem Kopfe so hoch und so kühl, als möglich. Hat man sich überzeugt, dass ein Blutschlag vorhanden ist, so öff- net man sogleich eine Ader, am bestem am Arm. Ist der Mund auf die Seite gezogen, so öffnet man die Vene des Arms, nach welchem er hingezogen ist, und lässt reich- lich Blut abfiiessen: das Quantum bestimmeil die indivi- duellen Umstände, allein es darf nicht gering sein. Man räth, die Jugularvenc zu öffnen. Allein dies ist so schwie- rig und erfordert so viel Druck an derselben , dass dieser leicht die innere Blutung vermehren kann, ehe die Ader

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geöffnet wird und deshalb ißt die Armvene weit vorzuzie- hen. Ganz zweckwidrig ist die Arteriotomie ; es kommt nicht auf Blutverminderung an, sondern auf Befreiung des Herzens vom Zustrom des Bluts und auf Beendigung der inneren Blutung hierdurch.

Zugleich begiesst man entweder anhaltend den Kopf mit kaltem Wasser oder mm belegt den ganzen Kopf mit einer hinreichend grossen , vierfach zusammengelegten Leinwand, die man in eiskaltes Wasser taucht. Dies Mit- tel darf nie versäumt werden und ist bei Nervenapoplexie eben so wohlthätig, als beim Blutschlag.

Nach dem Aderlass sorgt man zugleich für örtliche Blutausleerungen aus dem Hinterkopf, durch dreissig bis vierzig Blutegel. Kann man diese nicht schnell herbei- schaffen oder wollen sie nicht saugen, z. B. im August, wo ihre Begattungszeit ist, so setzt man so viel Schröpf- köpfe auf den Nacken und den obern Theil des Rückens, als man nur immer anbringen kann.

Den Unterleib entleert man durch Klystiere, die man immer ein wenig reizend wählt. Das schnellste, was sich hiezu in jeder Haushaltung findet, ist Essig: man mischt unter Kamillenaufguss einige Esslöffel Essig und einen Theelöffel voll Salz. Später wendet man Brechweinstein im Klystier an. Bei grossem Torpor hat man Tabaksklystiere empfohlen, nämlich von Tabaksabsud, nicht von Tabaks- rauch, denn der reizt eher zum ärgeren Triebe nach dem Kopf. An die innere Seite der Lenden, an die Waden, an die Fusssohlen legt man Senfteige. Fussbäder, die man wohl auch empfohlen findet, sind zu schwach. Bäder aind ganz unpassend; kühle treiben das Blut noch stärker nach innen , heisse vermehrten die innere Blutung. Das Begies- scn des Kopfs mit kaltem Wasser und die Klystiere setzt man fort, bis der Kranke zur Besinnung zurückkehrt. Ge- wöhnlich drängen sich eine Menge Menschen zu; die treibt man aus und sorgt durch Oeffnen der Fenster für reine Luft.

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Sobald der Kranke zu sich kommt, pflegt er sich zu erbrechen. Aber mit grossem Unrecht würde man das für eine Anzeige halten , Brechmittel anzuwenden , selbst wenn man erfahren sollte, dass der Kranke vor dem Anfalle ge- gessen und. getrunken hat. Denn das Erbrechen ist Sym- ptom des Drucks, den das Extravasat aufs Gehirn ausübt und die Anstrengung beim Brechen würde ohne Zweifel das Austreten des Bluts ins Gehirn vermehren. Die Fälle sind äusserst selten, wo man mit Nutzen und Sicherheit Brechen erregen kann: man muss vorher allgemein und örtlich Blut entzogen haben und höchst gewiss sein, dass der Anfall nur in Magenüberladung seinen Grund habe. Ausserdem sind salinische Abführmittel viel sicherer und besser.

Kommt der Kranke zu sich, so ist er gelähmt, doch noch nicht vollständig; gewöhnlich ist er hemiplegisch , stammelt, ist traurig, weint und besieht den gelähmten Theil, der immer mehr die Beweglichkeit verliert: manch- mal vergehen drei Tage, ehe sie völlig erloschen ist. Für den Augenblick ist die grösste Gefahr, die man zu besor- gen hat, Wiederkehr der Apoplexie: diese zu verhüten muss die Hauptsorge des Arztes sein. Die darmausleeren- den Mittel sind dazu die ersten, nothwendigsten ; man wählt vorzugsweis die Mittelsalze , die bei dem geringen Grad von Reizbarkeit der Därme, welchen man voraus- setzen darf, am ersten wirken und in das Gefässsystem schwächend und beruhigend wirken. Bemerkt man , dass der Puls wieder langsamer, voller wird, dass sich wieder irgend einige Erscheinungen von Andrang nach dem Kopf einstellen, so erneuert man das Aderlass und die kalten Umschläge um den Kopf. Dann bleibt die Lähmung zu- rück, von deren weiterer Behandlung sogleich die Rede sein wird.

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275.

Ucberzeugt man sich aber, dass der Kranke ait Ner- venschlag leide, so muss man eben so wie im Blutschlag eilen , ihn in eine bequeme Stellung zu bringen , mit dem Kopfe so hoch als möglich , ihm frische reine Luft zufüh- ren, den Körper von allem Druck befreien. Dann lässt man kalte Umschläge über den Kopf machen, reizende Klystiere anwenden und Senfteige an die Füsse legen, ge- rade wie im vorigen Falle. Allein statt Blut zu lassen oder Blutegel anzulegen , lässt man einen Theil des Hin- terhaupts abscheeren und legt hierhin und auf den Nacken ein starkes Vesicator, besser aus einem Teig von Kantha- ridenpulver und Mehl , als aus Pflaster ; man legt diesen Teig durch Heftpflaster fest. Die Herzgrube lässt man mit Bürsten reiben und hält dein Kranken Ammonium un- ter die Nase. So gelingt es, ihn wieder ins Bewusstsein zu rufen , wofern nicht gleich der Anfall die Respiration ergriffen hat und zu schnellem Aufhören bringt. Allein wenn nicht der Anfall sehr leicht war, ist der Kranke gelähmt, ohne deutliche Erinnerungsfähigkeit; er delirirt, erzürnt sich, oder ist blödsinnig. Diesen Zustand zu be- kämpfen müssen wir belebende, nicht ableitende Mittel anwenden, wie im vorigen Falle. Die Wahl derselben muss der Grad der Lähmung sowohl als der Zustand sei- nes Vegetationslebens bestimmen. Es ist nicht rathsam, sogleich mit sehr reizenden Mitteln zu beginnen , aber oft nothwendig , zu denselben überzugehen , namentlich zur Asa foetida, die wir hierbei als das Hauptmittel, das kräf- tigste unter allen anzusehen haben. Valerianaaufgüsse sind in der Regel das einfachste , kräftigste Mittel für den An- fang , eben so Arnicaaufguss.

276.

Ausser diesen allgemeinen Hauptregeln können noch sine Menge anderer zu beachten sein., je nach den Er«

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acheinungen und Ursachen» So müssen wir bei unter- drückten Blutungen der Genitalien oder der Hämorrhoiden Blutegel ans Perinäum legen, bei <a poplektischen Wechsel- fiebern sofort die China in der Quantität geben, dass sie vor dem nächsten Anfall sichert, wobei ich vor dem Ge- brauch des Chinin«, wenigstens bei Erwachsenen, warnen muss, da die Rinde in Substanz viel sicherer ist. Men- schen, die der Blitz getroffen , räth man in frische Erde oder warmen Sand einzuhüllen und an den vorstehenden Stellen die Haut zu reiben. Bei solchen , die durch schäd- liche Luftarten apoplektisch worden sind, hat man zuerst für reine Luft zu sorgen, dann bespritzt man sie mit Was- ser, und erst wenn nach befreiter Respiration der Puls gross, voll wird, schreitet man zur Aderlässe: tliut man es, ohne dass sich der Puls erhoben hat, so sterben sie auf der Stelle. Die Behandlung aller Scheintodten gehört hieher: man kann nie wissen, ob sie erstickt oder apo- plektisch sind und verfährt, wie wenn sic das letztere wären, je nach der Art der Ursache des Scheintods. Hat mechanische Gewalt den Schädel zerbrochen, so muss man die deprimirten Knochenstücke aufheben oder entfernen, und das Extravasat, wenn man es erreichen kann, weg- gchaffen. Wenn ein Kranker die Louvriersche Schmiercur braucht und apoplektisch wird , so hat man zwar in der Regel nicht viel zu hoffen der Tod erfolgt, ehe wir helfen können ; athmet aber der Kranke noch , so müssen wir ihn abwaschen, am besten mit warmem Essig , sogleich in reine Luft bringen und durch Uebergiessen des Kopfs, durch Reizmittel aller Art, endlich durch kohlensaures Ammonium zu erhalten suchen. Wir würden nicht fertig werden, längst bekannte Curregehi zu wiederholen, wenn wir uns auf das einzelne aller möglichen Fälle einlassen wollten.

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277.

Seltene glückliche Fälle ausgenommen lässt jede Apo- plexie, die nicht mit dem Tode endet, Lähmung zurück. Diese Krankheit verdient aber besondere Betrachtung, um so mehr, da sie bei weitem nicht immer Folge der Apo- plexie ist, sondern auch andere Entstehung haben kann. Nämlich sie kann nicht blos ihren Grund im Gehirn ha- ben , sondern auch im Leitungsapparat zwischen dem Hirn und den Organen: die aber vom Gehirn aüsgeht , kann Folge vielfacher Krankheitszustände desselben sein. Jede Lähmung, als Krankheit, ist nothwendig partiell; univer- selle Lähmung ist der Tod selbst. Sie würde aber nicht partiell sein können, wenn nicht das Gehirn als ein Aggre- gat von einzelnen Organen wirkte, deren jedes der beson- dere Centralpunkt für die Sensibilität besonderer Organe ist. Gelingt es uns einst, mit der Hirnlehre genau be- kannt zu werden, so können wir bei jeder Lähmung, die ihren Grund im Gehirn hat, auch die Stelle des Gehirns wissen, welche krank ist: jetzt sind wir von dieser Kennt- niss noch fern , ob es gleich nicht an geistreichen Ver- suchen gefehlt hat , uns die Bahn zu derselben zu eröff- nen. In den gelähmten Organen liegt der Grund der Läh- mung nicht, wenige Fälle von Lähmung des Gesichts und Gehörs allenfalls ausgenommen. Unvollkommene Lähmung eines oder mehrerer Theilc nennen wir Paresis, vollkom- mene Paralysis , diese aber , wenn sie blos eine Körper- hälfte trifft, Hemiplegie, wenn sie die Füsse trifft, Para- plegie. Diese Unterscheidungen sind bedeutungslos und bezeichnen das Wesen der Krankheit nicht näher. Viel wichtiger ist die Eintheilung der Lähmung in die, welche Krankheit de* Gehirns allein, die, welche Krankheit der Nerven allein, und die, welche zugleich Krankheit eines Theils des Gangliensystems ist. Alle Lähmung nach Apo- plexie ist ursprünglich Krankheit des Gehirns allein, geht aber zuweilen auf das Gaugliensystem über.

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278.

Nach dem Polaritätsgesetz verhalten sich die Nerven als die Leiter zwischen dem inneren und äusseren Pol bei den sensiblen Thätigkeiten indifferent , allein sie müssen der Leitung kein Hinderniss entgegensetzen. Thun sie das, so tritt der Fall einer Nervenlähmung ein, und die Theile, welche durch diese Nerven mit dem Gehirn in Verbindung stehen, verlieren diese Verbindung. Wenn also ein mechanisches Hinderniss, Unterbindung , Verwun- dung, Afterbildung, die freie Leitung zwischen einem Or- gan und dem Gehirn durch den Nerven des erstem hemmt, so verliert das Organ die Aeusserung seiner Sensibilität theihveis oder ganz, je nach dem Grade der Hemmung: immer geht eher die Bewegung, als die Empfindung ver- loren. Es giebt eine Art von Lähmung, die allein ihren Grund in Metamorphose der Nervenscheiden hat; ohne Zweifel durch frühere Entzündung sind diese verdickt und ligamentenartig geworden, drücken das Mark und vernich- ten so die Bewegung der Muskeln zwar nicht ganz, allein doch so , dass der Kranke nicht eine vollständige Bewe- gung ausführen kann : diese Art von Lähmung ist mit

Schmerz in den gelähmten Tlieilen verbunden. Die Er- nährung derselben erfolgt gewöhnlich recht gut, allein ohne Zweifel ist es der Theilnahme der Ilautnerven an den Leiden der Muskelnerven zuzuschreiben , dass die ge- lähmten Glieder gewöhnlich ein marinorirtes , blaurothes Ansehen haben. Diese Art der Lähmung ist unheilbar und hat blos pathologisches Interesse : verhütet wird sie , wenn die Entzündung der Nervenhüllen, deren Wirkung sie ist, zu ihrer Zeit richtig erkannt und gehoben wird; hält man sie aber für blossen Rheumatismus und lässt inan die Metamorphose geschehen , so giebt es kein Mit- tel, diese je wieder aufzuheben. Man kann sie vom Rheu- matismus, dem sie übrigens gleicht, dadurch unterschei- den, dass sie ohne Geschwulst der Gelenke ist, ihren Sitz

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nicht verändert, sich nicht auf einzelne Muskeln, sondern über ganze Glieder, fast alleraal beider Seiten zugleich, ausbreitet, dass der Hauptschmerz dein Lauf der Nerven folgt und dass er mit bedeutendem Rückenschmerz verbun- den ist. Selten findet diese Lähmung in andern Theilen statt, als in den P’üssen. Nachdrückliche Anwendung des Kalomel in der Fieberperiode ist die einzige Rettuug; ist das Fieber vorbei, so ist die unheilbare Metamorphose geschehen.

279.

Lähmung der Gangliennerven oder der Ganglien selbst ist mehrentheils tödtlich, besonders tödtet die der Brust- ganglien sehr schnell, indem sie Herzschlag und Athein aufhebt; die der Bauchganglien tödtet langsamer: ein recht manifester Fall, wo sie vorkommt, ist der grosser Er- schütterung des Unterleibs durch schweren Druck, Sturz auf denselben , mechanische Gewalt. Nicht die geringste Spur von Verdauung oder Reizbarkeit der Därme ist dann, übrig; die Därme wie der Magen verhalten sich wie ein todter Schlauch und dennoch dauert das Leben noch fünf, sechs Tage. Bei der Lienterie , dem tödtlichen Durchfall, der Soldaten , ist ohne Zweifel der plexus mesaraicus in- ferior gelähmt, darum ist er unheilbar, aber es können Wochen vergehen und die Metamorphose des Dickdarms sich sehr ausbilden , ehe das Leben endet. Unstreitig fin- det aber Consens der Centralnerven eines Gliedes mit den Gangliennerven seiner Nahrungsarterien statt, denn es giebt Fälle , in welchen bei Lähmung der ersten auch die Ernährung der Theile zwar nicht aufgehoben , aber auf ein minimum reducirt wird, so dass die gelähmten Glie- der schwinden: wäre die Ernährung ganz vernichtet, so würden sie sphaceliren. Dass vom Schwinden die Ursache in dem Nerv der Nahrungsarterie liege, vermuthe ich des- halb , weil der Pulssclilag des schwindenden Gliedes von dem aller übrigen Theile in jeder Rücksicht abweicht.

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Denn uonst liessc sich das Seilwinden auch aus der ver- änderten Vitalität der kleinen Gefässe des Organs erklä- ren, die Cereliralnerven haben. Dann aber würde jede Lähmung dieser Cerebralnerven auch Schwinden der ge- lähmten Theile bewirken , was nicht der Fall ist. Im Ge- gen tlieil sehen wir die gelähmten Glieder oft sogar an- schwellen. Nur wenn die Lähmung lange besteht, werden die Muskeln allmähiig dünner, da jeder Muskel seine 'Po- rosität nur durch seine Bewegung behält, wie denn Mus- keln, die arbeiten müssen, allemal stärker werden, als solche, die ruhen. Will man diese Abnahme Schwinden nennen , so bedarf es zu derselben freilich keiner Läh- mung der Gangliennerven.

280.

Bei weitem am häufigsten hat Lähmung ihren Grund im Gehirn ; vom inneren Centrum aus geht keine Commu- nication mehr nach den Organen. Sie erfolgt also

a) nach Blutschlag , wenn Blut in der Schädelhöhle extravasirt ist und auf irgend einem Theile des Gehirns aufliegt. Man hat bemerkt, dass, wenn das Extravasat auf den Gyren oder zwischen denselben liegt, mehr Be- sinnung und Sprache , wenn es aber in den Seitenventri- keln liegt, mehr die Muskeln der Extremitäten der entge- gengesetzten Seite gelähmt sind. Die Erfahrung bestätigt dies zw ar mehrentlieils , aber nicht immer. Wenn durch äussere Gewalt Extravasat entstanden ist, erfolgt immer Betäubung und Muskellähmung zugleich, obschon das Blut selten anders als auf den Gyren aufliegt. Wenn bei un- vollkommenen schlagflüssigen Anfällen kein Blut extrava- sirt, sondern blos Ausdehnung der kleinen Gefässe in ih- rem Maximum die Sensibilität des Hirns theilweis aushebt, so folgt nicht Lähmung auf den Anfall , sondern blos eine temporäre Betäubung und Schwäche.

b) Nach Eitorerguss. Er muss jedoch sehr unbe- trächtlich sein, wenn er nicht sofort den Tod bewirken

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soll. Keine sichere Merkmale zeichnen diesen Erguss vom gewöhnlichen Blutschlag aus und es ist keine specielle Be- handlung desselben möglich.

c) Durch den Druck von Hydatiden aufs Gehirn. Es ist sehr auffallend , dass solche Aftergebilde häufig im Ge- hirn entstehen können, ohne dass sie krankhafte Erschei- nungen erregen , bis sie endlich überhand nehmen. Un- streitig kommt viel auf ihre Lage an und es scheint , al* wenn die Marksubstauz der grossen Hemisphären ihre Existenz am meisten vertrage. Allein zuweilen kommen sie an Stellen vor, wo sie Lähmung veranlassen, die sich dadurch besonders auszeichnet , dass sie sehr unmerklich, als blosse Schwäche , beginnt und langsam zunimmt* Es ist schon öfter erwähnt worden, dass diese Hydatiden an- fangs seröse Feuchtigkeit enthalten , die sich aber allmäh- lig in eine talgige Masse verdickt. Natürlich vermehrt sich hierdurch der Druck, den sie ausüben.

d) Durch Erguss kleiner Massen von Serum , nament- lich aus solchen Hydatiden , wenn sie platzen , während sie noch Flüssigkeit enthalten.

e) Durch den Druck von Knochenstückeil oder frem- den Körpern noch Schädelwunden. Davon wird bald mehr die Rede sein.

f) Durch den Druck von Eiter, es sei nun in eine Aftermembran verschlossen, wie gewöhnlich, oder diffus. Im ersten Fall kommt es, wie bei den Hydatiden, auf die Lage an: wir haben sehr merkwürdige Beispiele, wo grosse verschlossene Abscesse in der Marksubsianz der Hemisphä- ren sehr lange existirten und kein Mensch ihr Dasein ah- nete. Liegen sie aber so, dass dadurch Theile des Gan- gliensystems in der Hirnbasis gehindert werden , so ver- ursachen sie Lähmung, vermuthlich ebenfalls, wenn sie in der Corticalsubstanz liegen. Vom diffusen Eiter ist schon Lit. b. die Rede gewesen.

g) Durch Entzündung einzelner Hirntheile vermuthe ich, dass Lähmung der von ihnen ausgehenden Nerven^

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Wirkung entstehen müsse, weil dies dem Gesetz des le- bendigen Wirkens gemäss ist, kann es aber nicht beweisen.

h) Durch Erschütterung des Hirns wird bekanntlich vorübergehende Lähmung bewirkt: ist sie allgemein oder lehr heftig, so tödtet sie.

i) Durch sehr heftige, gewaltsame Reizung geschieht dasselbe, nach Nervenschlag. Dass uns das „wie?“ unbe- kannt ist, bedarf keiner Wiederholung, aber die Thatsache ist gewiss. Die Vegetation des Gehirns kann fortdauern, aber seine Sensibilität grösstentheils verloren gehen und nur allmählig wieder erwachen oder auch nie vollständig zurückkehren.

Es giebt seltene Fälle von periodischen Lähmungen, wo zwar nicht in regelmässigen Fristen, doch in Abwech- selungen irgend ein Organ eine Zeitlang beweglich ist, dann auf eine Weile die Bewegung verliert. Dasselbe er- eignet sich auch, obwohl noch seltener, mit der Empfin- dung (die Finger ausgenommen , bei welchen der tempo- räre Empfindungsverlust nichts seltenes ist). Im Ganzen ist jede Lähmung des Empfindungsvermögens gegen die des Bewegungsvermögens willkührlicher Muskeln eine sel- tene Erscheinung.

281.

Aus der Erwähnung vorgenannter Ursachen geht her- vor, dass es wesentlich und in pathogenetischer Rücksicht zwei Hauptarten von Lähmung giebt, nämlich solche, die ihren Grund in einer Veränderung ausserhalb dem Nerven- system haben , und solche , deren Grund in Veränderung der Vitalität des Nervensystems selbst liegt. Es ist be- greiflich, dass alle Lähmungen erster Art allmählig in sol- che zweiter Art übergehen müssen, denn lange anhalten- der Druck auf eine Nervenmasse, ja selbst die blose Ces- sation ihrer eigenthümlichen Thätigkeit, muss allmählig auch Degeneration derselben und innere Zerstörung ihrer Vitalität zur Folge haben. Aber ursprünglich ist bei der

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ersten Art die Nervenmasse gesund und verliert nur ihre sensible Thätigkeit durch einen von aussen auf sie lasten- den Druck, er sei nun Folge äusserer Verletzung oder blos einer Metamorphose, die im Inneren selbst entsteht, als Extravasat beim Blutschlag, Hydatidenbildung , Ver- dickung des Neurilems. Bei der zweiten Art ist die Ner- venmasse ursprünglich krank; sie vegetirt fort, verliert aber auf eine uns unbekannte Weise ihre Fähigkeit zur Sensibilität. Diese Eintheilung ist um so wichtiger, weil sie die einzig praktische ist und aus der sehr empirischen, durchaus fehlerhaften Behandlung der Lähmung zu einer rationellen führen kann. Wenn es nur in allen Fällen deutliche, sichere, bestimmte Merkmale gäbe, beide Arten zu unterscheiden! Zwar giebt es viele, gerade wie man mehrcntheils Blutschlag und Nervenschlag unterscheiden kann, allein es kommen Lähmungen vor, die über ihre wahre Ursache sehr zweifelhaft lassen: vieles muss in den individuellen Fällen, wie überall, so auch in dieser Krank- heit, der Sagacität des Arztes überlassen bleiben.

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Es ist bei der Behandlung der Lähmung im allgemei- nen gewöhnlich, dass man sich mit allerlei Reizmitteln an den gelähmten Theil adressirt. Man reibt flüchtige Mittel ein, belegt ihn mit Senfteigen und Vesicatorien, brennt ihn wohl gar, elektrisirt ihn, peitscht ihn mit Nesseln, steckt ihn in den warmen Körper frisch geschlachteter Thiere und wundert sich , wie das so wenig nützt. Wenn eine Localursache der Lähmung statt findet, wird es nützen. Wenn z. B. durch eine Armwunde, die die Nerven zum Theil vernichtet hat, Bewegung und Empfindung der Hand, der Finger, des Vorderarms, verloren sind, so kommt es auf Regeneration der Nerven an , dass er sie wieder be- komme. Diese ist ein Werk der Zeit, das aber beschleu- nigt wird durch alles, was die Vegetation des Gliedes im Ganzen fördert, folglich durch Thierbäder. Liegt aber

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die Ursache der Lähmung im Gehirn und wir reizen die gelähmten Arme oder Ftisse, so gleichen wir einem Mann, dem das Wasser in seinem Teiche ausbleibt und der des- halb den Teich tiefer graben oder ausmauern will, statt die Leitung aus dem Fluss herzustellen, aus dem das Was- ser in den Teich floss. Jener Arzt , der die gelähmten Arme einer Sultanin heilte, war klüger: er fasste ihr plötz- lich nach den Geschlechtstheilen ; die Indignation über diese Unverschämtheit gab ihrem Willen schnell so grosse Energie, dass sie ihm auf die Hand schlug und die Bewegung der Arme wieder hatte.

283.

Hirnlähmung der ersten Art rührt von mechanischem

Druck auf Theile des Gehirns her; sie kann also einzig

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und allein durch Beseitigung dieses Drucks gehoben wer- den. Wo dies unmöglich ist, da ist auch die Lähmung unheilbar. Also bei Eiterabscessen im Gehirn , dei Ilyda- tidenbildungen als Ursache der Lähmung ist die Heilung unmöglich. Wo fremde Körper auf das Gehirn drücken , wo Knochenstücke deprimirt sind, hängt sie nur von der chirurgischen Hülfe ab, eben so bei Blutextravasaten nach Wunden. Wenn aber aus inneren Ursachen Extravasat entsteht, oder wenn eine Ilydatide platzt und Serum er- giesst , hangt die Heilung der daraus folgenden Lähmung allein von der Resorption der ergossenen Flüssigkeit ab, denn chirurgische Hülfe zu leisten ist selbst dann unmög- lich , wenn das Extravasat dicht unter dem Schädel auf der Oberfläche der Gyren liegt, theils weil die Dignose nicht sicher genug, theils weil besonders die Stella des Extravasats unbestimmbar ist. Alle Reizung der gelähmten Org ane ist ein völlig eitles Beginnen, überhaupt jedes an- dere Verfahren, als das, wodurch Resorption befördert wird. Die erste Heilanzeige wäre freilich, die Fortdauer der Blutung aufzuheben , allein wo die Natur diese nicht ßline unser Zuthun erfüllt , stirbt der Kranke ohnehin j

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dazu können wir nichts beitragen, ausser indem wir den Kopf mit kaltem Wasser besessen und allgemein und ört- lich Blut ausleeren ; dies gehört zur Behandlung des Schlag- flusses. Die Resorption erfolgt zwar langsam von selbst, doch niemals vollständig: ein Theil des Cruors des ergos- senen Bluts verwandelt sich in Pseudomembran und bleibt unzerstörbar. Daher auch jede Lähmung nach Blutschlag nur bis auf einen gewissen Grad heilt, auf diesem aber unbezwinglich stehen bleibt. Wir können die Resorption befördern ; die Mittel dazu sind :

a) Brechmittel. So wirksam sie zu diesem Zweck sind, dürfen wir uns doch selten ihre Anwendung erlau- ben , weil sie neue Congestionen nach dem Kopf erregen können. Wo wir indessen ganz sicher sind , dass sie nicht so wirken werden, ist ihre Anwendung angezeigt.

b) Laxirmittel. Sie befördern die Resorption eben so kräftig, als Brechmittel und sind nicht nur ohne alle Gefahr anzuwenden, sondern sogar nothwendig, um die Congestionen nach dem Kopfe abzuleiten. Im Anfang die- nen Salze besser als alles andere : späterhin sind drasti- sche Abführmittel in der Regel wirksamer, namentlich Purganzen von Jalappe mit Kalomel.

c) Spärliche Diät. Offenbar befördern wir die Re- sorption, wenn wir dem Magen und dem Darmcanal wenig zu resorbiren geben. Solche Diät ist überhaupt beim Blut- schlag angezeigt , denn ihr Gegentheil würde die Gefahr neuer Apoplexie herbeiführen.

d) Arnicaaufguss. Die Arnicablüthen stehen in dein Rufe, dass sie Resorption befördern; ob sie ihn verdienen, weiss ich nicht mit rechter Gewissheit. Da man jedoch nicht immer laxiren lassen kann, so ist höchst zweckmässig, wenn man nach Maasgabe der Kräfte des Kranken um den achten, zehnten Tag ein Abführmittel wiederholt nehmen lässt und in den Zwischenzeiten die Arnica braucht. Sollte pie ihren Ruf nicht verdienen, so ist sie wenigstens nicht

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schädlich und cs ist wohl etwas dreist, ihr ohne Beweis eine Wirkung abzusprechen, an die so viele glauben.

e) Quecksilbermittel. Bei diesen muss ich so dreist sein , der allgemeinen Meinung zu widersprechen , denn diese schreibt ihnen die Kraft zu , Resorption zu befördern, welche sie zuverlässig nicht besitzen. Fragt man nach den Beweisen ihrer Resorption befördernden Kraft, so wird angeführt, dass die Quecksilbersalbe in die Haut resorbirt wird. Aber das gilt von allen möglichen Dingen, die man mit der Haut in Berührung bringt: dem gemäss müssten die Kanthariden auch die Resorption befördern , denn die Wirkung auf die Nieren zeugt deutlich, dass bei Vesicato- rien auch etwas von den Kanthariden resorbirt wird , ob sie gleich die Epidermis von der Haut abziehen und Ab- tretung von Serum zwischen Haut und Oberhaut bewirken. Wenn man in Aachener Thermalwasser badet, riechen die Excremente sehr stark nach Schwefel; daraus folgt aber nicht, dass der Schwefel, oder dass Bäder die Resorption befördern; die letztem vermindern sie vielmehr. In jeder Rücksicht ist der Mercurialgebrauch bei gelähmten Kran- ken schädlich ; er vermehrt den Blutandrang nach dem Kopfe höchst bedeutend , schwächt alle vegetative Thätig- keit und begünstigt alle Blutungen.

284.

Die allgemeine Behandlung der Hirnlähmung zweiter Art ist lange nicht so bestimmt, als die der ersten: es kommt darauf an , allmählig die Sensibilität des Gehirns wieder zum Normalgrad zurückzuführen. Wüssten wir recht bestimmt, wodurch sie bei fortdauernder Vegetation verloren gieng, wenn ein gewaltiger Reiz die Nerven er- schüttert hat, so wäre es leichter, die Mittel anzugeben, wie wir sie wieder beleben könnten, allein da uns die Art unbekannt ist, wie solche Erschütterungen die Sensibilität auslöschen , sind wir ins Gebiet der Empirie verwiesen. Wir kennen besonders zwei Klassen von Arzneikörpern,

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die in das Hirnleben einwirken; die eine enthält die nar- kotischen Mittel und von diesen wissen wir, dass sie die vegetative Thätigkeit in den Nerven , auf Koaten der Sen- sibilität, erhöhen. Die Wirkung der andern aber kennen wir so wenig, dass wir sie mit dem Namen nervenreizen- der bezeichnen, gleich als ob nicht beinahe alle mögliche Arzneiwirkung auf Nervenreizung beruhte. Wir wollen dadurch ausdrücken, dass sie die Sensibilität erhöhen; wenn wir aber bei den einzelnen diese Voraussetzung nach- weisen wollen , zeigt sich das vage , sinnleere derselben. Daher kommt es denn auch, dass wir die heterogensten Stoffe in diese Klasse zusammen bringen. Die älteren Leh- rer der Arzneimittellehre nannten gar diese Mittel ,, rei- tende Mittel Ja gewiss, alle Arzneien sind reizende Mittel, denn alle Wirkung ins Lebendige beruht auf Rei- zung. Wollen wir ihren Begriff dahin bestimmen, dass sie weniger in das vegetative Leben einwirken, stärker die Sensibilität bethätigen? Dann fürchte ich, dass diese Klasse sehr arm ausfallen werde.

Hier, wo es darauf ankommt, die Sensibilität der Ner- ven insbesondere stärker hervorzurufen, als ihre Vegeta- tion, scheinen alle narkotische Mittel völlig verwerflich, denn sie wirken gerade umgekehrt. Und doch hat die Empirie schon längst sehr viele narkotische Stoffe hier nicht ohne Erfolg angewendet, namentlich alte, edle Weine in geringer Menge, den Aether, selbst das Opium, das besonders in frühem Zeiten sehr gerühmt wurde, nament- lich in Verbindung mit aromatischen Stoffen. Noch weni- ger hat man die Mittel vermieden, die neben der Neben- wirkung, die man ihnen zuschreibt, ganz entschieden und höchst kräftig in das Gefässieben, in die Vegetation, wir- ken: beinahe die ganze Klasse dieser Mittel besteht aus solchen. Wir wollen einige nennen:

a) Valerianawurzcl. Die Thätigkeit der Schleimhaut des Magens verändert sie wenig, die Magennerven reizt sie unangenehm, so das sie selbst Ekel hervorruft. Auch

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auf die Gefässthätigkeit wirkt sie nur als ein schwacher Reiz ; ihre Hauptwirkung ist also allerdings Erhöhung der Sensibilität und so ist sie denn vielleicht unter allen am ersten als passend zu dem Zweck zu betrachten, den wir bei Hirnlähmungen der zweiten Art befolgen wollen. Dann muss sie aber in Substanz oder im Aufguss genommen werden , denn die aus ihr bereiteten Tincturen reizen stark das Gefässsystem , noch mehr thut dies das destillirte Oel derselben. Gleichwohl scheint letzteres ihre ganze Kraft zu enthalten.

b) Kamillenblumen , besonders die römischen. Von ihnen gilt ungefähr dasselbe, was vom vorigen gesagt wor- den, nur dass sie etwas mehr das Gefässsystem reizen. Ihre höchst wohlthätige Wirkung ist bekannt und macht sie zu einem der gebräuchlichsten Mittel dieser Klasse. Von den Münzarten, der Melisse, dem Seordium, dem Chenopodium ambrosiodes, lässt sich etwa dasselbe sagen. Das kräftigste aller dieser Arzneien scheint das Teucriura marum zu sein, das sehr wenig in Gebrauch ist, aber wohl mehr es verdient.

c) Der Kaffee. Wäre er nicht zum gewohnten Nah- rungsmittel geworden , so würde seine Arzneiwirkung viel mehr ins Auge fallen. Seine kräftige Wirkung ins Gefäss- system wird noch von der in die Nerven überwogen : in dieser dürfte er wenig seines gleichen haben. Er erhei- tert, erhält wach, wirkt also gerade das Gegentheil vom Opium und vom Weingeist mithin befördert er die sen- sible Thütigkeit und hält die vegetative des Nervensystem# zurück, gerade was hier Noth thut. Nur versteht sich, dass er in starkem Aufguss , am besten in dem durch die Luftpresse bereiteten, und nicht durch Milch geichwächt genommen werden muss.

d) Der Tabak , HB. Nicotianae. Der Rauch des Ta- baks ist zwar narkotisch und wirkt unpassend in diesem Zustand, allein der Aufguss der Pflanze scheint mir durch- aus mehr in die Sensibilität zu wirken, nur dass er *u-

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gleich den Magen heftig angreift und starkes Erbrechen und Durchfall hervorbringen kann. Die Tinctur ist offen- bar auch narkotisch, folglich verwerflich : es scheint, als ob das narkotische Princip der Tabakspflanze nur in Wein- geist, nicht in Wasser lösbar wäre, das Sensibilität beför- dernde aber iin Wasser. Nach meiner Erfahrung ist die Tabakspflanze das allcrkräftigste aller Arzneimittel bei Ner- venlähmungen , die nicht von Druck auf das Hirn herrüh- ren. Es ist schade , dass die Aerzte sie nicht besser in Gebrauch ziehen. Ich habe die Blätter trocknen und mit heissem Wasser infundiren lassen , in verschiedenem Quan- titätsverhältniss , doch in der Regel zu einem halben Quent auf die Unze, wovon täglich fünf bis sechs Esslöffel ge- nommen wurden. Erregt es Erbrechen, so ist die Gabe zu stark.

e) Die Asa fcetida. Ein längst berühmtes Mittel, dessen hohe Vortrefflichkeit ich gewiss nicht bestreite, das aber doch weniger hieher passt, als die vorgenannten, denn es reizt gewaltig das Gefässsystem , viel mehr noch, als das Nervensystem: im frischen Zustande soll der Fall umgekehrt sein. Auf die Magennerven wirkt es nicht recht günstig, daher erregt es starkes Aufstossen, doch nicht Erbrechen, gleich dem Tabak, vermindert aber den Appetit. Gleichwohl sehe ich es sehr oft in der Absicht verordnen, dass es Appetit erwecke. So ist es denn mit Arzneimitteln, wie mit Menschen; es kommt viel auf ih- ren Ruf an; ob sie ihn verdienen, ist eine andere Frage, und nicht alle haben ihn, die ihn verdienen. In fieber- haften Krankheiten ist es weit wirksamer, als in chroni- schen Lähmungen, in welchen es doch alsdann sehr kräf- tig wirkt, wenn beim gelähmten Individuum zugleich das System der Schleimhäute unthätig ist. Der Asa foetida ziemlich analog, nur minder kräftig, wirkt der Knoblauch , ein gemeines Nahrungsmittel der Südeuropäer : als Arznei bedient man sich der Tinctur desselben.

f) Das Ammonium . Ich habe es vielmals innerlich

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und äusserlich anwenden sehen, kann aber, von der inne- ren Anwendung besonders , in Nervenlähmungen keinen ausgezeichneten Erfolg rühmen. Als Riechmittel scheint es am allerbesten zu wirken. Als einst die Wirkung der Arzneien chemisch erklärt wurde, schrieb man ihm grosse Kräfte zu: hätte die Erfahrung sie bestätigt, so wäre in Credit geblieben. Aber was die Wissenschaft der Er- fahrung vorschlägt, nimmt diese selten an, dagegen hat die Erfahrung der Wissenschaft ihre Schätze geöffnet und es ihr überlassen, sich dadurch zu bereichern und zu be- richtigen.

g) Sämmtliche destillirte Oele. Weil sie Körper von starkem Geschmack und Geruch sind, erwartet man, dass sic auch in das gesammte Nervensystem stark und erre- gend eingreifen werden. In dieser Voraussetzung irrt man bei den meisten; sie wirken weit mächtiger in das Gefäss- leben ein, Mas man mit dem Worte „erhitzen44 zu be- zeichnen pflegt. Damit ist nicht geläugnet, dass sie, be- sonders einzelne von ihnen, bei gewissen Lähmungen et- was nützen können. Man darf auch ihre oft sehr unange- nehme, lähmende Wirkung in die Schleimhäute nicht über- sehen: sie beschränkt ihren Nutzen. Wir werden bald be- greifen , dass es bei der Lähmung nicht immer auf starke Reize ankommt.

h) Der Kampher. Man kann diesen Körper mit kei- nem andern vergleichen , w eder chemisch , wo er nicht zu den Oelen und nicht zu den Harzen gehört, aber Aehn- lichkeit mit beiden hat, noch in vitaler Hinsicht. Sein starker Geruch scheint ihn in den Ruf eines Mittels ge- bracht zu haben, das die Sensibilität erhöht; beobachten wir aber seine Wirkung, so sehen wir sogar das Gegen- theil. Aeusserlich wirkt er zur Beförderung der Contra- ctionskraft der kleinen Gefässe, aber ganz anders, als Blei, Säuren, adstringirende Mittel, Kälte, denn alle diese Dinge verhindern die Thätigkeit der Expansibilität, wodurch die entgegengesetzte allein wirksam herrortritt, aber der

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Kampher vermehrt sie direct , ohne die Expansibilität zu schwächen. Wenn z. B. ein Glied erfroren ist, so hat die Kälte die Contra ctilität seiner kleinen Gefässe gelähmt. Hier helfen keine adstringentia : es kommt darauf an , die gelähmte Kraft wieder zu erheben und das leistet der Kampher. Wir haben keinen Grund, zu glauben, dass er bei innerem Gebrauch anders wirke. Allein bei Nerven- lähmungen kommt hierauf gar nichts an ; er scheint also dabei ganz unpassend und die Erfahrung spricht nicht für ihn.

i) Moschus und Castoreum. Sind offenbar Mittel, die im Gefässsystem die Expansibilität hervorrufen : ich zweifle sehr, dass sie jemals direct ins Nervensystem wirken ; bet chronischen Lähmungen leisten sie gar nichts. Ihre Kraft ist gewiss sehr oft überschätzt worden.

k) Einige Thermalwässer, in Deutschland namentlich Aachen, Teplitz, Gastein, Wiesbaden. Aachen und Gasteiii können sich unter diesen am meisten ihrer Erfolge rüh- men. Es ist begreiflich, dass warme Bäder, deren Haupt- wirkung ist , da*s sie alle Congestion aufheben und die gleiche Vertheilung der Blutmasse bewirken , in allen chronischen Krankheiten nützen, die durch Congestionen bestehen oder deren nothwendig erregen: Lähmungen ge- hören zu den letzteren. Denn die verminderte Vitalität des gelähmten Theils hat zur nothwendigen Folge, dass der lebendige Umtausch im gelähmten Theile unvollkomm- ner geschieht, als in den andern. Dieser Folge könnte jedes warme Bad abhelfen : ist aber das Wasser reich an Bestandtheilen , die das Leben geradezu fördern, so kann es die ganze Krankheit heben. Hätte man nicht sehr ge- wöhnlich auch solche Gelähmte nach Bädern gesendet, in deren Gehirn Extravasat liegt , das freilich kein Bad weg- ppühlen kann, ao würde das Resultat viel besser sein.

26

402

285.

Die Behandlung der zweiten Art von Lähmung be- ginnt unmittelbar nach dem Paroxysraus. Hier ist nun die Frage aufgeworfen worden , ob man sofort mit den kräftigsten Reizmitteln verfahren müsse, um das gefähr- dete Leben zu retten , oder ob man behutsam von schw ä- cheren Reizen zu kräftigeren übergehen müsse. Für das erste stimmen , die behaupten , die Betäubung nach dein Anfall könne nur durch äusserst lebhafte Reizung aufge- hoben werden; dann mag wohl die Brownsche Meinung von iudirecter Schwäche das ihrige mitwirken, dies Ver- fahren zu empfehlen. Allein abgesehen davon, dass die Brownsche indirecte Schwäche eine reine Chimäre ohne allen physiologischen Grund ist, verhält sich die Sache ganz anders, wenn man an das Krankenbett eine« vom Nervenschlag getroffenen tritt : man muss ihn allerdings durch Reize aus der Betäubung wecken, allein diese brau- chen keineswegs gewaltsam zu wirken. Man reibt ihn, giesst ihm kaltes Wasser auf den Kopf, hält ihm Ammo- nium oder Essigsäure unter die Nase, legt Sinapismen, ein Vesicatorium in den Nacken sind das so gewaltige Reizmittel? Wenn er aber anfängt, sich zu erholen, doch noch delirirt, lallt, gelähmt ist: wer würde dann auf ein- mal ihn mit gewaltigen Reizmitteln bestürmen? Das könnte allenfalls einen neuen Anfall wecken. Viel zweckmässiger ist, dass man vor allen Dingen sich danach richtet, ob der Kranke Fieber hat oder nicht. Hat er Fieber, so giebt man ihm ein Arnicainfusum mit ein wenig Aether, wenn nicht etwa andere Heilanzeigen zu erfüllen sind, er- setzt dann die Arnica durch Valeriana und fährt damit fort, bis er in den Zustand chronischer Nervenlähmung übergeht. Jetzt ist es Zeit, kräftigere Reize anzuwenden, doch immer mit behutsamer Berücksichtigung des indivi- duellen Kräftegradg und der unmittelbaren Wirkung: Re- geln hierin zu geben iit unmöglich , da die Individualität

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der Falle in nicht zu berechnender Verschiedenheit sich dar- stellt : die reizende Heilart anzuwenden ist die Regel. So gelingt es denn bald, dass sich die Lähmung mindert: die Erfahrung selbst giebt nun an die Hand, was am kräftig- sten wirke. Die höheren Grade der Lähmung, welche am längsten anhalten , erfordern dann allerdings auch die kräf- tigsten Reizmittel. Will also die Bewegung nicht wieder- kehren; bleibt der Kranke verstandlos, dann ist ein Ta- baksaufguss , abwechselnd mit starken Gaben von Asa foe- tida, angezeigt, Mittel, die man bei geringeren Graden der Lähmung nicht nötliig hat. Das Strüchnin, ein neuer- dings sehr empfohlenes Mittel, erregt Zuckungen und kann leicht tödtlich wirken.

*86.

Es ist noch übrig , der Lähmung einzelner Organe zu gedenken und die Mittel zu erwähnen, die man diesen entgegensetzt. Eine der übelsten ist die Lähmung des Gesichts , der Augen. Es giebt vier Arten derselben ; die eine trifft den Sehnerven selbst, die andere den Ciliar- plexus; beide haben gänzlichen Verlust der Sehkraft zur Folge, aber bei der ersten bleibt die Pupille beweglich, bei der zweiten ist sie gelähmt, weit offen. Die dritte Art besteht in Lähmung eines einzelnen Augenmuskels ; am öftersten ist es der Rolhnuskel , der gelähmt wird. Die vierte Art ist, wenn alle Augenmuskeln gelähmt wer- den. Beide Fälle sind nicht sehr häufig, am seltensten der letzte. Die galvanische Elektricitäl möchte das einzige bestandene Mittel sein , dessen Anwendung hier angezeigt wäre. Lähmung des Sehnerven wird äusserst selten ge- heilt und erfordert grosse Behutsamkeit der Behandlung: man hat narkotische Mittel dagegen noch am ersten mit Erfolg angewendet, besonders das Extract der Pulsatilla, nigricans. Ist starkes Licht die Ursache der Lähmung, so muss das Auge sehr vor Licht geschützt und der Ver- dunstung von Kampher ausgesetzt werden. Bei Lähmung

26 t

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der Pupille nützt dies Verfahren nichts: man muss Niese- mittel anwenden, ein Vesicator an den Schläfen unterhal- ten und innerlich Phosphorsäure nehmen lassen.

Lähmungen der Zunge kommen seltener vor, als die gemeine Meinung ist ; man verwechselt mit ihnen Läh- mung der Sprachmuskeln, also der des Kehlkopfs: diese sind häufig. Ist die Zunge gelähmt, so ist sie allemal auch geschwollen und es ist gut, sie mit Kamphergeist zu bestreichen. Cajeputöl, Tinctur von Pimpinelle und Ca- jennepfeffer beizen wohl die Zunge, helfen aber nichts. Es giebt nichts, was die Lähmung der Sprachmuskeln so schnell und so kräftig aufhebt, als die Asa foetida. Von der Digitalis, in Pulver, zu drei bis vier Gran täglich, kann man sich ebenfalls gute Wirkung versprechen : dies Mittel reizt stark den herumschweifenden Nerven.

Lähmung des Sphinkters des Mastdarms ist ein tödt- liches Zeichen : wenn der Kranke nach dem Anfall ganz betäubt ist und man lässt ihm Klystiere geben , die aus dem gelähmten Sphinkter wieder herauslaufen, als aus ei- nem todten Schlauche, so hat man nicht viel zu hoffen. Das einzige , was man anwenden kann , ist ein starker Ta- baksabsud zum Klystier: wird der zurückgehalten , so kann man hoffen , dass das Leben wiederkehre. Lähmung der Harnblase aber ist nicht tödtlich, obwohl sehr schwer zu heilen. Oertliche Mittel leisten gar nichts; das beste ist der innere Gebrauch der Kanthariden. Dies Mittel gehört überhaupt unter die kräftigsten, wo es darauf ankommt, die Thätigkeit des Systems der Ganglien aufzuregen ; am ersten passt es für betagte Kranke.

Bei der Lähmung der Extremitäten nach Nervenschlag helfen keine besondere Mittel , sondern nur die allgemei- nen; die topischen Reizmittel sind mehrentlieils vollkom- men unwirksam , und dennoch hat man sich ihrer seit Jahrhunderten bedient und fährt immer noch damit fort.

Bei allen Arten von Lähmung darf man nie verges-

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sen , dasi ein recht kräftiger Wille das erste aller Reiz- mittel und das natürlichste ist : man muss also nichts un- terlassen , was dazu führen kann , diesen zu bestimmen.

Cap. XIX. Von der Entzündung de* Ge- hirns und seiner Häute und von den Folgen der Entzündung dieser

Organe.

28T.

Eg ist bereits (§. 68.) erklärt worden, dass und wa- rum das Gehirn sich selten entzünde, welche Eigenschaft es mit den beiden andern Hauptcentris des Lebens, dem Herzen und dem Magen , theilt. Dass je das Gehirn in seiner Totalität sich entzünden könne , halte ich für un- möglich; das Leben muss ja wohl weit früher enden, als es so weit kommen kann, denn wie überall, so hebt ohne Zweifel die Entzündung auch die Function des Gehirns auf. Folglich können nur einzelne Parthien desselben sich entzünden: es entsteht die Frage, wie es dadurch verän- dert wird. Flourens, dessen höchst interessante Ver- suche über das Gehirn ihm Gelegenheit gaben , Entzün- dungen dieses Organs oft zu beobachten, sagt, dass es an- schwelle , gerade eben so , wie alle andere Organe. Mög- lich , dass dies der Fall ist, wenn die Entzündung bedin- gende Ursache einen Theil desselben entfernt , wodurch leerer Raum in der Schädelhöhle entsteht ; dies war der

i

Fall immer bei den Flourens’schen Experimenten : man würde eben hieraus nichts für die gewöhnlichen Entzün- dungsfälle folgern können, denn das Gehirn füllt die Schä- ijelhöhle aus und lässt keinen Raum für Anschwellung ei-

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ner einzelnen Parthie; erfolgt sie, so müsste sie nothwen dig die benachbarten Hirntlieile drücken und ausser Fun- ction setzen; es würde folglich jede Entzündung eines Hirntheils wo nicht Apoplexie, doch sicher Lähmung zur Folge haben. Allein das widerstreitet aller Erfahrung: wir werden daher am sichersten gehen, wenn wir bemer- ken, was bei Wunden, die den Schädel verletzen und das Gehirn entblösscn, für Veränderungen vorgchen. Hier sehen wir aber allemal die zugleich verletzten Ilirnparthien zu- erst ihre Farbe verändern und dunkler, am Ende schwarz- grau werden; zugleich werden sie iveich , endlich verlieren sie ganz ihre organische Bildung und verwandeln sich in Eiter. Treffen wir auf Eiter im Gehirn , namentlich in der Marksubstanz der Hemisphären , wo wir eg am öfter- sten finden, so ist dies von weisser Farbe, auch zeigt sich die graue Färbung nicht im Umkreis des Sacks , der das Eiter enthält. Wir vermuthen daher, dass die graue Färbung nur durch den Zutritt der Luft geschehe. Der Erfolg ist übrigens derselbe, wenn durch äussere Gewalt der Schädel zerbrochen und das Gehirn verwundet wird , oder wenn Caries die Schädelknochen ergreift und ein Theil derselben verloren geht, so dass das Hirn blos wird. Ja selbst wenn das Gehirn nicht entblösst, sondern blos gedrückt wird, finden wir allemal die Hirnparthie, auf welche der Druck gewirkt hat, erweicht , namentlich bei venerischen Tophen der innern Schädelfläche. Wir haben also Grund , anzunehmen , dass die Veränderung , welche Entzündung in der Hirnmasse , so lange nicht ein Theil derselben verloren und dadurch leerer Raum im Schädel entstanden ist, hervorbringt, in Erweichung derselben be- stehe. Wenn die Schädelhöhle ganz ist, so kann nicht fehlen , dass in Folge dieser Erweichung der entzündete Theil den benachbarten nicht den gewohnten Widerstand leistet, dass also diese sich auf Kosten desselben ausdeh- nen und dessen Umfang verkleinern. Entzündung eines Hirn- ftheils hat also das Gegentheil von Anschwellung zur Folge,

40t

2SS.

Die Erweichung einzelner Hirntheile int schon längst und oft bemerkt worden ; Recamier hat daraus eine tigen- thümliche Hirnkrankheit erklären wollen, doch ist kein Grund, sie nicht als die Folge und don Beweis von Ent- zündung anzusehen. Es entstehen aber die Fragen, 1) was hieraus für die thierische Oekonomie und für die Sensibi- litätsäusserung folge? 2) wie sich die erweichte Hirnpar- thie weiter, verändere ?

Morgagni fand bei Hemiplegie der rechten Seite den linken Thalamus n. optici erweicht; es ist nicht bemerkt, dass ein apoplektisclier Anfall der Lähmung vorausgegan- gen. L’Allemand fand bei Verlust der edlen Sinne und Lähmung des rechten Arms, ohne a poplektischen Anfall den linken gestreiften Körper erweicht. Abercrombie fand nach Zuckungen, Kopfschmerz, Photophobie und zuletzt Schlafsucht Erweichung des hintern Lobus der linken He- misphäre. Morgagni fand bei einem Epileptischen den hinteren Tlieil beider Sehnervenhügel erweicht. Diese Beobachtungen stimmen so weit mit den meinigen überein, dass ich bei allen , wo ich Erweichung in den Ganglien- körpern der Schädelbasis fand , Lähmung ohne deutlichen apoplektischen Anfall beobachtet hatte : wo aber neben der Erweichung sich auch andere Fehler vorfanden, als Blut- infiltrationen, Extravasat, Anhäufung von Serum, da wa- ren auch fieberhafte Erscheinungen oder Apoplexie vor- ausgegangen. Man findet nicht häufig blosse Erweichung, sondern fast immer, wo diese ist, auch andere pathologi- sche Veränderungen des Gehirns, daher es nicht so leicht ist, als man erwarten sollte, zu bestimmen, welche Er- scheinungen auf die Erweichung allein folgen. Indessen glaube ich der Wahrheit am nächsten zu kommen , wenn ich Lähmung ohne Apoplexie dafür erkläre. Da alle Hy- datiden dieselbe Erscheinung hervorbringen , sind wir des- halb in der Diagnose dieser Hirnerweichung nicht sicherer;

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Ganz besonders befremdet aber, dass nicht fieberhafte Symptome die Erweichung begleiten: wie ist zu begreifen, dass partielle Entzündung des Hirns ohne Fieber statt fin- den soll? Gleichwohl bestätigen dies alle Beobachtungen. - Ein 24jähriges Weib war öfters syphilitisch gewesen, hatte Tophen der Schienbeine, Knochenschmerzen. Plötz- lich bemerkt sie, dass sie auf dem linken Ohr gar nichts hört. Fünf Tage nach absolutem Verlust des Gehörs auf dem linken Ohr bemerkt sie ein krampfiges Zucken der linken Seite des Gesichts, besonders des linken Mundwin- kels; zugleich fliesst eine heftig stinkende Jauche aus dem linken Ohr. So kam sie in meine Behandlung. Der Aus- fluss roch, wie cariöser Ichor riecht, Mar blutgefärbt, färbte die silberne Sende schwarz ; da® Zucken erstreckte sich auch auf den Hals, den linken Arm, doch scherzte und lachte sie, ass mit dem besten Appetit; blos in der Nacht klagte sie über bohrende Schmerzen. Den folgenden Tag erlitt sie einen sehr heftigen epileptischen Anfall, den ersten in ihrem Leben. Nach 36 Stunden folgte ein zweiter und Bach Ende desselben folgte heftiges Irrereden, leichtere« Zucken, ungleiche Respiration, Erkalten der Extremitäten, der Tod. Die Obduction zeigte den Felsentheil des linken Schläfebeins völlig cariös, das darüber liegende Gehirn schwarz gefärbt, gänzlich in weichen Brei aufgelöst. Man gelangte mit leichter Mühe durch den äusseren Gehörgang in das Gehirn, da der Knochen überall zerfressen war. Und nicht eine Spur von Fieber hatte statt gefunden , eben so wenig Kopfschmerz, ausser des Nachts, wo «ie jedoch arst in den letzten Tagen über den Kopf, früher blos über die Schienbeine geklagt hatte.

280.

**■»

Ich hoffe, diese Beobachtung werde hinreichen, dar- zuthun, dass Fieber nicht nothwendige Folge der Hirn- entzündung sei ; will man mehr Beweise , so darf man nur ^ämmtliche Kranke ansehen , die Tophen in der Schädel-

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hölile haben : man wiril ihren Puls wohl langsam , ihre Augen schielend finden , sonst aber keine andere Erschei- nungen, als die der Syphilis gewöhnlich sind, und doch muss nothwendig der Tophus das Hirn drücken und an seiner Stelle entzünden. Was aber die Veränderungen der Sensibilität betrifft, so richten sich diese nach der beson- dern Function des ergriffenen Hirntheils und hier ist höchst auffallend , dass Erweichungen , also Entzündungen einzelner Stellen der grossen Hemisphären ganz ohne Läh- mungssymptome vorzukommen pflegen, allein Erweichun- gen der Ganglienkörper an der Schädelbasis allemal mit Lähmung verbunden sind. Indem unter der ganzen Wöl- bung des Schädels nichts liegt, als die grossen Hemisphä- ren, wird klar, warum äussere Gewalt und Veränderungen am Cranium nicht eher Veränderungen der sensiblen Fun- ctionen zur Folge haben, als bis sie sehr gewaltsam sind. Eine zweite sehr auffallende Erscheinung ist, dass selbst in den Hemisphären, die doch ein Continuum bilden, die Entzündung sich nie viel weiter erstreckt, als die Gewalt wirkt, welche sie erregt und dass das Organ nie in sei- ner Totalität ergriffen wird. Wo namentlich ein Tophus ist, der nach innen drückt, so entsteht im Umkreis von etwa einem Cubikzoll Erweichung der Hirnmasse und die ganze übrige Hemisphäre bleibt gesund. Dies ist eben so auffallend bei Hirn wunden ; nicht weiter, als siegehen, wird es missfarbig, grauschwarz und weich; dicht daneben ist die Masse gesund. Hierin verhält sich das Gehirn ao, wie alle Eingeweide, denn wir finden in den Lungen, in der Leber , im Magen ebenfalls häufig nur entzündete Stel- len und in den Därmen finden wir sogar nie allgemein verbreitete Entzündungen. Allein wir finden doch zuwei- len die Totalität eines andern Eingeweides entzündet, die des Gehirns nie.

410

290.

Hiermit ist die alte Meinung von der Phrenitis für immer widerlegt: es giebt keine Phrenitis, keine allge- meine Entzündung des Gehirns: was man dafür gehalten hat, war entweder Delirium tremens, oder Petechialfieber oder lutes tinaltyphus , oder auch wohl Entzündung der

Hirnhäute» Das Delirium bei diesen Fiebern hat irre ge- führt und man vernachlässigte die Obduction. Gerade bei Entzündungen des Hirns kommt Delirium als Symptom sehr selten vor; nur in den letzten Augenblicken vor dem Tode wird es bemerkt. Weit eher folgt Lähmung, auch

wohl Convifhion. Das Gehirn ist völlig empfindungslos,

ein Umstand, den die neue Zeit erst entdeckt hat, da

man sonst allgemein das Gegentheil glaubte: ein wenig Reflexion hätte längst darauf führen können. Denn das Gehirn ist das Empfindungsorgan selbst , wenn nach ihm hin die AfFectionen der andern Organe reflectirt werden. Wird es aber selbst beleidigt, so findet keine Reflexion eines andern Organs auf dasselbe statt die Bedingung des Empfindens fehlt ; es empfindet nur den Reiz auf den äusseren Pol ; unmittelbare Reizung des inneren wird nicht empfunden. Von dieser Thatsache kann uns jede Hirn- wunde überzeugen : wir können da das Gehirn mit Sonden, mit den Fingern berühren, ohne dass der Kranke davon das geringste merkt. Diese Unempfindlichkeit raubt aber eins der Hauptzeichen der Entzündung, den Schmerz; er fehlt bei derselben gänzlich. Also weder Fieber, noch Schmerz, noch Delirium; nicht immer Lähmung, nicht immer Bewusstlosigkeit, nicht immer Convulsionen , doch zuweilen, sind die Folgen von Entzündung einzelner Ilirn- organe. Eine zuweilen eintretende Nebenfolge ist Erbre- chen. Da alle diese Erscheinungen weder in bestimmtem Zusammenhang sich wiederholen , noch allein von Entzün- dung des Hirns , sondern vielmehr auch von tausend ap.

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dem Ursachen abhanden können, giebt es gar kein siche- res Zeichen derselben; die Diagnose bleibt schwankend*

291.

Eben so schwankend ist die Diagnose des Hirneiterg. Wenn nämlich die Entzündung sich nicht zertheilt, so geht sie in Eiter über, aber auch davon giebt es keine sichere Zeichen und es ist unglaublich , wie lange Eiter im Ge- hirn verweilen kann, ohne dass es bedeutende Folgen her- vorbringt. Nämlich alles kommt darauf an , ob das Eiter diffus im Gehirn ist oder ob es sich eben so, wie in allen andern Organen , in einen Sack , in eine Aftermembran , einschliesst: bei Eiterungen von innerer Ursache ist im- mer letzteres der Fall (s. §. 68.). Liegt das Eiter in der Marksubstanx der grossen Hemisphären in einem Sack eingeschlossen, so kann es viele Jahre ohne alle bestimmte Hirnzufälle verweilen, aber im Augenblick, wo es diffun- dirt wird, erfolgt der apoplektische Tod. Eine Frau von 42 Jahren, die sich durch Taglohn, besonders durch Waschen, ernährte, verfiel in hitzigen Rheumatismus, mit Anschwellung eines Knies. Es wurde ihr ein Brechmittel verordnet, obgleich keine Darmunreinigkeiten sich aus- zeichneten ; das Erbrechen erfolgte leicht. Der Schmerz und die Geschwulst des Knies nahmen nach zwei Tagen ab und eine Hand ward ergriffen ; plötzlich fährt die Kranke vom Bett auf, ruft die Wärterin, weil sie sich brechen müsse, aber ehe diese hinzueilt, sinkt sie todt nieder. Die Obduction zeigte in der Brust- und Bauch- höhle alle Theile geiund, aber bei Eröffnung des Schädel* fand sich eine Menge Eiter auf den Gyren der linken Hemisphäre ; die Mitte derselben enthielt eine Höhle , in welcher gewiss drei Unzen Eiter Raum gefunden hatten. ' Kein Mensch wusste, dass dies Weib je über Schwindel, Kopfschmerz oder irgend ein chronisches Uebelbefinden geklagt hätte. Zuweilen finden wir noch verschlossene» Fiterabgcesse im Gehirn, die kein Mensch geahndet hat 3

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der Tod ist dann gewöhnlich unter Umständen erfolgt, die ausser Zweifel setzen, dass dieser Abscess damit nicht daa mindeste zu schaffen hatte.

292.

Die Ursachen , die das Ilirn entzünden können , sind :

a) äussere Gewalt. Sie kann entweder den Schädel zertrümmern oder nicht: im ersten Fall ist das Gehirn wo nicht verwundet, doch gedrückt, wenn Stücke der in- neren Tafel nach innen gepresst sind. Blosse Fissuren des Schädels veranlassen ira Gehirn keine Veränderung. Ist der Schädel nicht zertrümmert, so können gleichwohl Extravasate sich bilden , oder das Gehirn wird blos er- schüttert. Erstere bringen, je nach ihrer Lage, Sopor, Lähmung , Convulsionen hervor ; bei der Erschütterung kommt es auf deren Grad an. Ein sehr heftiger lähmt das Hirn so, dass zu keiner Entzündung kommt; ein schwacher veranlasst blos vorübergehende Betäubung , also gewiss nicht Entzündung. Wenn aber nach der Erschüt- terung die Betäubung mehrere Tage anhält, erholt sich wohl endlich der Kranke , aber man findet doch gewöhn- lich, wenn er, nach Jahren vielleicht , stirbt, Abscesse im Gehirn, meistens der Stelle nahe, auf welche der erschüt- ternde Stoss am stärksten wirkte.

b) Caries der Schädelknochen. Die der äusseren Ta- fel wirkt nicht auf das Gehirn ; wird aber die innere Ta- fel ergriffen, so muss nothwendig auch das Gehirn sich an dieser Stelle entzünden, wenn Periostium , Hirnhäute, sich abtrennen, entzünden, verändern, folglich die Hirn- substanz bedeutend reizen.

c) Nach innen drückende Knochengeschwülste des Schä- dels. Ihr Druck vermehrt sich zwar allmählig und wir haben andere Beispiele, dass das Hirn dies trägt, ohne sich zu entzünden ; namentlich geschieht dies nicht bei der Hydatidenbildung , eben so wenig, als bei Extravasa- ten , die von innerer Ursache entstehen. Doch die Härte

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der Knochenanschwellungen macht, dass trotz der allmäh- ligen Vermehrung des Drucks dennoch Entzündung entsteht.

d) Von äusserer Gewalt entstandene Extravasate. Nach der Trepanation oder bei der Obduction finden wir dann die Membranen, so weit das Extravasat liegt, getrennt und in verändertem Zustande, zugleich das Gehirn an der ver- letzten Stelle vereitert oder zerstört und Eiter zwischen die Gyren ergossen.

e) Innere Ursachen, deren nähere Angabe bei der jetzigen Stufe der Beobachtung der Erweichung des Ge- hirns annoch unmöglich ist. Hier ist eine Lücke, welche die Erfahrung noch auszufüllen hat. Bios negativ können wir bestimmen, dass Leidenschaften , überhaupt sensible Schädlichkeiten, das Gehirn niemals entzünden, denn dazu ist ihre Wirkung zu transitorisch. Wäre die Diagnose ge- wisser, entwickelte sich die Entzündung schneller, so hätte mail längst genauere Kenntniss von den inneren Ur- sachen ihrer Entstehung. Dies wäre um so wünschens- werter, weil alsdann das entzündungswidrige Heilverfah- ren mit viel grösserer Bestimmtheit angewendet werden könnte, um den Uebergang der Erweichung in Eiterung zu verhüten. Ist einmal Eiterung entstanden, so hängt das Leben von der Haltbarkeit des Sacks ab , in den es eingeschlossen ist, es sei denn, dass man es entfernen könne. Dies kann aber nur bei Caries oder bei traumati- schen Ursachen der Eiterung geschehen. E* ist zu be- wundern , welche grosse Stücke der Hemisphären bei sol- cher Gelegenheit vereitern und verloren gehen können, ohne Verlust des Lebens nicht nur, sondern ohne bemerk- baren Verlust der Geisteskraft : die ganzen sensiblen Fun- ctionen dauern ungestört fort. Bei Hiebwunden des Schä- dels habe ich eine ungeheure Menge Eiter ausfliessen sehen, und die Kranken genasen vollständig, blieben ao gut bei Verstand, als wäre ihr Hirn nie verletzt gewesen. Man sollte wirklich manchmal auf die Meinung des Aristoteles zurückkommen , dass das Hirn blos da sei 9 das

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Blut abzukühlen. Flourens behauptet, der geringste Rest Einer Hemisphäre genüge zu allen möglichen Operationen der Vorstellungskraft gerade eben so vollständig, als beide Hemisphären in voller Integrität. Das würde freilich mit Galls Theorie nicht stimmen; möglich, dass nur eine He- misphäre genügt und Verletzung beider zugleich Verlust der Geisteskraft nach sich zieht. Meine Erfahrungen von glücklichen Heilungen nach grosser Hirnvereiterung sind wenigstens sämmtlich nur von solchen Fällen, wo blos eine Hemisphäre vereiterte.

293.

Weit bestimmter sind die Zeichen der Entzündung der Hirnhäute. Von diesen hat besonders die Arachnoi- dea in der neuesten Zeit eine wichtige Untersuchung ver- anlasst. Bichat gebührt das unsterbliche Verdienst, zuerst auf die Natur und Eigenthüinlichkeit der verschiedenen Membranensysteme aufmerksam gemacht zu haben ; nach ihm verfiel inan in den Fehler, jeder Membran, sobald sie classificirt war , alle Besonderheit abzusprechen und ihr blos die allgemeinen Eigenschaften ihrer Klasse zuzu- gestehen. Daraus folgten Widersprüche , die auch auf die Hirnmembranen sich ausgedehnt haben, desonders auf die Arachnoidea und ihre Entzündung. Alle drei Membra- nensysteme haben ihre Repräsentanten in der Schädel- höhle, die fibrösen sogar doppelt, denn das innere Perio- stiuin des Schädels sowohl, als die harte Hirnhaut gehören zu denselben. Gleichwohl fällt schon in die Augen, wie höchst verschieden die Eigenschaften allein dieser beiden Membranen sind. Der grosse Gefässreichthum der wei- chen Hirnhaut bestimmt die Physiologen, sie dem System der Schleimmembranen beizugeselien , von welchen sie sich übrigens gänzlich unterscheidet. Alle andere Schleiminem- branen kleiden die inneren Flächen, welche mit der Aua- senwelt in Berührung kommen, wie die Nasen-, die Mund- höhle , die Bronchien, den ganzen Darmcanal, das Ham«

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System , das der weiblichen Geschlechtsteile ; daher bil- den sie mit der Haut überall ein Continuura. Die weiche Hirnhaut hat weder mit der Haut , noch mit der Aussen- welt das allermindeste zu schaffen. Alle Schleiinmembrane haben ferner Nerven, die sich in ihnen verbreiten und gewähren eine Menge von Sinnenempfindungen; die weiche Hirnhaut ist gänzlich ohne Gefühl, ohne Nerven. Vor- züglich aber, was die Absonderung betrifft, so ist diese allen Schleimhäuten wesentlich, aber der weichen Hirn- haut nicht, sie soll blos isoliren, gleich dem Peritonäum, das die Baucheinge weide umkleidet. Von dieser Seite gränzt sie an die serösen Häute. Doch die Spinnweben- haut steht diesen übrigens näher, ob sie gleich nichts iso- lirt, als die Hirntheile und die Berührung zwischen der harten und weichen Hirnhaut hindert. Sie ist durchsich- tig, die andern serösen Membranen sind blos durchschei- nend. Sie ist eben so wie diese ohne Nerven und Gefässe (ich muss mich wundern, so oft von den angeschwollenen und ausgedehnten Gefässen der Arachnoidea zu lesen ich habe deren nie gesellen). Eben so wie die serösen Häute sich oft verdickt zeigen, sieht man auch die Arach- noidea oft stellenweis undurchsichtig und verdickt, ja manchmal in bedeutendem Grade, allein während Pleura und Peritonäum sich oft von angeschwollenem Zellgewebe umgeben zeigen, das von ausgedehnten kleinen Gefässen strotzt, ist in der Nähe der Arachnoidea nie dergleichen. Dafür verklebt sie sehr häufig mit der harten und noch häufiger mit der weichen Hirnhaut und sowohl über als unter ihr werden krankhafte Secreta gefunden , gerade wie man auf den nach den Höhlen gekehrten Flächen der Pleura und des Peritonäums sieht.

2D4.

Diese Secreta sind:

a) Serum. Es findet sich am häufigsten in den Sei- tenventrikeln , ja so häufig, dass die Frage nicht völlig1

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entschieden ist, ob es nicht zur Normalität gehört. Doch in sehr plötzlich getödteten Menschen, die völlig gesund waren und keine Todesangst litten, wie hingerichtete Ver- brecher, finden wir keines. Wahrscheinlich ist jedoch ein dem vapor abdominalis ähnliches Gas in diesen Ventrikeln, das sich nach dem Tode als tropfbare Flüssigkeit zeigt. Doch kann sich diese auch im Leben so anhäufen , dass sie die ganze Höhle ausdehnt , in die übrigen Höhlen dringt und besonders die vierte widernatürlich erweitert. Ferner finden wir sehr häufig Serum in sehr grosser Menge zwischen den Gyren und der Spinnwebenhaut, sehr selten aber zwischen der harten Hirnhaut und der Spinn- webenhaut.

b) Flockige Massen. Diese schwimmen am häufigsten im Serum , das sich über die Oberfläche des Hirns ergos- sen hat, selten in dem Serum der Seitenventrikel. Zu- weilen sind sie aber in ziemlicher Menge unter der Arach- noidea, ohne dass man Serum wahrnimmt, für sich, als talgige Körner, die manchmal ziemlich fest auf der pia kleben.

c) Lymphatische Massen. Dafür kann ich jene Flok- ken nicht erkennen, denn sie verbinden nicht; die Eigen- schaft des Serums , zu gerinnen , erklärt ihr Entstehen hinreichend. Aber zuweilen sind wahrhaft lymphatische Stoffe ausgeschieden, welche die Membranen untereinan- der verkleben und wenn deren vorhanden sind , findet man allemal die Arachnoidea verdickt und undurchsichtig, doch nur stellenweis; ich habe sie niemals ganz verwandelt gesehen.

Eiter oder Blut, was oft genug ergossen ist, kann nicht als Secretum der Hirnhäute angesehen werden; min- destens ist dieser Ursprung solcher Ergüsse unerweislich.

295.

Serum und flockige Masse, doch bei weitem häufiger dllein das erste findet sich auch ursprünglich oft in den

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Hirnhöhlen, besonders in den beiden Seitenventrikeln , In sehr verschiedener Quantität. In geringer fehlt es in den beiden Seitenhöhlen selten ; dann sind die dritte und vierte Hirnhöhle frei. Ist aber in den ersten Höhlen viel Serum, so sind auch die beiden letzten gefüllt; bei Blödsinnigen ist die vierte Hirnhöhle allemal von Serum stark ausge^ dehnt. Dem praktischen Arzte gilt es völlig gleich, wel- ches Organ diese Secreta absondere; möge sie die pia, oder die dura, oder die arachnoidea , oder die Aderliaut der Seitenventrikel absondern oder was sonst: wenn er nur weiss, unter welchen Bedingungen diese Absonderung geschieht, wie er verfahren muss, sie zu hindern und aus welchen Erscheinungen er wissen kann, dass diese Abson- derung erfolgen werde oder eben erfolge , oder wenn er nur, falls sie begonnen hat, weiss, wie er die Secretion und ihr Resultat aufheben soll. Allein dies ist eine sehr weitläufige Kenntniss, denn die Bedingungen, unter wel- chen Serum in der Schädelhöhle sich bildet, sind eben so verschieden, als die Folgen, welche diese Bildung hat.

Man kann im ganzen folgende Hauptursache der Se- rumbildung in der Schädelhöhle annehmen :

a) Entzündung der Hirnhäute. Es ist, wie schon er- wähnt, äusserst gleichgültig, zu wissen, welche der drei Hirnhäute sich entzünden muss, um Serum abzusondern: viel wichtiger ist zu wissen, ob jede Entzündung der Hirn- häute nothwendig Serumbildung zur Folge hat, oder ob sie nur auf gewisse Arten der Entzündung folgt. Hier zeigt sich, dass Verwundung der Hirnhäute keine veran- lasst. Wir wissen aber, dass jede traumatische Entzün- dung phlegmonös ist und setzen deshalb als entschieden fest, dass nur die erysipelatösen Entzündungen der Hirn- häute Serumbildung nothwendig veranlassen. Gerade das- selbe geschieht bei allen Membranen. Nicht die phlegmo- nösen, sondern die erysipelatöse Entzündung der Schleim- häute ist mit kranker und vermehrter Secretion verbun- den ; die phlegmonöse hebt sie auf. Dies geschieht im

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Auge, ln der Nase, der Mundhöhle, den Fanelbu», dem Kehlkopf, den Bronchien, der Harnröhre, also überall in den Schleimmembranen, die wir sehen und wir können mit Gewissheit folgern , dass es eben so sei bei denen die wir nicht sehen. Gerade so mit den serösen: die Pleura kann verletzt werden , folglich ohne Zweifel sich phlegmonös entzünden, ohne dass sie Serum absondert, desgleichen das Peritonäum , aber entzünden gich diese Membranen erysipelatös, so erfolgt Hydrops unfehlbar. Daher der Bauchstich bei Ascites, der seinen Grund im Peritonäum hat, den Kranken allemal tödtet, denn die Stichwunde veranlasst im schon kranken Peritonäum noth- wendig neue erysipelatösa Entzündung; ist aber die Ur- sache im Ovarium oder sonst in einer Aftermembran, so kann die Paracenthese helfen. Die Paracenthese der Brust hat nicht diese Folge, weil die Pleura nicht mit den Troicart durchstochen , sondern zerschnitten wird , worauf nicht so bestimmt erysipelatöse Entzündung folgen muss. Mit den Flechsenhäuten ist es derselbe Fall: Wunden der- selben haben sehr oft keine seröse Absonderung zur Folge, wohl aber die arthritische oder rheumatische Entzündung, die allemal erysipelatösen Charakters ist. Syphilitische Entzündung derselben hat ihn nicht und ihr folgt auch niemals seröse Anschwellung , ausser der seltenen nach Blennorrhöen der Muttersclieiöe oder der Harnröhre.

b) Unvollkommene Entwickelung im Fötus. Die Fö- tusbildung beginnt von der eiförmiger Membranen : aus diesen entwickeln sich allmählig die Organe (vergl. Bur- dachs Physiologie , Bd. II.). Wenn irgend eine nicht nä- her bestimmbare Ursache diese Entwickelung hemmt , so entwickelt sich das Hirn nur höchst unvollkommen , aber statt desselben Serum in den Membranen des Kopfs. Dies ist die Ursache des angebornen Wasserkopfs , der von der Akephalosbildung bis zum schwächsten Grade ungemein viele Abstufungen hat, manchmal die Knochenbildung auf- hebt, andremale sie blos verändert, manchmal Mos inner-

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halb dev Schädelhöhle statt findet, manchmal auch ausser- lieh, das Leben nacli der Geburt zuweilen unmöglich macht, andremale die Fortdauer desselben länger oder kürzer verstattet.

c) Unvollkommene Ernährung. ■>— Ernährung ist Ver* Wandlung des Blutes in organische Substanz durch die Kraft der kleinen Gefässe. Ist diese nicht ganz so kräftig, als sie sein sollte, so verwandelt sich ein Theil des Blutes in Fett ; bei noch grösserem Grade der Schwäche dersel- ben verwandelt sich das Blut in Serum eine der wich- tigsten und allgemeinsten Ursachen der Hydropenbildung» Bei noch höherem Grade der Schwäche der kleinen Ge- fässe entsteht Eiter und beim höchsten Ichor , Jauche» Der Grad der Schwäche , durch welchen das Blut statt in organische Substanz in seröse Flüssigkeit verwandelt wird, kann auch bei den kleinen Gefässen innerhalb der Schä- delhöhle statt haben, folglich Hydrops sich hier aus den- selben Ursachen bilden, aus welchem er sich überall bil- den kann. Wir sehen daher bei allgemeiner Wassersucht sehr oft dem Tode Imbecillität , Schlafsucht, Verlöschen der Sinnlichkeit vorausgehen und finden dann allemal im Leichnam eine Menge Wasser unter der harten Hirnhaut, in allen Hirnhöhlen, das Gehirn selbst aber in einen wei- chen Brei verwandelt. Es ist höchst wahrscheinlich , dass Angst, dass niederschlagende Leidenschaften schon hinrei- chen, diese Art von Serumbildung in den Seitenventrikeln hervorzurufen, und dass dies die Ursache ist, warum wir eine geringe Quantität Serum in denselben hei allen vor- finden, die nach ausgestandener Todesangst gestorben sind, selbst bei hingericliteten Verbrechern, aber nicht bei Men- schen , die in voller Gesundheit ohne Vorgefühl des Todea sterben , z. B. bei zufällig erschossenen , hei vom Blitz ge- tödteten, bei Soldaten, die im Angriff fallen, aber gleich tödtlich getroffen werden. Nichts ist aber gewisser, als dass tausendmal im Lauf des Lehens dies Serum entsteht und wieder verschwindet.

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296.

Alle denkbaren Ursachen des Hydrocephalus reduciren ■ich auf diese drei; von manchen ist es nicht recht klar, zu welcher sie eigentlich gehören, z. B. von der Hirner- schütterung; diese kann Entzündung, sie kann aber auch Unvermögen der kleinen Gefässe zur Verwandlung des Blutes bewirken. Nach diesen drei Ursachen muss die Krankheit eingetheilt werden; diese Eintheilung allein hat praktischen Werth und Realität; die Prognose sowohl, als die Heilmethode bestimmen sich nach derselben. Es giebt also Hydrocephalus von unvollkommener Entwickelung, entzündlichen Hydrocephalus und den von unvollkommener Ernährung oder Gefässscliwäche. Wir werden dieser Ein- theilung bei näherer Beurlheilung der Krankheit folgen Sonst hat man sie eingetheilt nach dem Verlauf, in acute, höchst acute , chronische woraus weder für die Heil- methode etwas folgt, noch überhaupt bestimmte Gränzen

hervorgehen , ferner nach dem Sitz des Serums , in Was-

»

«ersucht der Hirnhöhlen , in die zwischen den Hirnhäuten, zwischen der harten Hirnhaut und dem inneren Periostiura (welche Frank nie gesehen hat und welche auch mir nie vorgekommen ist), und in äusseren Wasserkopf, endlich ;in inneren und äusseren zugleich. Die Eintheilung in idio- pathischen , symptomatischen , metastatischen und consen- suellen Wasserkopf können wir füglich ganz übergehen. GöltSy der Mauptschriftsteller über diese Krankheit, der auch alle seine Vorgänger gekannt und benutzt hat, nennt den acuten Wasserschlag , apoplexia serosa , mit grossem Recht, denn die schnelle Absonderung des Serums thut genau dieselbe Wirkung, wie das Blut in dem heftigsten Grade des Blutschlags.

m.

Der Wasserkopf von unvollkommener Entwickelung des Fötus ist nicht Gegenstand der Therapie, sondern blos

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der Pathologie. Das Gehirn ist jedesmal unvollkommen entwickelt, allein die Grade sind verschieden von dem vollkommen akephalischen Zustand an bis zur blossen Er- weiterung der Hirnhöhlen. Eben so sind die Schädelkno- clien jedesmal unvollkommen gebildet, aber in den aller- verschiedensten Graden vom gänzlichen Mangel des Schä- delgewölbes an bis zur blossen Anomalie der Suturen. Auch diese ist nicht immer dieselbe ; zuweilen treten sie breit auseinander und dann ist auch äusserlich Wasserge- schwulst; zuweilen enden die Knochen in Knorpelmasse, welche sie statt der Suturen verbindet; der Kopf hat dann blos grössere Wölbung, als er normal haben sollte, aber äusserlich ist kein Wasser. Manchmal sieht man den Kopf von vorne völlig normal gebildet, aber hinten, nach dem. Nacken hin, beugt er sich über; andremale ist er hinten normal, aber die Stirn ragt weit über die Gesichtslinie vor. Seltener ist der Kopf in die Breite ausgedehnt, als in die Länge. Ist dies letzte der Fall, so kommt -auch wohl vor, dass die Scheitelbeine ganz lose stehen, ohne Suturen, und dann sich entweder unter das Stirn- oder Hinterhauptsbein , oder über diese Knochen hin schieben , wodurch eine seltsame Verkleinerung des Kopfes entsteht. Dieser Zustand nähert sich der Akephalosbildung schon mehr. Zuweilen weicht die Form des Kopfs bei der Ge- burt so wenig von der norinslen ab, dass dies gar nicht bemerkt wird; erst in einigen Monaten tritt die normwid- rige Form deutlich hervor. Daher auch wohl manche ge- meint haben, diese Art des Wasserkopfs sei erst nach der Geburt entstanden , was ich für unmöglich halte : alle

Wasserköpfe, die die Form des Schädels verändern, sind angeborne. Aber die Entwickelung folgt manchmal erst spät und wird dann bedeutend : ich habe Kinder beobach- tet, die im ersten Jahre sich ganz normal entwickelten, wuchsen, Verstand zeigten, ihrem Alter angemessen, und erst im vierjährigen Alter einen unförmlich grossen Kopf erhielten, dann schläfrig, imbeciil wurden und endlich,

nach Untergang der Sinne , unter convulsiven Bewegungen starben. Bei der Obduction fanden sich keine Suturen, sondern die Knochen endeten in Knorpelmassen , die so weit auseinander getreten waren , dass dieser ungeheure Kopfumfang hatte entstehen können. Hieraus und aus dem Offenbleiben der Fontanellen erhellt, dass der Was- serkopf schon im ersten Jahre, dass er schon vor der Ge- burt da war, dass aber die Masse des Wassers gering war und so glücklich lag, dass sie die geistige Entwickelung des Kindes sehr lange nicht hinderte, gerade wie spina bifida lange da sein kann, ohne Lähmung zu veranlassen. Demnach sind solche Wasserköpfe unheilbar und tödtlich, eben so, wie die vollkommene Akephalie. Schliesst sich die Fontanelle eines Kindes im Laufe des zweiten Jahres nicht; bleibt die Pfeilnaht getrennt, so kann man mit Gewissheit Voraussagen, dass das Kind nicht lange leben, sondern am Wasserkopf sterben werde, ob es gleich ganz gesund aus- sehen und viel geistige Anlage zeigen kann. Die Augen solcher Kinder verrathen den kranken Zustand ; sie pfle- gen gross hervorzustehen und dabei sich tief nach unten zu richten , so dass das obere Augenlied nur wenig vom oberen Rand der Cornea bedeckt. Ist schon äusserer Was- serkopf bei der Geburt vorhanden , so erschwert er diese; ist das Auseinandertreten der Knochen schon beträchtlich, ao ist die Folge dieselbe. Wenn die Geburt dadurch un- möglich wird, muss man das Wasser auslaufen hissen, wo- durch freilich das Kind getödtet wird, allein es geht dabei nichts verloren, denn solche Kinder können ohnehin nicht leben. Zuweilen senkt sich das Wasser nach der Schädel- basis und tritt zwischen dem Keilbein und dem Schläfe- bein als eine gewaltige Blase hervor. Sticht man in diese, so fliesst Serum aus, die Blase fällt zusammen; es treten Convulsionen ein und das Kind stirbt, manchmal erst zwei bis drei Tage nach dem Einstich. Man kann ihn unter- lassen, da er zu nichts nuui, allein macht man ihn, so schadet es nicht, da das Kind ohnedies nicht leben kann.

m

Man hat nicht unterlassen, allerlei Vorschläge zu thun, wie solche Wasserköpfe zu behandeln sind: man soll sie mit narkotischen Kräutern belegen ü. dgl. , Abführmittel geben , Kaloinel anwenden es ist natürlich , dass ein Kind, dessen Gehirn nicht normal gebildet ist, in dessen Schädel aber neben dem Gehirn eine fremde Bildung wu- chert, nicht lange fortlebe n kann. Die einzige Möglich- keit, es zu erhalten, wäre, wenn das Gehirn so stark vegetirte , dass es die fremde Bildung überwüchs und ver- drängte. Allein dazu könnte offenbar nichts anderes bei- tragen, als kräftige Vegetation im ganzen, Arzneien gar nichts. Die Vegetation des Hirn« ist gleich nach der Ge- burt und in den ersten Lebensjahren ohnehin so thätig, als sie im Leben nie wieder wird ; sie bedarf keiner Un- terstützung. Deshalb, wenn die Serum absondernde Mem- bran bei der Geburt noch wenig entwickelt ist, gedeiht das Kind anfangs recht gut und die Krankheit nimmt erst zu , wenn die stärkste Kraft des Hirnwachsthums vorüber ist, also im dritten Lebensjahre. Das Kind lebt so lange, als da« Verhältnis zwischen Hirnbildung und Afterbildung ver«tattet. Es kann Menschen mit angebornem Blödsinn geben, die die Jahre der Pubertät weit überschreiten ; der Blödsinn hat aber keine andere Ursache , als diese ange- borne Serumbildung und wenn man die Geschichte solcher Unglücklichen erfahren kann, vernimmt man immer, dass sie bis zum dritten Jahre recht gute Anlagen entwickelten, aber von da an immer stumpfsinniger wurden. Ihr Leben ist eine grosse Last für ihre Familien und es wäre zu wünschen , dass jeder District irgend ein Asyl für derglei- chen Halbmenschen hätte , da sie gar nicht selten sind.

298.

Hirnwasser sucht aus unvollkommener Ernährung kann zwar in jedem Lebensalter Vorkommen, folglich auch im Kindesalter , allein gewiss ist sie in keinem seltener, als in diesem, da die Ernährung des Hirns in ihm am kräf-

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tigsten ist. Mit äusserem Wasserkopf ist sie niemals ver- bunden, auch nie mit Missbildung des Schädels; die Kno- chen lässt sie jedesmal völlig unverändert. Sie hat kein einziges sicheres oder pathognomonisches Zeichen, viel- mehr ist gewiss, dass sie in ihren schwächeren Graden Millionenmal vorkommt, ohne bemerkt zu werden und spurlos vorübergeht, während sie in ihren höheren Gra- den dem Leben ein Ende macht. Am häufigsten kommt sie als Gehirnhöhlenwassersucht vor: die Erfahrung, dass in den Höhlen ganz gesunder Menschen , die blos Todes- angst litten, immer Serum gefunden wird, scheint zu be- weisen, dass leidenschaftliche Vorstellungen allein hinrei- chen, die Vitalität des Gehirns so weit herabzustimmen, dass hier Serum erzeugt wird. Denselben Erfolg scheint Schlaflosigkeit zu haben. Ist diese Vermuthung gegründet, so erhellt, dass diese leichteste Art von Serumbildung in den Hirnhöhlen zum Normalleben gehört, sehr oft entsteht und vergeht und nicht die geringste Störung des Wohlbe- findens veranlasst. Symptomatisch gesellt sie sich zu allen Fieberkrankheiten, die einen tödtlichen Ausgang nehmen, weil wir in den Leichen aller an irgend einem Fieber ver- storbenen dies Serum in den Hirnhöhlen , meistens sehr reichlich , finden. Allerhöchst wahrscheinlich kommt sie auch bei sehr vielen Fiebern vor, deren Ausgang glück- lich ist, da der Tod bei den ersteren nicht durch diese Serumbildung , sondern durch ganz andere Ursachen be- wirkt wird; sie verschwindet mit der Reconvalescenz von selbst. Bei den heftigsten Graden des Hydrops Anasarca entsteht sic kurz vor dem Tode: alsdann wird aber nicht blos in den Hirnhöhlen Serum abgesondert, sondern auch unter den Hirnhäuten, über den Gyren , ja in der Mark- substanz selbst, die wir breiig, wie aufgelösst, antreflen: solche Kranke werden schlafsüchtig , ehe sie aterben. Alle Herzkranke, die hydropisch werden, sterben durch diese Serumbildung; seltsamerweise sterben diese nie den Herz-, fod, sondern allemal apoplektisch , doch ohne gewaltsame

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Erscheinungen; erst, wenn der Hydrops den höchsten Grad erreicht hat, werden sie lethargisch, endlich ge- lähmt, und so Bterben sie. Blödsinnige und alte epilepti- sche haben jedesmal viel Serum in allen Ilirnhöhlen, be- sonders aber in der vierten: die Ausdehnung derselben beweist hinreichend, dass diese Serumbildung schon lange vor dem Tode begonnen haben muss, da sie die Höhle so erweitert hat. Beim Marasmus findet man unfehlbar viel Serum in den Seitenhöhlen , fast immer auch unter der harten Hirnhaut: möglich, dass die Erscheinungen der Altersschwäche grösstentheils allein von dieser Serumbil- düng abliängen. Denn steigt diese Art derselben in der Schädelhöhle so hoch, dass sie Krankheit erregt, so sind die bestimmten Erscheinungen, welche «ie erregt, Imbe- cillität und Schlafsucht, zugleich mit Verminderung der thierischen Wärme und Langsamkeit des Herzschlags, also gerade die Erscheinungen des Marasmus. Es ist zu be- zweifeln, dass die Heilkunst je anders bei diesem Hydrops zu wirken vermöge, als indem sie die Nutrition des Hirns beför- dert; ist diese blos temporär geschwächt und erholt sie sich von selbst, so verschwindet auch dieser Hydrops von selbst; kann sie sich nicht für sich erheben , so muss die Kunst sie durch die Mittel erwecken, durch welche sie im gegebe- nen Fall am ersten erweckt werden kann, also beim Blöd- sinne und der Epilepsie durch Opium, beim Wechselfieber durch Chinarinde , bei der Chlorose der Frauen durch koh- lensaures Eisen und Aloe oder ähnliche Arzneien, durch Sabina , bei lteconvalescenten von der Ruhr durch Kohlen- säure, bei solchen, die das Petechialfieber oder den Inte- stinaltyphus überstanden haben, durch guten Wein und freie Luft u. s. w. Ist aber die Nutritionskraft des Hirns unerwecklich , entweder weil sie zu Ende ist , wie beim Marasmus, oder weil in dem Vegetationgleben eine Haupt- bedingung der Integrität desselben aufgehoben ist, z. B. bei Herzkrankheiten, so hilft gar nichts und der Fall muss! pothwendig mit dem Tode enden. Ob dieser dann

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Herz- oder als apoplektischer Tod eintreten soll, scheint rein von dein Zufall abzuhangen , ob die Erschöpfung de« Herzens früher den höchsten Grad erreicht oder der Druck des Serums früher den Functionen des Gehirns ein Ende macht. Man sieht, dass dieser Serumbildung ganz diesel- ben Bedingungen zu Grunde liegen, wie allen hydropi- schen Krankheiten aus Schwäche und dass die Bedingung ihrer Heilung dieselbe ist, wie bei diesen, nur dass hier noch die Einwirkung der sensiblen Actionen und die Folge der Störung des Schlafs als der Ilauptbedingung der Er- nährung des Gehirn^ hinzukomi.it, weshalb im Gehirn leichter und öfter Serum gebildet wird , als in jedem an- dern Organ, dafür aber auch diese Bildung öfter ohne alle nachtheilige Folgen bleibt und leichter wieder aufgehoben wird. Den Zusammenhang zwischen dem Geschäft des Vorstellens oder der leidenschaftlichen Aufregung und der Serumbildung können wir blos vermuthen, aber nicht wi*- gen , da uns die genauere Beobachtung durch den Augen- schein versagt ist.

299.

Die Serumbildung durch Entzündung der Hirnhäute ist bei weitem die wichtigste der drei möglichen Formen, die selbst wieder in mehrere höchst verschiedene Formen zerfällt. Sie steht der Serumbildung aus Schwäche näher, als es scheinen sollte, denn der Grund, warum eine ent- zündete Membran Serum ausschwitzt, ist kein anderer, als Unvollkommenheit der Verwandlung des Nahrungsmate- rials, gerade wie bei der Schwäche, nur dass hier da* Miisverhältniss der oscillirenden Grundkräfte, die über- grosse Thätigkeit der Expansion, die fast vernichtete Wir- kung der Contraction , die Ursache der Unvollkommenheit der Verwandlung ist, in jenem Fall aber die unter das Normalverhältniss gesunkene Energie beider oscillirender Kräfte in den kleinen Gefässcn eines Organs zugleich. Bei der phlegmonösen Entzündung erfolgt Auflockerung, Ver- dickung, Metamorphose des ganzen ergriffenen Organs,

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folglich auch der secernirendcn Gefässe seiner Oberfläche, darum muss nothwendig die normale Secretion aufhören und keine krankhafte kann an ihre Stelle treten. Verwan- delt sich daher eine erysipelatöse Entzündung in eine phlegmonöse , so hört die schon begonnene kranke Secre- tion auf der Stelle auf. Bei den Schleimhäuten ist dies äusserst bekannt, z. B. wenn ein Schnupfen sich in Stock- schnupfen verwandelt, wird die Nase trocken, hei wah- ren Pneumonien fehlt der Auswurf, bei wahrer Urethritis hört der Tripperausfluss auf, bei Phlegmone des Auges ist die Bindehaut trocken. Es ist aber .auch eben so bei den serösen und fibrösen Membranen : wenn diese verwundet sind, schwitzen sie nicht aus, es sei denn, dass schon früher erysipelatöse Entzündung im Gange war und die Wunden klein sind. Die serösen Membranen schwitzen zuweilen, wenn die Entzündung sehr schnell eintritt und wächst , plastische Lymphe aus ; zuweilen geschieht dasselbe auch bei chronischer Entzündung , wenn diese allmähiig einen hohen Grad von Metamorphose herbeiführt. Am deutlich- sten sehen wir dies beim Peritonäum: wir finden bei sehr acuter Entzündung desselben wie in den höchsten Graden der Abdominalphthisis alle Flächen dieser Membran unter einander so verklebt und verwachsen, dass wir sie nicht auseinander wirren können. Dagegen ein mässiger Grad chronischer Entzündung der Peritonäalfläche giebt seröse Absonderung, Ascites. Bei der radicalen Operation des Wasserbruchs bedienen wir uns dieser Verschiedenheit des Erfolgs der Entzündung zur Vertilgung der Krankheit: Flächenentzündung der Scheidenhaut hat die Ilydrocele veranlasst und indem wir sie in phlegmonöse Entzündung setzen , heben wir die Serumbildung nicht nur für den Augenblick auf, sondern veranlassen Ausschwitzen plasti- scher Lymphe und solche Metamorphose der Membran, dass sie künftig nie mehr Serum ausschwitzt. Die Ent- zündung der Hirnhäute gehorcht ganz denselben Gesetzen und hat dieselben Folgen. Verwundungen, die sie interes-

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siren, geben entweder gar keine krankhafte Absonderung, oder wenn die Metamorphose in deren Folge bedeutend wird, entsteht lymphatisches Exsudat, Verklebung. Aber chronische Flächenentzündung bewirkt seröse Absonderung; acute dagegen sondert plastische Lymphe aus. Nur darin findet Unterschied gegen die Membranenentzündung der andern Höhlen statt, dass man in der Schädelhöhle öfter lymphatisches und seröses Exsudat zugleich findet, was ohne Zweifel daher rührt, dass hier zugleich die fibröse harte Hirnhaut, die seröse Spinnwebenhaut und die ganz eigenthüraliche pia neben einander sind, welche letzte sich mehr der Natur der Schleimhäute nähert.

300.

Wir können weniger die Verschiedenheit der Folgen dieser Ausschwitzungen nachweisen, nachdem plastische Lymphe oder nachdem Serum ausschwitzt, als wir sie un- terscheiden können , je nachdem die Auschwitzung rasch oder allmählig erfolgt : darauf kommt hier alles an. Rasche Production eines Exsudats in der Schädelhöhle macht sehr schnell aller Thätigkeit des Gehirns ein Ende , tödtet also völlig im Verhältnis mit der Geschwindigkeit seiner Ent- wicklung , aber nicht mit dem Quantum des Exsudats ; dies kann weit grösser sein ohne zu tödten, wenn es sich langsam entwickelt, weil dann das Gehirn sich allmähiig an den Druck gewöhnt und ihn ertragen lernt. Der Tod erfolgt allemal apoplektisch in Hirnwassersucht, doch nennt Gölis ausschliesslich den nach schnell sich entwickelnden Hydropen eintretenden Tod Wasserschlag , apoplexia serosa. Die Symptome desselben sind nothwendig aus entzündlichen und eigentlich apoplektischen gemischt. Es giebt keine Krankheit, die das Bild dieses Wasserschlags vollständiger liefert, als das Scharlachfieber in seinem tödtlichen Aus- gang während der exanthematischen Periode: dasselbe Fie- ber stellt auch das Bild der mehr chronischen Hirnwas- sersucht in der Periode der Abschuppung dar, weshalb fine Parallele beider Zustände nicht ohne Interesse sein

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dürfte. Wenn der Ausschlag sehr heftig und die Haut überall roth ist, bemerkt inan, fast immer am Abend des vierten Tags nach Ausbruch des Ausschlags, selten früher, oft aber auch erst am fünften, selten am sechsten Tage, dass der Kranke plötzlich über Ohrenklingen klagt, die Nase äusserst trocken wird und einen schniebenden Ion vernehmen lässt, dabei zugleich das Gesicht fleckig wird; am häufigsten entsteht ein blasser Ring zwischen Nase und Mund, um die Mundwinkel. Das Auge fängt an zu funkeln; der Puls wird schnell und hart, aber die gute Laune des Kranken täuscht den ununterrichteten ; er spricht hastig, viel, mit Heiterkeit, und versichert, sich sehr leid- lich zu befinden. Zuweilen, besonders in manchen Epide- mien, brechen jetzt um den Hals rothe Frieselpusteln aus. Noch ist die Rettung des Kranken, besonders durch Blut- igel hinter die Ohren und durcli schnell erregten Durch- fall, möglich: versäumt man aber diese Periode, so tritt sehr bald heftiges Delirium ein ; der Kranke ist in unge- heurer Angst ; sein Athem wird ungleich , beklommen , seufzend, sein Puls höchst schnell, seine Haut zerfliesst in Schweiss oder ist auch wohl ganz trocken, die Zunge ist dürr, die Augen starren; Convulsionen treten ein und der Tod erfolgt so rasch, dass die Umstehendeii betäubt stehen ; die kräftigsten Menschen in der Blüthe de* Alters sind dieser grossen Gefahr am ersten unterworfen. Nach dem Tode findet man allemal die Hirngefässe sämmtlich sehr ausgedehnt, das ganze Gehirn weich, wie Brei, und von schmutzigem, trübem Serum nicht nur rund umflossen, sondern auch alle Ilirnliöhlen mit eben solchem ausgefüllt; in diesem Serum sieht man Flocken schwimmen und zu- weilen sind die Hirnhäute an mehreren Stellen verklebt. Kurz vor dem Tode wird der Puls langsam, aussetzend und der Kranke liegt soporös ; der Tod erfolgt durch Hem- mung des Athemholens, bei Lähmung der Respiration«- muskeln , ganz so , wie Bicliat den Hirntod beschreibt. Dies ist wahrer Wasserschlag, Die Quantität des JEasudata im

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Gehirn ist oft gering, allein ela wir gewiss sein können, dass es noch nicht begonnen hatte, als der Kranke noch zu deliriren anfing, so ist es in der kurzen Zeit, die Ton da an bis zum Tode verläuft, gebildet. Ganz auf dieselbe Art erfolgt der Tod beim Erysipelas faciei retrogradum, nur dass da die schlagflüssigen Symptome, Sopor, prädo- miniren; ferner zuweilen beim Puerperalfieber, beim Frie- sei; die entzündlichen Symptome, Ohrenklingen , Schwin- del, Funkeln der Augen, Trockenheit der Schleimhäute, Härte und Kleinwerden des Pulses, wildes Delirium, Tro- ckenheit der Haut, herrschen zuerst, dann folgen die der Lähmung, als Convulsionen , Sopor, Sinken des Pulses, Ungleichheit des Athmens, schnell nach. Ganz anders verhält sich die Erscheinungsreihe , wenn nach der exan- thematischen Periode , in den 28 Tagen zwischen dem Vollenden des Fiebers und dem gänzlichen Vernichten der Productivität für das Scharlachgift der apoplektische Tod erfolgt. Zwar können auch hier sehr schnell Hirnsympto- me eintreten ; ich sah einen in den fürchterlichsten Con- vulsionen zu Boden stürzen, im Augenblick, als ihn bei erhitztem Körper Zugwind traf, einen andern, der, als er im December aus dem Fenster schaute, im geöffneten Fen- ster bewusstlos liegen geblieben war, allein in der Regel beginnt zuerst, unter Wiederkehr fieberhafter Symptome, die bald wieder verschwinden, allgemeine Wassersucht mit äusserst trockner Haut, langsamem Pulse; das Auge des Kranken schaut nicht blos matt und glanzlos aus den ge- schwollenen Augendeckeln , sondern es ist wie gepudert, die Albuginea schmutzig himmelblau. Der Kranke sitzt ganz apathisch da, schläft viel, mit schnarchendem Atheni. So geht ein Tag nach dem andern hin und wenig verän- dert sich; noch ist der Appetit recht gut, viel besser, als nach den Umständen zu erwarten wäre. Endlich aber ent- steht Stuhlverstopfung, dann Erbrechen ; der Kranke liegt mit stark nach hinten gebogenem Hinterhaupt schnarchend und unerwecklich ; die Pupille zieht sich nicht zusammen

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und der Äthem bleibt fitweilen aus; dann folgen kleine* leichte Coimilsionen und er beginnt anfs neue , aber lang- sam, ungleich. Selbst dieser Zustand kann mehrere Tage dauern und von oftmaliger Wiederkehr des Bewusstseins? unterbrochen werden ; dann spricht der Kranke wie im Traume, so einfältig und geistlos, dass dies selbst den Un- gebildetsten aulfällt. Zuletzt werden die convulsiven Be- wegungen stärker, der Athem immer ungleicher und hat ein Ende. Nach dem Tode ist nicht blos Zellgewebe sammt Brust- und Bauchhöhle mit Serum gefüllt, sondern auch das bleiche Gehirn, die Schädel-, selbst die Rücken- markshöhle, aber wenn man nicht die Obduction sehr spät, nach schon begonnener Fäulniss, macht, ist das Gehirn nicht weich und breiig, wie im vorigen Falle. Aber die Quantität des Exsudats ist ohne Verhältnis stärker, als in diesem und ohne Zweifel ist es dies, was endlich das Hirn lähmte und den apoplektischen Tod bewirkte. Ge- wiss also führte hier erysipelatöse Entzündung der Hirn- häute zur Exsudation des Serums und diese zum Tode, allein es ist hier chronische Hirn Wassersucht, nicht Was- serschlag, wie im vorigen Falle.

301.

i

Aus den angeführten Beispielen erhellen zugleich die Symptome der Entzündung der Hirnhäute , der acuten, wie der chronischen, doch modificiren sich dieselben sehr nach dem Alter und mich den Ursachen der Entzündung. Gölis theilt die Erscheinungen der idiopathischen acuten Entzün- dung der Hirnhäute in vier Stadien, das der Turgescenz nach dem Kopfe, der örtlichen Entzündung der Häute oder zugleich der Hirnsubstanz seilst (welches nicht be- wiesen werden kann), das der Exsudation und das der Lähmung. Da ich für unmöglich halte, alle vier richtiger zu schildern, als dieser vortreffliche Beobachter gethart hat, werde ich ihm folgen. „Kinder, sagt er, fangen an, gegen Dinge, die sie zuvor liebten, und gegen Menschen,

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denen sie zugetlian waren, gleichgültig *u werden. Ihre Munterkeit, ihre gute Laune verschwindet; sie werden still, empfindlich, mürrisch, licht- und menschenscheu. Die lebhaften Farben des Gesichts fangen an zu welken; nur dann, wenn auf dies Stadium das folgende mit Wuth und Heftigkeit eintritt, bemerkt man sie durch wenig Augenblicke vor dem Uebergang in den encephalitischen Zustand erhöht; das Feuer der Augen fängt an zu erlö- schen, die elastischen Muskeln zu erschlaffen, die volle, runde Gestalt des Körpers zu schwinden und die Mut- willigkeit geht in Schwerfälligkeit über. Sie gehen selten zu Stuhl, lassen wenig Urin, essen und trinken mit weni- ger Lust, erwachen aus dem Schlafe, in welchem ßie grunzen oder aufzureden pflegen, gewöhnlich matter, als sie vor demselben w aren. Grössere klagen beim Aufstehen aus dem Bett oder Aufsitzen in demselben über Schwin- del , augenblickliche Betäubung ; kleinere äussern dies durch Wanken mit dem Kopfe und durch plötzliches Ver- stummen, wenn sie schon im Schreien begriffen waren. Erster« beschweren sich über rheumatische Schmerzen im Nacken, in den Waden und Fusssohlen ; letztere geben sie durch Bewegung der Hände nach dem Hinterhaupt und durch ein vom Schmerz erpresstes Weinen zu erkennen. Der Puls behält seine natürliche Geschwindigkeit, schlägt aber bei aufmerksamem Fühlen einige Schläge schwächer an oder lässt sie gar aus. Gewöhnlich ist es der siebente, neunte, sechzehnte, siebzehnte oder ein und dreissigste Schlag, den der tastende Finger schwächer fühlt oder gar nicht bemerkt. Ihre Haut ist jetzt schon trocken und fast ohne alle Ausdünstung. Man kann die Haarzwiebeln des Ober- und Vorderarms, so wie der Wade und des Schen- kels bei Erwachsenen durch die schlaffe Haut durch füh- len, doch ist noch kein Ausschlag zugegen. Aus einem Zustande, der dem des tiefen Nachsinnens gleicht, erwa- chen sie unter tiefen Athemzügen und fangen wieder an, ihre Umgebungen zu bemerken, an denen sie keinen Tlieil

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zu nehmen schienen. Sie wechseln zuweileu die Farbe» klagen bald über Wallungen, bald über flüchtigen Schauer. Sie antworten auf die Frage, ob ihnen etwas fehle, mit einem gleichgültigen Nein. Müssen sie gehen, so ist ihr Gang mühsam, ohne Gleichgewicht und Festigkeit; sie he- ben im Vorschreiten den Fuss so hoch, als wollten sie eine Treppenstufe steigen , wanken und straucheln, wie Trunkene.“

„Bei jüngeren Kindern bemerkt man Schlaflosigkeit» ungewöhnliches Schreien mit Rückwärtsbeugen des Ivopfs und Krümmung des Rückens, Erschrecken bei der sanfte- sten Berührung, vermehrte Empfindlichkeit des Auges ge- gen das Licht, ein bis zum höchsten Grade kränklicher Reizbarkeit gesteigertes Gehör und Aufschrecken aus dem Schlafe, gänzlichen Mangel an Durst, und verminderte Esslust, schmerzliches Weinen bei geringer und plötz- liches Verstummen bei schneller Bewegung des Körpers, immerwährendes Greifen mit den Händchen nach dem Nacken, Seitenlage mit zurückgebogenem Kopfe, sparsa- men, färbenden Harn, seltenen, dunkelgrünen Stuhlgang, Mangel an Abgang von Blähungen, vermehrte Wärme des Kopfs. Selten treten diese Symptome bei ganz gesunden Kindern urplötzlich ein und dann veranlassen sie Convul- sionen. Die Dauer der Turgescenz variirt von wenigen Stunden bis zu vierzehn und noch mehr Tagen.“

„In dem Beginn der Entzündungsperiode pflegen die Kranken über peinlichen Schmerz in der Stirngegend , auf die Augen drückend, in die Schläfe sich ausdehnend, zu- weilen mit Koliken abwechselnd, und über Gliederschmer- zen, heftigeres Spannen und Ziehen ira Nacken, als im vorigen Stadium, zu klagen: oft sind diese Schmerzen sehr gelind (ganz natürlich, denn die Hirnhäute sind ohne Em- pfindung, folglich kann der Schmerz nur consensuell Im Periostium entstehen und sich über andere fibröse Mem- branen verbreiten).“ Von innerer Angst gequält finden lie keine Stelle, auf der eie bleiben, keinen Menschen»

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der sie beruhigen könnte. Ihr freies Auge wird schüch- tern und fängt an , sich in seine Höhle zurückzuziehen. Die Kranken öffnen es nur im dunkeln ; gegen helleres Licht wird es empfindlich. Von seiner Hülle kaum zur Hälfte bedeckt verkriecht es sich nach oben. Der Kopf wird heisser, aber die Haut ist bleich, trocken, schlaff; um Lippen , Hals und Schultern beginnt sich Exanthem zu zeigen. Zuweilen entzündet sich die Bindehaut des Auges leicht und man sieht rothe Gefässe. Die Kranken liegen oft lange betäubt und stossen auf einmal einen gellenden Schrei aus. Auch Zucken der Augen wird zuweilen be- merkt. Die Karotiden pulsiren stark ; das Gesicht wird etwas ödematös und die Züge verändern sich. Die Nase ist trocken, die bleichen Lippen auch. Die Zunge wird bedeckt; Durst und Hunger hören gänzlich auf, doch zei- gen die Kranken zuweilen auch Heisshunger. Die Kran- ken erbrechen sich, gewöhnlich vier bis sechsmal im Tage besonders so oft sie sich aufrichten, allmählich lässt dies Erbrechen nach. Die Speisen werden unverdaut ausgebro- chen. Einige Kranke kauen stets oder schnalzen mit der Zunge. Das Athmen wird von Seufzern unterbrochen; die ausgeathmete Luft riecht übel. Die Magengegend wird bei stärkerem Druck empfindlich ; der Bauch fällt zusam- men (was der Verf. für pathognomonisch hält). Der Leib ist verstopft; etwaiger Abgang ist lehmartig, braun, zu- weilen gelbgrün ; Blähungen gehen nicht ab. Der spar- same Urin ist trübe, schmutzig weiss und bildet weisses Sediment. Das Gehör ist höchst fein und empfindlich. Immerwährendes Stöhnen über Bauch-, Nacken- und Kopf- schmerzen erregt Mitleid. Die Nächte sind schlaflos oder der Schlaf ist unruhig; die Kranken knirschen mit den Zähnen, und schreien aus ängstlichen Träumen auf. Sie sind sehr matt , unwillig. Der Puls ist langsam , ungleich, intermittirend , zuweilen bleibt er regelmässig. Die Kran- ken werfen sich auf beide Seiten herum, die Hand unter dem Kopfe.“

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„So gellt die Krankheit, zuweilen nach wenigen Stun- den, öfter nach zwei Tagen Cse^e» »ach mehreren), in die Exsudationsperiode über* Dann liegen sie still , auf dem Rücken (mit tief nach hinten gebogenem Kopfe), mit an den Leib gezogenen Fersen und fahren mit der Hand immer nach der Nase, in die sie bohren, dass sie zuwei- len blutet. Die Töne, welche sie noch von sich geben, die Worte, auf die sie lange sinnen und sie im Augen- blicke des Aussprechens halb vergessen, sind Nasentöne* Auch ins Ohr bohren sie sich, was sie mit den zitternden Händen meist lange nicht finden können. Oder sie ha- schen nach dem Auge, ziehen sich am Haar: von den trockenen , zersprungenen Lippen wollen sie die Haut ab- ziehen. Die Sinne werden stumpf, nur nicht das Gehör das empfindlich bleibt. Die Augen sind besonders unem- pfindlich, ihr Focus ist verrückt, der Blick nach abwärts schielend, die weite Pupille oscillirt; sie sehen die Gegen- stände wo anders, als sie sind. Sie machen die Augen oft nach einander weit auf und schliessen sie wieder. Bei jedem tiefen Athemzug stöhnen sie; der Ausdruck der Mie- nen wechselt seltsam. Sie magern zu Skeletten ab ; die Haut ist schlaff, spröde, trocken. Der Urin (wird dunk- ler und) geht unwillkührlich ab; der Stuhl folgt nicht ohne Klystiere, sieht aber ziemlich natürlich aus. Der Verf. beobachtete in seltenen Fällen Durchfall. Der Puls wird immer unregelmässiger und schwächer, die Respira- tion immer mehr von Seufzern unterbrochen, der Atbem stinkender, die allgemeine Schwäche grösser. Der sopo- röse Zustand, in weichem sie mit den Zähnen knirschen, nicht mehr jählings aufschreien , geht in Betäubung über* Schon naht der Ausgang, vor welchem die unglücklichen zuweilen ihr Bewusstsein wieder erhalten, Nahrung genies- Ben, ohne «ich zu erbrechen, ihre Spielwerke verlangen » aber leider nur auf kurze Zeit mit Hoffnung täuschen.44

„Das dritte Stadium dauert immer längere Zeit, ja zuweilen 30 Tage, Endlich folgen allgemeine Zuckungen,

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welchen Hemiplegie folgt; der Kopf wird nach hinten und abwärts gezogen ; die Gesichtszüge bleiben verzerrt. Der Kopf trieft von Todcsschweiss , ltöthe wechselt mit Tod- tenblässe auf dem entstellten Gesicht. Die Pupille ist er- weitert (Horn sah sie, wie der Verf. auch zuweilen ver- engt) , gegen den Lichtreiz völlig unempfindlich. Die Hornhaut ist schmutzig, die Bindehaut blutstreifig und ein dicker Schleim kommt aus der der Augenlieder. Das Auge tritt etwas mehr in der Orbita vor. Das bisher im- mer noch leise Gehör wird nun auch gelähmt, das Schlin- gen fast unmöglich; versuchen sie es, so zittert die nicht gelähmte Hand. Der Urin fliesst bewusstlos ab, doch sel- ten; er ist hochgelb mit weissem Bodensatz (ich sah ihn immer braun, trübe, ohne Bodensatz), noch seltner sind die Stuhlausleerungen , die ziemlich natürliches Ansehen haben. Zuweilen fliesst noch ein Tropfen Blut aus der Nase. Die Fingerspitzeu und Fusssohlen werden bei den meisten blutroth. Der Puls wird immer schneller , immer schwächer, der kalte Athem immer kürzer, der Kopf bleibt heiss , die Haut wird kalt und der Tod erfolgt un- ter Convulsionen. Die ganze Krankheit pflegt dreizehn bis vier und zwanzig Tage zu dauern , doch zuweilen weit länger.“

Dies ist das von Gölis meisterlich gezeichnete Bild der furchtbaren idiopathischen Kopfwassersucht des kind- lichen Alters, die sich von den §. 300. erwähnten Fällen durch viel grössere Langsamkeit des Verlaufs auszeichnet. Sie tödtet oft die lebhaftesten Kinder, manchmal mehrere in Einer Familie. Dass sie jetzt frequenter sein soll, als ehedem, wage ich zu bezweifeln: man sagt dasselbe von Croup, von einer Menge Kinderkrankheiten, blos weil man sonst 9ie nicht beachtete.

302.

Die nächste Ursache dieser Krankheit ist ohne Zwei- fel Entzündung dei Hirnmembranen in erysipelatöser Form?

43T

nicht aber des Gehirns, denn es zeigt ganz andere Sym- ptome. Doch dann zweifelt niemand ; es kommt darauf an, zu wissen, was diese Entzündung veranlasst. Unter den vielen Möglichkeiten ist unstreitig das öftere Fallen der Kinder auf den Kopf die häufigste und wirksamste Ursache ; wenn Kinder starke Köpfe und schwache Füsse haben, fallen sie sehr häufig und hierdurch scheint sich i mir auch die viel besprochene erbliche Anlage am meisten I zu erklären. Denn wenn in Familien die Kinder mit ge- ringer Aufmerksamkeit behandelt werden, wenn man sie unzweckmässig ernährt , so werden die Bäuche dick , die Füsse schwach und die Köpfe schwer, folglich fallen sie leicht ; dies ist das Schicksal aller Kinder einer solchen Familie und deshalb stirbt eins nach dem andern an Hirn- wassersucht. Dies erklärt auch die Verbindung dieser Krankheit mit den Skrofeln, welche von allen Aerzten be- merkt worden ist. Die Skrofeln disponiren nicht zu ery- sipelatösen Entzündungen , auch sind sie nicht in Membra- nen, sondern im Lymphsystem und den Drüsen begründet, aber Kinder , die starke Bäuche und schwache Fiiase ha- ben, sind auch Skrofelkranke. Eine zwreite nicht minder wirksame Ursache suche ich in dem Kohlengas, dem mail die Kinder oft aussetzt, und in der Erwärmung des Kopfs, man sieht unendlich oft, wie die Wiegen und Betten der Kinder so gestellt sind , dass die Ofenhitze ihren Kopf i trifft, oder wie die Ammen und Wärterinnen sich an den I Ofen setzen und den Kopf des Kindes demselben näheren.

I In den Kinderstuben ist oft, sehr oft, Kohlendunst, zwar nicht so stark, dass er Erstickung macht, aber stark ge- nug, um nach und nach das Kind zu gefährlichen Conge- 1 stionen nach dem Kopfe zu disponiren. Erwachsene gehen oft aus dem Zimmer; die armen Kinder müssen darin aushalten. Ueberdies ist der Kohlendunst schwer und er- J füllt die untere Luftschicht, in der das Kind atlimet , er- hebt sich aber nicht bis zu der, in welcher Erwachsene athmen. Der Missbrauch narkotischer Dinge mag wohl

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eine dritte Hauptursache des Uebels sein, und Gölis führt Fälle an, wo unvorsichtiger Belladonnagehrauch es ver- schuldete, allein ich glaube doch, dass er seltener scha- det, als die vorgenannten Ursachen. In Ungarn giebt das gemeine Aolk den Kindern sehr zeitig Wein zu trinken und doch ist die Krankheit unter ihnen nicht häufig; auch unter den Kindern der gemeinen Hussen habe ich sie sel- ten gefunden, obgleich diese so rasend sind, den Säuglin- gen schon häufig Branntwein zu gdben, ihre Panacee, ohne welche sie nicht glauben, dass ein Mensch leben könne* Ausser diesen Ursachen können noch unglaublich viele Schädlichkeiten Congestionen nach dem Kopf und Hirn- wassersucht bewirken , besonders andere Krankheiten , als Husten, Fieber, das Sonnenlicht, dem man die Kinder mit unbedecktem Kopf aussetzt , unvorsichtige Bewegungen, als auf dem Kopfe stehen , heftiges Drehen u. dgl.

303.

Die Krankheit ist nur in den ersten zwei Stadien heilbar, wenigstens sind die Fälle gewiss sehr selten, wo das Leben erhalten wird , wenn die Ausschwitzung schon begonnen hat : geschieht sie sehr schnell, so ist an gar keine Rettung zu denken und der Kranke stirbt an der serösen Apoplexie , die unter den drei apoplektischen For- men allein absolut tödtlich ist. Je eher der Arzt gerufen wird, desto eher kann er das Leben erhalten, aber leider geschieht es selten , dass man schon im Stadium der Tur- gescenz das Uebel erkennt und Hülfe sucht* Geschieht es, so ist das erste Geschäft des Arztes, dass er unter- sucht, welche Ursache die Krankheit hervorgebracht habe; oh ein Ausschlag verschwunden sei, oder ein chronischer Ohrenfluss, ob das Kind gefallen, erkältet, der Sonne, dem Einwirken narkotischer Substanzen : dem Kohlendampf ausgesetzt gewesen, ob es skrofelkrank sei, ob eine an- dere Krankhai t statt gefunden habe. Nach alle dem, wie nach der Individualität des Kranken, muss der Heilplan

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angepasst werden. Man sorgt dafür, dass der Kranke nicht in hellem Licht liege , dass das Bett fest und etwas schief abhängig nach unten sei. Jede Bewegung muss man langsam und vorsichtig ausführen , da jede sogleich den Schwindel vermehrt. Den Kopf besonders muss man kühl legen. Gölis räth nicht , sich mit Blutigeln zu über- eilen ; erst für die zweite Periode hält er sie nothwendig. Bios wenn Erschütterung oder andere direct Entzündung erregende Ursachen eingewirkt haben , seien sie sogleich anzuwenden. Als Hauptmittel in dieser Periode empfiehlt er Kalomel, bei ganz jungen Kindern zu l/± Gran alle 2 Stunden , bei zweijährigen zu 1/ Gran , bei hartnäckiger Stuhlverstopfung mit gerösteter Jalappenwurzel verbunden. Nächstdem solle man schleimige Decocte trinken lassen. Man füllt eine Schweinsblase mit kaltem Wasser , schlägt sie über den Kopf und erneuert dies oft. Gölis verwirft mit Recht die allgemeinen Bäder, empfiehlt aber waihne Fussbäder und Senfteige an die Füsse ; ich bezweifle sehr ihre Nützlichkeit. Auch spricht er von Vesicatorien an die Waden , erwähnt aber nicht der grossen Wirkung von Vesicatorien auf den Hals, Nacken und Hinterkopf: in dieser Periode sind sie eben so wichtig und entscheidend, als das Kalomel. Sie hindern mehr als alles das Zustan- dekommen der erysipelatösen Entzündung der Hirnmem- branen, selbst noch, wo diese schon begonnen hat, also im Beginn der zweiten Periode. Man muss die seröse Absonderung aus denselben mehrere Tage unterhalten; wie sie beginnt , hört die innere Ausschwitzung auf. Ich habe aber immer zuerst einige Blutigel saugen lassen , selbst bei schwächeren Kindern ; man muss dabei vorsich- tig sein, denn es entsteht manchmal, besonders bei sehr jungen Kindern , eine schwer zu stillende Blutung. Dann , nach der Blutausleerung , habe ich immer sogleich ein grosses Vesicator in den Nacken gelegt, mit dem un-' zweideutigsten Erfolge. Gölis erwähnt auch der Breche >yeinsteinsalbe, die den Vorzug zwar hat? das« »ie nicht.

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Harnzufälle erregt, wie die Kanthariden leider wohl thun, aber viel zu langsam wirkt. Auch bei dem zurückgctre- ienen Gesiclitsrothlauf, wenn Schlafsucht entsteht, bei dem drohenden Wasserschlag im Scharlachfieber ist nach den Blutigeln, deren man nicht ä la Broussais fünfzig Stück, sondern nach dem Alter und der Kraft des Subjects nur vier bis zwölf höchstens anlegen darf, kein Mittel in der Welt, das das Vesicatorium ersetzt, das man hier aus blossem Kantharidenpulver , mit etwas Mehl und Wasser zum Teig gemacht, bereiten muss, damit es recht schnell wirke. Quecksilbersalbe räth Gölis bis zu einer Unze bin- nen 2£ Stunden, alle 3 Stunden zu einem Quent, einzu- reiben : in dieser gewaltigen Dosis vermag sie allerdings die nachfolgende Entzündung zu verhüten. Dass dabei die Diät aus blosser Milch und kühlendem Getränk bestehen müsse, versteht sich,

504.

Die Behandlung im zweiten Stadium kann noch zu glücklichem Ausgang führen : das erste Hauptmittel in demselben sind Blutlässen. Man kann nur selten und nur bei grösseren, etwa vierjährigen Kindern, allgemeine Ader- lässen vornehmen; bei jüngeren begnügt man sich mit Blutigeln : die Quantität des zu entleerenden Blutes rich- tet »ich theils nach der Indiridualität des Kranken, theils nach der Schnelligkeit der Entwickelung der Krankheit. Nicht ohne Grund warnt Gölis vor dem Blutlassen bei ka* (hektischen Subjecten und sagt, dass bei dem hitzigen Wasserkopf, der auf contagiöse Aphthen, auf chronischen inneren Wasserkopf, auf allgemeine Drüsenkrankheit mit hektischem Fieber, zurückgetretene acute oder chronische Ausichläge, plötzlich gehemmte Ausflüsse aus Geschwüren, imgleichen auf zu anhaltendes Studiren grösserer Kinder folge, Blutausleerungen schnell zum Tode führen können. Doch leidet dies Einschränkungen. Wenn der Scharlach beginnt, Entzündung der Hirnmembranen zu erregen, sind

*

einige Blutigel die wohltätigsten , notwendigsten aller Mittel , aber sie beschleunigen den Tod , wenn man damit so lange wartet, bis schon Convulaionen da sind. Dage- gen wenn beim Erysipelas des Kopfes Schlafsucht eintritt, Jkann man mit Blutigeln nicht nur nichts nützen, sondern man befördert den Tod: hier sind Vesicatorien die Haupt- mittel. Die Stellen, wo man Blutigel anlegen muss, sind die Gegend hinter den Ohren, der Nacken, die Schläfe. Es wird Mode, sie an die Stirn zu setzen, wo sie nicht halb so viel wirken; schädlich ist Franks Rath, sie in die Naslöcher zu appliciren. Man muss dabei mit dem Kalomel , dafern es schon in dem ersten Stadium ge- geben war , fortfahren und demselben , falls , wie gewöhn- lich, Stuhlverstopfung da ist, etwas geröstete Jalappe beifügen , auch ausleerende Klystiere geben. Das dritte und vielleicht wichtigste Mittel in dieser Periode sind die kalten Umschläge auf den Kopf, oder noch besser kalte Uebergiessungen. Göiis zieht zwar die ersteren vor, allein wenn man die Uebergiessungen so macht, wie Heim und Formey sie anwendeten , ist der Erfolg augenscheinlich weit grösser. Man windet ein wollenes Tuch oder ein Stück wollenes Garn um den Kopf, so dass der ganze Hinterkopf und Nacken frei bleiben und das Wasser nur nicht über das ganze Gesicht und den Leib laufen kann: sodann lässt man das Kind über ein Gefäss mit kaltem Wasser, das Gesicht nach unten, halten und ergreift ei- nen weiten Trichter , den man in geringer Entfernung über den Hinterkopf des Kindes hält. Nun schöpft man mit einer Schaale Wasser aus dem Gefäss, das man in 'len Trichter giesst und fährt damit so lange fort, bis das Kind sich völlig ermuntert, wenn es betäubt lag; wird ea nach einigen Stunden wieder betäubt, so erneuert man die Uebergiessung. Wer dies so ausgeführt hat, wird es gewiss allemall wiederholen , wo diese Krankheit ihm vorkommt: nur bei zurückgetretenem Erysipelas ist die# Verfahren nn anwendbar.

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Gölis empfiehlt die Digitalis, besonders in Verbindung mit Kalomel. Das Vorurtheil, dass dies Mittel den Urin treibe, scheint auf dessen Gebrauch zuerst geführt zu ha- ben ; es ist aber gänzlich verwerflich und mehrt das in dieser Periode ohnehin fürchterliche Erbrechen, ohne auch nur das mindeste zu nützen. Wie kann ein narkoti- sches Mittel in der acuten Hirnwassersucht je ohne Nach- theil gebraucht werden? Gölis sagt, dass, wenn es nicht helfe, wenigstens der Tod dann mit weniger schrecklichen Symptomen begleitet sei ohne Zweifel, weil es die Be- täubung grösser macht» Das würde man durch Opium, Blausäure, noch besser erreichen, und diese Mittel wird doch wohl niemand hier in Vorschlag bringen ! Bäder sind ganz verwerflich , auch von Senfteigen an die Fuss- sohlen wird man wenig gute Wirkung sehen. Anders ist’s bei der Nachcur ; wenn es gelungen ist, die Entzündung zu beseitigen ; wenn durchaus kein soporöser Zustand sich mehr zeigt, das Gehör, das Gesicht ihre kranke Schärfe verloren haben, aber der abgemagerte, welke Kranke noch unter dem Einfluss des Kalomeis leidet , da sind warme Bäder höchst wohlthätig. Quecksilbereinreibungen verwirft Gölis in dieser Periode, als zu spät wirkend: wemn man hier, wie er selbst in der ersten räth, eine Unze graue Salbe binnen 24 Stunden einreibt, so ist das gewiss eins der grössten antiphlogistischen Mittel, das seine Wirkung nicht lange erwarten lässt. Von den Vesicatorien über den Kopf, die Odier, Quin, Frank u. a. m. empfohlen haben, urtheiit Gölis, sie treten den noch viel wichtigeren kalten Umschlägen in den Weg und räth, sie auf die Magenge- gend anzuwenden. Es kommt klärlich darauf an, im ersten Moment der Membranenentzündung diese sogleich zu brechen, und dazu schickt sich die Kälte; im zweiten, wenn sie schon entstanden ist, die Exsudation zu hindern, und dazu schicken sich die grossen Vesicatorien. Ehe die Entzündung entstanden ist , wenn sie blos droht , können $i« Vesicatorien sie nach der Haut locken, so dass die

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Hirnhäute verschont bleiban. Aber dann müssen sie schlechterdings auf die Hautstelle gelegt werden, die den Hirnmembranen am nächsten ist. Ddbei zeigt sich der Vorzug des Uebergiessens nach Heim und Formey eben- falls , vor den kalten Umschlägen ; jene kann man von Zeit zu Zeit machen , obschon das Vesicator wirkt , aber nicht diese.

305.

Dass alte Heilung rein unmöglich ist, sobald die Exsu- dation begonnen, mochte ich doch nicht so gewiss be- haupten, wie Gölis: eine geringe Quantität von Ersudat kann wohl aufgesogen wei den , wenn nur die Exsudation im Augenblick des Entstehens gehemmt wird. Wer gese- hen hat, wie bei Heinis Uebergiessungen Kinder aus der tiefsten Betäubung erwachen, kann kaum daran zweifeln. Aber freilich ist dann gar keine Zeit zu verlieren : nur im ersten Moment der Exsudation kann noch Rettung ge- lingen. Viel kommt unstreitig auf die Art der Entzün- dung und der dadurch bestimmten Exsudation an: ist diese lymphatisch , so kann nichts sie aufhalten ; ist sie aber serös, so kann es eher, wiewohl selten genug, gelingen. Eben so verhält es sich mit dem Kindbetterinfieber ; die Exsudation des Peritonäums ist hier zuweilen auch blos serös und dann , im Beginn derselben , Hülfe möglich ; ist sie lymphatisch, so tödtet sie gewiss. Gölis räth , in dieser Zeit alle marternde Mittel völlig bei Seite zu setzen und allein durch . Digitalisaufguss dafür zu sorgen, dass der Tod leicht erfolge. Vollends in der Lähmungsperiode ist gar nichts zu thun, selbst wenn, wie zuweilen ge- schieht, das Bewusstsein auf einige Zeit wiederkehrt: der Tod erfolgt unfehlbar.

306.

Wenn es gelungen ist, der Entzündung Gränzen m setzen und die Ausschwitzung zu verhüten, ist der Kranke

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immer noch in Gefahr, welk, abgezehrt; unter dem Ein- fluss des Quecksilbers kann er leicht noch am hektischen Fieber sterben. Vor allem muss der letzte Umstand be- rücksichtigt, der Kranke deshalb jetzt viel wärmer, als während der Entzündung gehalten und mit blosser Milch, mit Althäendecoct hingehalten werden , bis die Quecksil- berwirkung nachlässt. Rasend ist es , hier Abführmittel zu geben, welche Autoritäten immer für so frevelhaftes, unverständiges Verfahren sprechen mögen: sie machen aus dem Fluss der Speicheldrüsen des Mundes einen Bauch- Speichelfluss , der in zwölf Stunden tödtet. Die Thätigkeit der Haut muss erhöht werden, wozu warme Bäder, wie schon erwähnt , das erste Mittel sind. Bricht sich der Kranke noch sehr leicht, so gebe man ihm Kohlensäure aber man lasse blos Natrum carb. bicarbonicum nehmen ohne Weinsteinsäure, die hier, auch in der kleinsten Do- sis, verderblich ist: die Kohlensäure entwickelt sich im Magen allein. Aromatische Pflaster, mit Ingwer, auf den Magen gelegt, sind sehr nützlich. Kastoreum , Moschus,

Arnica, Valeriana, vollends Kampher, welche Mittel viel

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Empfehlungen für sich haben , sind gänzlich zu verwerfen. Ist entweder gar keine Salivation da, oder ist sie bereits gemässigt, so kann man China in Verbindung mit aroma- tischen Substanzen , namentlich Rhabarber in kleinen Do- sen, Muskatennuss, anwenden. Man will nähren, stärken, die Assimilation wieder herstellen ; es kommt auf den Grad der Schwäche an, zu welchem die Organe derselben herabgesunken sind. Wer kann hier eine allgemeine Regel geben? Guter Tokayerwein, Theelöffelweis ein Paarmal des Tags gereicht, ist manchmal das beste aller Mittel. Die Nahrungsmittel müssen sorgfältig gewählt werden; es genügt nicht, dass sie viel Nahrungsmaterial enthalten; sie müssen auch den Magen hinreichend reizen. Die China als Beförderungsmittel der Verwandlung des Bluts in Nah- rung würde vortrefflich passen , wenn der Digestionscanal sie ertrüge: dies ist aber nicht immer der Fall, nicht

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einmal vom Chinin kann man dies rühmen. Alles kommt auf den Schwächegrad der Systeme, auf Individualität an: ist die Assimilation wieder thätig, so findet sich die Haut- thätigkeit von selbst wieder und man bedarf keiner beson- deren Mittel au ihrer Herstellung.

307.

Ausser diesen acuten Formen der Wasserbildung durch Entzündung der Hirnmembranen ist auch eine chronische mögHch , allein die erste Schwierigkeit, auf die wir stos- sen , ist , dass die Gränzen unbestimmbar sind , innerhalb welcher eine solche Entzündung noch acut, ausser wel- cher sie chronisch genannt werden muss. Wie zwischen der höchst acuten Form, die Gölis Wasserschlag nennt, und zwischen der gewöhnlichen acuten kein anderer Un- terschied statt findet, als die Rapidität des Verlaufs, nach welcher iich im ersten Fall das Serum äusserst schnell und gewaltig bildet, meist zugleich mit lymphatischer Ab- sonderung, im zweiten aber viel allmähliger entwickelt, so ist auch zwischen dieser zweiten und der chronischen Form der einzige Unterschied, dass hier die Entzündung noch viel schwächer und die Serumbildung durch sie noch viel langsamer ist. Demnach nähert sich die chronische Form mehr der Serumbildung aus unvollkommener Ernäh- rung, ohne mit ihr zusammen zu fallen, denn in dieser sind die Membranen gar nicht entzündet, aber in jener sind sie es, obwohl auf eigenthümliche Weise. Man hat von chronischer Entzündung überhaupt noch manche sehr confuse Begriffe ; die Zeit des Verlaufs ist meines Erach- tens das schlechteste Maas , das es giebt , sie zu bestim- men. Denn je grösser die Vitalität der Organe, desto ra- pider der Verlauf der Entzündung, je geringer, desto langsamer, folglich verlaufen alle Knochenentzündungen , alle, die im System der fibrösen Membranen statt finden, langsam. Sind sie deshalb chronisch? Ich glaube nicht, wenn ich den Begriff chronischer Entzündung von den

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Organen, die einen hohen Vitalitätsgrad haben, hernehme. Da ist z. B. Cystitis eine höchst acute Krankheit, dagegen findet im höheren Alter allmählige Verdickung der Harn- blase mit reichlicher Schleimabsonderung als chronische Blasenentzündung statt. Oder die Phlegmone des Auges unterscheidet sich sehr viel anders als durch den Verlauf von der gichtischen Augenentzündung. Was ist da das unterscheidende Moment ? Dass bei der acuten Entzün- dung die Metamorphose in genauem Verhältniss steht mit dem Uebergewicht der Expansion der kleinen Gefässe über deren Contraction, bei der chronischen aber die Me- tamorphose grösser ist, als sie nach Verhältniss des Gra- des dieses Uebergewichts sein sollte. Ich möchte sagen, dass bei der chronischen die Metamorphose alc Hauptübel die Entzündung veranlasst und unterhält, bei der acuten aber die Metamorphose gänzlich von der Entzündung ab- hängt, dass sie also hier secundär und dort primär ist. Dies angewendet auf die Entzündung der Hirnmembranen so ist die Exsudation bei der acuten die Folge derselben, bei der chronischen aber ist die Neigung zur Exsudation die Ursache der Entzündung ; die Disposition zur Ausar- tung und kranken Absonderung ist eher da, als die Ent- zündung.

308.

Hieraus folgt, dass die Heilung dieser Krankheit nicht auf Hebung der Entzündung beruhen kann, sondern allein die Veränderung der Secretion verlangt: gelingt diese, so hört die Entzündung als ihre Folge von selbst auf. Dazu aber dient folgendes Verfahren :

a) Aufsuchen der allgemeinen Dyskrasie, welche krankhafte Secretionen aller Art bewirkt und unterhält. Dies ist bei Kindern besonders die skrofulöse, und wenn die Aerzte die Skrofelkrankheit als Ursache der Hirnwas- eersucht sehr oft betrachtet haben, so ist dies von der chronischen ganz richtig; acute Hirnentzüudung aber ist

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niemals skrofulös. Wie skrofulöse Hautausschläge entste- hen können, so kann auch eine Art von Exanthem der Hirnmembranen entstehen, deren Folge Exsudation ist. Sie muss dann natürlich eben so behandelt werden, wie jedes andere skrofulöse Symptom ; man muss die Dyskra- sie aufheben, durch zweckmässige Ernährung, freie, reine Luft, nur nicht durch Muskelbewegung, die hier das Ue- bel unmittelbar mehren würde. Hier sind Antiinonialmit- tel, in Verbindung mit aromatischen, die Hauptsache:

I diese wirken mehr als alles dahin, die Secretion zu ver- ändern. Narkotische Mittel, die bei andern skrofulösen Erscheinungen so wohlthätig wirken, müssen hier vermie- den werden. Ich zweifle nicht, dass herpetische Dys- krasie im späteren Leben ebenfalls Kopfwassersucht veran- lassen könne, dass Unterdrückung von Fussschweissen, Heilung alter Fussgeschwüre u. dgl. diese Folge haben könne, ob ich gleich keine gewisse Erfahrungen dafür habe: die Therapie wird hierdurch bestimmt. Die Lust- seuche, die Gicht scheint diese Krankheit nie hervorzu- bringen.

b) Erregen einer andern krankhaften Secretion in Or- ganen, die auf die Hirnhäute revulsorisch wirken. Hiezu bietet sich am besten die Kopfhaut selbst an, und da es darauf ankommt, diese Secretion lange zu unterhalten, so können Fontanellen, Setaceen, Kauterien von entscheiden- dem Nutzen sein. Ganz besonders passt hier die Anwen- dung der Brechweinsteinsalbe, doch mit der Vorsicht, dais man nicht durch 6ie Caries der Schädelknochen er- regt, wie sehr leicht möglich ist. Man hat aie auch in der acuten Entzündung der Hirnmembranen empfohlen , allein hier wirkt sie zu langsam und tritt anderen, kräfti- geren Mitteln in den Weg. Wo man keine Zeit zu ver- lieren hat, würde ich die Anwendung des Aezkali zur Er- i regung eines Brandschorfs vorziehen.

Ic) Ableitung durch drastische Purganzen. Die innige

Verbindung der Hirnhäute und des Darmcanals, beson-

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443

ders der dünnen Därme, zeigt sich bei aller Gelegen- heit : hier muss sie benutzt werden. Die Janin’schen Pil- len, Gummigutt, Koloquinthenextract oder die Tinctur derselben sind empfehlenswerthe innere Arzneien, nur müssen sie so angewendet werden, dass sie zwar die Se- cretion der Därme chronisch verändern, aber nicht die Digestionskraft zerstören.

d) Anwendung der Digitalis. Ich habe mich schon oben darüber ausgesprochen, dass dies Mittel den Ruf ei- nes harntreibenden gänzlich mit Unrecht erlangt hat: die Digitalis wirkt auf die weichen Herznerven, aber nicht auf das Nierengeflecht; sie vermehrt die Urinabsonderung nicht im mindesten , und es gehört unter die vielen unbe- greiflichen Dinge, wie manche sonst sehr aufmerksame Beobachter andern so gutwillig haben nachsagen können, dass die Digitalis Urin treibt. Gleichwohl giebt es bei al- len Formen von Hydropen einen Zustand, in welchem sie sehr gut passt und selbst die unterdrückte Harnabsonde- rung autfalleud vermehrt und ich vermuthe, dass es dieser war, der den Ruf eines Diureticums diesem Mittel ver- schafft hat. Bei chronisch inflammatorischem Zustand des Peritonäums nämlich , auch wohl der Pleura , sind oft Hautausdünstung und Hirnabsonderung gänzlich unter- drückt ; statt der gewöhnlichen Quantität geht nur etwa ein Sechstel oder Achtel braunen, dunkeln Harns ab; zu- gleich ist der Puls zwar massig beschleunigt, aber so hart, wie eine gespannte Saite. Giebt man in diesem Falle Di- gitalis, so wird der Puls weicher; der ganze entzündliche Zustand lässt nach, die Wasseranhäufung mehrt sich nicht und die Harnsecretion kehrt auf ihren Normalgrad zurück. Sollte beim chronischen entzündlichen Hydrocephalus je- mals solche Härte des Pulses eintreten, so bin ich über- zeugt, dass die Digitalis eben so viel leisten würde, nicht durch Urin treiben, sondern durch Lösen der Reizung des Herzens, welche alle peripherische Thätigkeiten hemmt. Doch gestehe ich, dass in allen Fällen von innerem Was«

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serkopf, auch dem chronisch entzündlichen) mir der Pul« aussetzend , unregelmässig, langsam, aber nicht hart, son- dern weich vorgekommen ist, im Anfänge wohl gross, aber später desto kleiner. Ich glaube also nicht, dass viel Fälle Vorkommen werden, wo die Digitalis grossen Nutzen leistet, den sie übrigens auch in Brust- und Bauchwasser- sucht nur palliativ leistet, allein der grosse Ruf dieses Mittels in der Kopfwassersucht machte mir eine ausführ- liche Erklärung über dessen Werth zur Pflicht.

SO».

Uebrigens muss diese Kopfwassersucht unstreitig eben so behandelt werden, wie die Hydropen anderer Höhlen, mit welchen sie vollkommen gleicher Natur ist. Dass bei ihr die Prognose noch ungünstiger ist, als bei dem Hy- drops der Pleura, des Pericordiums , kann man eben nicht sagen: je langsamer die Anhäufung des Serums zunimmt, desto besser lernt sie der Kranke ertragen und wird kaum in seinen geistigen Functionen geschwächt. Er hat nur ein Gefühl, das ihm anzeigt, er sei sehr krank; er hat Schwin- del bei jeder Bewegung, erbricht sich leicht und ist viel finsterer Laune , als er sonst w ar. Es ist kaum glaublich , wie lange manche Menschen in diesem Zustande aushar- ren können, ohne zu sterben, ohne sich nur zu verschlim- mern ; die Erfahrung liefert davon merkwürdige Beispiele und würde deren mehr liefern, wenn nicht die Aerzte diesen chronisch - entzündlichen Hydrops immerdar mit dem angebornen und mit dem aus Schwäche , aus Insuffi- cienz der Assimilation, verwechselt hätten, ein Fehler, von dem auch der übrigens höchst achtenswerthe Gölis in seinem klassischen Werk über die Hirnwassersucht nicht frei geblieben ist.

29

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Cap. XX. Nachlese.

310.

Der Hirnbruck , Encephalocele, kommt selten vor. Man bemerkt bei neugebornen Kindern entweder gleich nach der Geburt oder einige Tage nach derselben in der Gegend einer Fontanelle, am häufigsten der dreieckigen, eine kleine, umgränzte, weiche Geschwulst, die pulsirt, beim leichten Druck mit dem Finger verschwindet und nach Aufheben des Drucks wiederkommt: die Haut über derselben ist völlig gesund. Es ist unmöglich, in der Diagnose zu irren ; zwar giebt es Anschwellungen der har- ten Hirnhaut, die den Knochen durchbrechen und nach aussen dringen , aber diese pulsiren nicht, sind härter und kommen nicht in der Gegend der Fontanelle vor, auch lassen sie sich nicht zurückdrücken. Man hat den Hirn- bruch auch bei Erwachsenen nach Trepanationswunden ge- sehen; da könnte er bedeutend sein, wenigstens dem Schliessen der Kopfwunde unübersteigliches Hinderniss entgegenstellen. Dass nach der Geburt erst Hirnbrüche entstehen, ist gewiss noch viel seltener, als dass sie in der Geburt selbst veranlasst werden.

Bei Kindern wenigstens ist das Uebel unbedeutend. Lässt sich der Bruch leicht zurückdrücken, so genügt, dass man dies thue und sodann ein plattes Blech auf die üeffnung lege , dies aber mit Heftpflastern befestige. Man räth gewöhnlich, eine Mütze von hartem, glattem Leder dem Kinde aufzusetzen und diese gut zu befestigen, sie hat aber die Schwierigkeit, dass der Kopf stark wächst, aber nicht die Mütze, deshalb ist der Gebrauch der Heft- pflaster Torzuziehen. Wenn auf das Zurückdrückeu der Geschwulst Convulsion oder Betäubung erfolgt, soll man die Haut spalten, die Geschwulst abschneiden und dann eben solchen Verband anlegen. Ich habe diese Ope«

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ration nie machen sehen, glaube aber sehr gern, dass eie gelingen kann , wenn nicht Hirnschwamm folgt.

311.

Die Hirnwunden verdienen noch eine etwas genauere Berücksichtigung. Stichwunden des Gehirne kommen sel- ten vor, es sei denn bei sehr jungen Kindern oder durch sehr dünne Stellen des Schädels, als die Orbita, auch wohl die Schläfegegend. Sie können natürlich selten anders als tödtlich enden , doch hat man Fälle , wo fremde Körper auf diese Art in den Schädel eingedrungen und zurückge- blieben sind. Doch kann die Kunst dabei nichts thun, also bleiben dergleichen Ereignisse blos als Seltenheiten interessant , und in wie fern sie wichtige physiologische Folgerungen erlauben.

Hiebwunden sind viel häufiger und im ganzen weniger gefährlich ; der damit verbundene Blutverlust scheint die Hauptursache zu sein , warum sich zu ihnen fast nie Zu- fälle der Hirnerschütterung gesellen. Wenn die Wunde nur freien Ausfluss hat und nicht tiefer geht, als in die grossen Hemisphären, so kann man bei keiner mehr auf die thätige Heilkraft der Natur rechnen. Sind Knochen- stücke der Wundränder zerbrochen und los, so muss man sie wegnehmen. Dasselbe tliut man , wenn Hirnparthien weich, schwarz, verdorben sind: es ist unglaublich, wie viel Hirnsubstanz man ohne allen Nachtheil zuweilen ver- loren gehen sieht. Man bemerkt auch nach der Heilung nicht die geringste Beeinträchtigung der Denkkraft. Nur muss man verhüten , dass die äussere Verletzung sich nicht eher schliesst , als die innere vollkommen geheilt ist

312.

Schuss- oder Quetschwunden kommen am häufigsten vor und gewähren die grösste Mannichfaltigkeit der Fälle. Bald hat dio Kugel zwar die Knochen zerbrochen und das Gehirn verletzt, aber äusserlich keine Wunde verursacht;

39

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bald ist auch äusserliche Verletzung da , allein die Kugel ist nicht cingedrunTcn , bald ist sie eingedrungen und im Cranium geblieben. Es kann ferner jeder Tlieii der Schä- delknochen verletzt sein, die Basis, der Hinterkopf, die Gesichtsknochen gleichzeitig, das Schädeigewölbe. Es kann ferner blosse Hirnerschütterung, oder Extravasat, oder Zerreissen der Hirnhäute, oder gleichzeitige Verletzung der Hirnmasse erfolgen. Endlich ist das Gehirn zuweilen durch die Kugel selbst verletzt, zuweilen durch einen an- dern Körper, den der Schuss gegen den Kopf geschleudert hat, oder durch den Sturz auf harte, spitzige Körper beim Niederfallen wegen einer anderen Verwundung. Quetsch- wunden , die durch heftige Schläge und Stösse auf den Kopf mit Steinen , Stöcken u. dgl. gemacht sind , kom- men den nicht penetrirenden Schusswunden gleich. Man sieht also, welche höchst verschiedene Folgen aus allen diesen Ursachen hervorgehen , besonders wenn man die Unterschiede der Individuen hinzurechnet, die sie betref- fen. Es würde zu grosser Weitläufigkeit führen, wenn hier die Regeln für alle Fälle gegeben werden sollten: diese sind in den Handbüchern der Chirurgie enthalten. Nur auf einige Eigenthümlichkeiten muss hier ein Blick gewor- fen werden.

313.

Eine solche ist die erysipelatöse Entzündung der Haut bei Kopfwunden. Sie kommt nie vor bei penetrirenden, nie bei solchen , die die sehnige Ausbreitung in grossen Stel- len getrennt haben. Aber sie kommt vor, wo zerrissene Wunden der Galea teudinea sich nur auf eine kleine Stelle derselben beschränken. Es ist aber von der äussersten Wichtigkeit, sie zu heben, da sehr leicht der apoplek ti- sche Tod durch sie herbeigeführt werden kann , der durch die Wunde nicht erfolgt wäre. Wenn sie im Beginnen ist, kann sie durch einen förmigen Einschnitt in die gespannte Stelle der Galea fast immer 'verhütet werden.

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Ist sie aber einmal ausgebildet , so hüte man sich Yor ei- nem allzunachilrücklichen antiphlogistischen Verfahren: das Aderlass führt fast immer schnell dem tödtlichen Aus- gang näher. Dagegen erleichtern salinische Abführmittel und Kalomel.

Ueberhaupt muss man den innigen Zusammenhang zwischen Hirn und Unterleib bei Kopfwunden nie unbe- rücksichtigt lassen. Wie weit er gehe, beweisen die Le- berabsceese, die sehr häufig, obgleich nicht immer, nach den wichtigeren entstehen : man hat ihren Grund in man- cherlei Dingen gesucht, in denen er wahrscheinlich nicht liegt: mir scheint er in der Bestimmung der Leber zu liegen.

Dies Eingeweide ist ein Organ des Kreislaufs ; es ist da, um das Blut der Hohlvenen aufzunehmen, wenn es in zu grosser Menge ins Herz strömen wurde, und diese Zu- strömung immer Ungefähr gleich gross zu erhalten. Bei der grossen Ungleichheit der Bewegung des Bluts durch die Venen würde ohne die Leber das Herz immerdar in höchst ungleicher Thätigkeit sein und bald aufhören müs- sen , zu wirken. Bei Kopfwunden ist die Bewegung des Bluts nach dem Kopf aufs äusserste verstärkt, aber die Consumtion desselben zurückgehalten : die obere Hohlvene führt dessen also mehr als das Herz ertragen könnte, und der Ueberfluss entleert sich durch die unpaarige Vene in die untere Holilvene , in die Leber. Diese anhaltende Einströmung aber bringt endlich Entzündung der Sub- stanz der Leber hervor , welche , da die Ursache immer fort wirkt, keinen andern Ausgang nehmen kann, als Ver- eiterung.

Hieraus folgt, dass die Behandlung der Leberentzün- dung dieser Art mit der Behandlung der Kopfwunde selbst, oder der Hirnerschütterung, eins ist, dass man aber gleich vom Anfang durch abführende Arzneien die Anhäufung des Blutes in der Leber vermindern muss. Die grosse Liebe für das Kalomel nöthigt zur Warnung: man hüte

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sich , Speichelfluss zu erregen , wenn die Wunde besonders das Gesicht interessirt ; nicht nur dass er die Leiden des Kranken ohne Noth vermehrt, sondern er verschlimmert auch auffallend die Wunde. Ist diese an den Scheitelbei- nen , so schadet die Salivation nichts.

Es giebt keine Art von Kopfwunden , die nicht eine sehr aufgerichtete Lage des Kranken und Kälte der Luft oder der Umschläge erforderte, ausser wenn sich Erysipe- las einstellt: dann muss man die kalten Umschläge weg- lassen, weil sie die Gefahr der Apoplexie unmittelbar her^ beiführen.

$14.

Änlangend die Trepanation so ist man mit dieser, be- sonders im Felde, nach Gefechten, bald zu furchtsam, bald zu freigebig. So lange der Kranke Besinnung hat, wird selten daran gedacht ; ist aber die Verletzung der Art, dass man voraussehen kann, es werde allmählig sich Extravasat unter derselben sammeln, so ist offenbar noth- wendig, die Trepanation vorzunehmen, ehe dies so weit gekommen ist, dass es das Bewusstsein raubt: je eher, je besser. Man verhütet dadurch die Folgen der Extravasa- tion und verwandelt einen gefahrvollen Zustand von lan- ger Dauer in eine kurze , gefahrlose Krankheit. Gegen- theils pflegt man, wenn inan einmal trepanirt, so viel Kronen anzusetzen, bis man das ganze losgetrennte Kno- chenstück entfernt hat. Das ist selten nöthig ; hat die Wunde nur guten, freien Ausfluss, so kann man hoffen, dass sich die harte Hirnhaut bald wieder erheben und an den Knochen anlegen werde. Je grösser die Trepanations- wunde, je weiter das Gehirn entblösst wird, desto drin- gendere Gefahr des Hirnschwamms, den ich wenigstens nie anders als tödtlich habe ablaufen sehen.

Auch über die Blutausleerungen möchte ich ein Wort der Erfahrung sprechen. Sind Kopfwunden offen, so ist gewöhnlich schon bei der Verwundung eine grosse Menge

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455

Blut ergossen : dennoch muss vor Eintritt der Entzündung nochmals reichlich zur Ader gelassen werden ( Blutigel nützen hier so viel als gar nichts). Dadurch wird die Entzündung sehr gemässigt und alle nachfolgenden Zufälle werden gemindert. Ist aber die Entzündung des Gehirns einmal eingetreten , so geht sic ganz gewiss in Eiterung über und wenn man nun noch immer fort fährt, Blut zu lassen, macht man diese viel grösser und bösartiger. Jetzt kommt es darauf an , zu verhüten , dass die Entzündung nicht weiter um sich greife. Dies geschieht aber viel bes- ser durch Erhaltung der Vitalität der noch gesunden Par- tliien und durch die Kälte : das unendliche Blutvergiessen kann zu nichts führen , als zum Schwächen des Wider- stands des Lebendigen gegen die drohende Zerstörung. Wie bei jedem Abscess das antiphlogistische Verfahren ein Ende haben muss, sobald Eiterung beginnt, so auch bei Kopfwunden.

Doch es ist hier offenbar nicht der Ort, eine weit- läufige Abhandlung über die Kopfwunden zu schreiben; diese gehört in die Chirurgie. Nur einige Bemerkungen glaubte ich hinzufügen zu müssen, die Einzelnheiten be~ . treffen , in welchen man häufig unrichtig urtheilt oder handelt, um einerseits dem Vorwurf zu entgehen, dass ich in diesem Buche eine Lücke unerfüllt gelassen, anderer- seits mitzutheilen , was lange Erfahrung mich als richtig kennen gelehrt hat.

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Fünfzig Krankheits- und Sections- geschichten von Irren *).

1) Ein 85 jähriger Uhrmacher litt drei Monate lang an heftiger Tobsucht, deren Entstehung dunkel blieb, da er selbst seine Geschichte nicht angeben konnte und von seinem entfernten Wohnort keine Notizen eingingen. Er war äusserst heiter, schrie laut, sprach in Reimen, com- binirte mit bewundernswürdiger Schnelligkeit die allerun- gereimtesten Dinge, pfiff Melodien, schlief fast gar nicht, recitirte zuweilen lange Stellen aus französischen Dichtern, namentlich aus Racine, ob er gleich kein Wort franzö- sisch verstand, auch nie in Frankreich gewesen war, son- dern blos in seiner Kindheit französischen Unterricht ge- nossen hatte. Zugleich litt er an knotiger Lungensucht, die ihn zwei Monate nach seiner Aufnahme in die Charite zu Berlin tödtete.

Der Schädel zeigte äusserlich keine krankhafte Bil- dung. Das Enkephalon füllte dessen Höhle vollkommen aus. Auch an den Involucris des Hirns war nichts krank- haftes zu entdecken. Bau , Verhältniss und Weichheit der Rinden- und Marksubstanz waren normal. Die vierte Hirn- höhle war erweitert und enthielt viel farbeloses Serum, auch aus der Höhle des Rückenmarks floss dessen eine bedeutende Menge. Beide Lungen waren voller Tuberkeln, deren mehrere im linken obersten Lobus sich in Eiterung befanden. Herz und Baucheingeweide waren normal.

2) Ein 51 jähriger Handarbeiter, stämmig und klein, aber wohlgenährt, hatte im April 1819 einen apoplekti-

f) Aus dem 59sten Baud des Hufelandachen Journals,

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gehen Anfall erlitten , nach welchem zwar nicht die Mus- keln gelähmt blieben, wohl aber Erinnerungs - und Ur- teilskraft, auch die Sprache; er konnte blos lallen. Im Junius erfolgte ein neuer apoplektischer Anfall und machte seinem Leben ein Ende. Der Knochenschädel war normal. Ueber beide Hemisphären hatte sich zwischen Dura mater und Arachnoidea eine nicht unbedeutende Menge Blut, etwa eine Unze, ergossen. Zwischen Arachnoidea und Pia waren weisse , gallertähnliche , ausgeschwitzte Massen. Die Gefässe der Pia waren ziemlicli angefüllt von Blut ; beide Seitenhöhlen enthielten viel Serum. Feste Verkle- bung des Hirns mit seinen Bedeckungen in der Gegend des rechten Felsenbeins und noch festeres Anhängen der harten Hirnhaut an dieser Stelle lud zu genauerer Unter- suchung derselben ein, und es zeigte sich das ganze knö- cherne Hörorgan cariös. Doch nur in geringem Grade. Aber das Eiter hatte sich durch die Fissura Glaieri einen Weg gebahnt und war nach dem Oberkiefergelenk durch- gedrungen , wo es das Kapselligament zerstört hatte.

3) Ein lOjährigcr Handarbeiter, vorher dem Brannt- wein ergeben , kam im Zustand heftiger Tobsucht in die Charite und starb fünf Wochen nachher im Zustande von Betäubung, dem jedoch keine apoplektischen Zufälle vor- ausgegangen waren. Ueber die Ursache seiner Krankheit war nichts zu erfahren gewesen, ausser das« sie bei Ge- legenheit eines heftigen Erzürnens im trunkenen Zustand zum ersten Ausbruch gekommen war. * Der Schädel war normal gebildet, nicht dick , die harte Hirnhaut mit der verdickten Arachnoidea an mehreren Stellen verwachsen, und unter dieser, auf den Gyren des Hirns, hie und da viel lymphatisches Exsudat, die Seitenhöhlen voll Serum und das Hirn überall blutleer.

4) Ein 60jähriger Unger, ehemals Soldat, war seit 21 Jahren im Irrenhause. Schon längst gehörte er unter die grosse Zahl der unheilbaren und unschädlichen Irren, die folgsam ihr Tagewerk verrichten , wozu man sie aiv*

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treibt, zuweilen bös werden, aber gewöhnlich in fröhlicher Laune Unsinn schwatzen. Er starb nach marasmirendem Zustand , unter fieberhaften Erscheinungen. Sein Schä- del war überall sehr dick, besonders nach hinten, wo der Knochen drei Viertelzoll Durchmesser hatte. Längs der Pfeilnaht neben der Falx befänden sich zwischen Arach- noidea und dura Mater einzelne Punkte durch weisse, kreideähnliche Massen verklebt. Die Hirngefässe waren blutleer und alle Höhlen voll Serum. Die Consistenz der Hirnmassen war etwas zäher und härter, als gewöhnlich.

5) Bei einem 31jährigen Bäcker waren die Gesichts- muskeln schief verzogen , die Sprache lallend , alle Vor- stellungskraft gelähmt, aber die Muskeln sonst nicht ge- lähmt: nach sechs Monaten stellte sich ein neuer apoplek- tischer Anfall ein, der Lähmung der rechten Seite zurück- liess. Zehn Tage später folgte noch ein Anfall und nun wechselten Convulsionen mit Lähmung ab ; fünf Tage war der Kranke völlig bewusstlos, bis er starb. Die Obduction zeigte nicht befriedigend die Ursache dieser grossen Zer- störung; alles was sich finden liess, war, dass die Gefässe von Blut strotzten und die Oberfläche des Hirns hie und da, besonders in der Nähe der Falx, mit lymphatischen Exsudaten bedeckt war. Im linken Seitenventrikel befand sich viel blutiges Wasser.

6) Noch unbefriedigender war das Resultat der Ob- duction einer 29jährigen Frau, die einst hochgebildet, aber durch einen erschütternden Alfect plötzlich in Be- täubung verfallen war, welche in den höchsten Grad von Blödsinn endete. Sie fühlte den Drang der Instincte nicht

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und würde neben vollen Schüsseln verhungert sein, wenn sie niemand gefüttert hatte. Nach und nach zehrte sie ab und starb nach 13 monatlicher Dauer dieses elenden Zu- standes am hektischen Fieber. Das Hirn war welk , die Schädelknochen dick, die Höhle nicht ausgefülit mit Hirn- masse. Am Cerebellum waren nur sehr kleine Gyren zu sehen, sonst nirgends etwas abnormes zu finden.

7) Ein fünfzigjähriger Zimmermann kam zur Charite ohne alle Notiz von der Entstehung oder Dauer seiner Krankheit. Er sprach lehr selten und nur einzelne Worte, .die jedoch Bezug auf die an ihn gerichteten Fragen hat- ten. Sonst sah er düster, mit faltiger Stirn, vor sich nie- der und konnte nur mit Gewalt zur Annahme von Nah- rung gezwungen werden. Dadurch verfiel er bald in hek- tisches Fieber, das nach 3 Monaten sein Dasein endete. Weder die Form des Schädels, noch des Hirns oder ein- zelner Hirntheile, noch die der Hirnhäute zeigte die ge- ringste Abnormität. Die Gefässe des Hirns waren blutleer und die Seitonventrikel ganz trocken. Im Unterleibe aber fanden sich viele Mesenterialdrüsen in aufgetriebenem , verhärtetem Zustand ; der Magen war innerlich röthlich- blau, sehr klein, und der Fylorus fast ganz verwachsen.

8) Ein 28jähriger Barbier wurde im Zustand tiefer Schwermuth zur Charite gebracht. Er wollte sich durch- aus tödten; es gelang ihm, den Barbier, der die Kranken rasiren musste, zu bereden, dass er ihm erlaubte zu hei- fen ; allein kaum hatte er das Messer in der Hand, als er sich in den Hals schnitt, woran er nach drei Tagen starb* Die gerichtliche Obduction bewies, dass der Schnitt blos Haut und Zellgewebe in der Länge von % Zoll durch- drungen hatte ; der Kehlkopf war völlig- unverletzt und ohne Entzündung. Folglich hatte ihn allein der Wunsch zu sterben getödtet. In der Schädelhöhle wurde weiter keine Abnormität bemerkt, als dass die harte Hirnhaut fester als gewöhnlich an den Knochen ansass. Die Pleura- säcke waren mit Wasser angefüllt und die Lungen hier und da tuberculös. Die Därme waren sehr zusammenge- fallen und ihr Lumen, besonders das der dünnen Därme, eng. Die Leber war viel dunkler und blauer gefärbt, als gewöhnlich.

9) Eine sehr magere 45jährige Frau war durch IS Wochenbetten, Kummer und Noth, schlechte Nahrungs- mittel, und beionders durch ein zu diesem Lebensverliält*»

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ni*s sehr unpassendes höchst empfindliches Nervensystem in Hysterie verfallen, deren Paroxysmen man thörichter- weise durch häufiges Aderlässen zu mindern beflissen ge- wesen war. Das Uebel hatte sich zu heftiger Angst und Brennen im Unterleibe gesteigert, dem man durch Abführ- mittel zu begegnen gedacht hatte. So hatte es denn noth- wendig den höchsten Grad erreicht und die Kranke zu öfteren Versuchen gereizt, sich zu tödten. Sie störte alle andere Kranke durch ihr unaufhörliches Jammergeschrei und es gelang nur auf kurze Fristen, ihr Erleichterung zu verschaffein So vergiengen sechs Monate , während wel- cher sie wenigstens zwanzig vergebliche Versuche machte , sich zu tödten. Zum Essen musste sie gezwungen werden, doch trank sie viel und mit Begierde. Gerade in einer ihrer ruhigen Perioden schlich sie einst von der sonst aufmerksamen Wärterin unbemerkt davon und erhing sich in einem dunkeln Winkel an einer Thürhaspe. Ihre Ab- wesenheit wurde schnell bemerkt, auch wurde sie gleich gefunden, aber sie war und blieb todt. Der Schädel war normal gebildet, das Gehirn von normaler Form, Färbung und Consistenz, dessen Gefässe strotzend von Blut, dessen Höhlen fast trocken. Die Zirbeldrüse war ganz voll Sand. Die an sich gesunden Lungen waren mit der Pleura fest verwachsen, das Herz mit vielem Fett umgeben; das Pericardium enthielt Serum, doch sehr we- nig. Scharlachrothes Blut füllte das rechte Atrium und den rechten Ventrikel an ; auch der linke war nicht leer von arteriellem Blute. Die Leber war sehr gross , gelb- lich bleich ; ihre Structur und Dichtigkeit waren normal. Der Magen war von Luft ausgedehnt, von Speisen leer. Sonst wurde nichts regelwidriges gefunden.

10) Ein 32jähriger Postillon war aus unbekannten Ursachen in Raserei verfallen und in diesem Zustande zur Charite gebracht worden, wo Blutausleerungen, kalte Ue- bergiessungen und Abführmittel sehr bald die Heftigkeit des Uebels gemindert hatten» Allein er war nun schnell

in Blödsinn verfallen und fast zwei Jahre in demselben geblieben , bis er unter colliquativen Zufällen und nach heftigem Durchfall starb. Der Schädel war äusserst dick, besonders nach hinten. Die harte Hirnhaut hing sehr lose ain Knochen ; sie trennte sich ohne alle Mühe. Sobald in sie eingestochen wurde, floss eine Menge Serum aus. Von der Spinnwebenhaut war gar nichts zu wellen, dagegen füllte eine sulzige w eisse Masse den ganzen Raum zwischen der harten Hirnhaut und dem Gehirn aus, des- sen Gyren zusammengepresst waren. Auch alle Ventrikel waren strotzend voll Wasser , das Hirn sehr w elk , die Corticalsubstanz weiss, die ganze Masse äusserst weich und aus allen Punkten quoll Wasser. In Brust und Unter- leib zeigte sich nichts abnormes, ausser dass das Omen- tum des übrigens sehr abgezehrten Kranken eine grosse Masse Fett enthielt.

11) Ein 30jähriges Dienstmädchen kam im Zustande finsterer Schwermuth zur Charite ; getäuschte Hoffnung hatte dazu Anlass gegeben. Sie sprach nicht und versagte alle Nahrung; der Körper war gross, aber abgezehrt, das Gesicht gelb, der Blick zur Erde gesenkt, etwas schie- lend. Sie hustete, aber ohne Auswurf: fünftehalb Monate verflossen , ehe die Abzehrung ihr tödtlich wurde , welche nothwendige Folge ihrer hartnäckigen Verweigerung aller Nahrung war. Der Leichnam lag, ehe er obducirt wurde, bei mässig warmer Witterung vier Tage, und den- noch war das Gehirn ungemein hart und compact , ohne andere Abnormitäten zu zeigen. Die Lungen waren tuber- culös , einzelne Tuberkeln schon in Eiterung gegangen. Die Leber war mürbe, gross, die Milz sehr klein, der Uterus sehr hart sie hatte nie geboren.

12) Ein 2öjähriges Weib hatte vor kurzem geboren, als sie von heftigem Kopfschmerz ergriffen wurde, der wohl nachliess, auch ganz intermittirte , daneben mit er- neuter Heftigkeit wiederkehrte. In der Höhe der Anfälle wurde die Kranke völlig bewusstlos; in den Nachlasszeiten

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war sie erschöpft: und gleichgültig gegen alles : ton ihrem Manne sprach sie mit grosser Gleichgültigkeit und an ihr Kind dachte sie gar nicht. Eigentliche Alienation des Ge- müths oder Wahnvorstellungen fehlten. Sie brach sich während der Schmerzanfälle und am Ende wurde dies Er- brechen tödtlich. Der Puls war nie fieberhaft. Die Gefäße der harten Hirnhaut strotzten von Blut, die der pia waren collabirt und blutleer. Der rechte Seitenven- trikel war nicht ausgedehnt und fast ohne Serum ; der linke war sehr ausgedehnt und enthielt dessen zwei Unzen. Hinter und unter dem Vierhügel der rechten Seite befand eich in der Substanz des grossen Gehirns ein Steatom von der Gröase einer Wallnuss , das mit seiner unteren Fläche die hintere Fläche des Felsentheils des rechten Schläfe- beins erreichte. Hier zeigte sich Eiter ; die harte Hirn- haut war missfarbig, adhärirte stark am Knochen, und dieser war cariös* Aufgesägt zeigte er auch Caries in sei- ner inneren Höhle, die das Hörorgan ergriffen hatte.

13) Ein 57jähriger Mann, einst Soldat, hatte sich nach harter Feldarbeit, der Sonne ausgesetzt , dem Schlaf überlassen und erwachte in Delirien, die schnell die höch- ste Heftigkeit erreichten. Dabei war das Fieber sehr leb- haft und alle Zeichen der Hirnentzündung vorhanden. Es gelang, des Kranken Leben zu retten, allein er ward blöd- sinnig. Gedächtniss und Urtlieilskraft giengen ihm ver- loren und er bewegte sich blos auf Impuls von aussen* Endlich, bei immer steigendem Torpor aller Thätigkeiten , wurde er allgemein wassersüchtig, und je mehr diese Was- sersucht sich auibildete, desto klarer kehrte Erinnerungl- und Urtheilskraft wieder, die ihn bis zuin Tode nicht mehr verliessen. In allem war er 9 Monate in der Cha- rite und der wassersüchtige Zustand währte 4 Wochen. Die harte und Spinnwebenhaut waren vereinigt, letztere nicht darzustellen , erstere hing fest am Schädel an. Un- ter ihr war viel Serum, wovon auch die Ventrikel sämint- lich erfüllt waren. Die Substanz des Hirns war überall weich.

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14) Eine SO jährige Frau hatte am vierten Tage nach glücklicher Geburt Milchfieber bekommen, das in wildes, heftiges Delirium ausartete. Das Fieber hörte auf und Locchial- sowohl als Milchsecretion dauerten fort. Den zehnten Tag nach dem Erkranken kam sie zur Charite in bewusstlosem Zustande. Sie warf die Glieder zwecklos umher, brummte oder murmelte unarticulirte Töne vor sich hin, spuckte um sich; der Puls war fürchterlich schnell, weich, klein, die Zunge schwarz, das Auge wie erloschen, im Sopor nur halb geschlossen, die Brüste welk, die Geschlechtstheile trocken, der Leib verstopft. So blieb sie ungefähr, bis sie nach 6 Tagen starb. Die Arachnoidea war völlig undurchsichtig, stark und fest, fast wie die dura mater, mit der sie hier und da ver- wachsen war; die Hirngefässe blutreich, im Uterus bluti- ges Exsudat.

15) Ein von sorgfältigen Aeltern bis ins vierte Jahr glücklich erzogener Knabe verfiel um diese Zeit in Wechsel- fieber, durch welches er anfangs alle Munterkeit verlor, dann auch Sprache, Gedächtniss, Urtheilskraft. Nur Sinnen- empfindung war ihm geblieben. Dabei wuchs er wie sonst ein Kind seines Alters: unersättliche Fressgier war die einzige Willensäusserung, die er zeigte. Zuweilen hatte er auch Zuckungen in den Extremitäten, doch nicht förm- lichen \ eitstanz. Im 13ten Jahre entwickelte sich bei ihm der Geschlechtstrieb schnell und gewaltig und von nun an konnte nur das Binden der Hände ihn von steter Contre- ctation der Geschlechtsorgane abhalten. Vermuthlich da- durch fiel er in Tabes und Zehrfieber. Gehen konnte er noch den Tag vor seinem Tode, der seiner elenden Exi- stenz nach Einjährigem Aufenthalt in der Charite ein Ende machte. Der Kopf war sehr regelmässig, sogar schön gebildet. Die harte Hirnhaut hing fest am Knochen an und war unter den Scheitelbeinen mit der Arachnoidea verwachsen, die an andern Stellen fester als gewöhnlich, doch nicht undurchsichtig war. Das Gehirn quoll aus den

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Einschnitten in die Hirnhaut hervor. Als die Seitenhöh- len geöffnet wurden , stürzte eine grosse Menge Serum aus ihnen hervor und nun fiel das etwas harte Gehirn stark zusammen. Der Magen war sehr gross, die Mesenterial- drüsen zum Theil vergrössert und verhärtet, das Colon transversum tief nach der Beckenhöhle zu lierab^esunken.

16) Ein 37jähriger Zuckersieder litt an dem Wahn, die Stimme einer Frau zu hören, die ihn heftig ängstigte und verfolgte, besonders des Nachts. Er fuhr dann aus dem Lager auf und floh ängstlich aus einem Winkel in den andern. Gedächtniss und Urtheilskraft wirkten nor- mal, bis auf den Punkt dieser falschen Perception. Er litt zugleich an einem grossen Leistenbruche. Nach fast vierjährigem Aufenthalt in der Charite, wo er sonst fleis- sig arbeitete und sich folgsam betrug , starb er apoplek- tisch; vorher war die rechte Körperhälfte gelähmt. Der Schädel war von ganz normaler Bildung, die Involucra des Hirns sämmtlich unter sich verwachsen, ihre Gefässe strotzend voll. Der rechte Seitenventrikel enthielt wenig farbeloses, der linke viel blutiges Serum. Der gestreifte Körper der linken Seite war an seinem hinteren Ende, nach dem Sehehügel zu , roth gefärbt und enthielt ein kleines Coagulum. ln Brust- und Bauchhöhle nichts be- merkenswerthes.

17) Eine 70jährige Soldatenwittwe war oft wegen Melancholie und Versuch zum Selbstmord nach der Cha- rite gebracht, und nach einiger Zeit, wenn sie sich beru- higt hatte, wieder entlassen worden. Auch 5 Monate vor ihrem Tode kam sie in grosser Angst in die Anstalt, sprach nicht, lief unaufhörlich umher und versagte die Nahrung: bald verfiel sie in marasmirenden Zustand und starb an völliger Entkräftung. Die Obduction zeigte die Araehnoidea verdickt, undurchsichtig und stellenweis mit der harten Hirnhaut verwachsen; unter ihr war, wie in den Seitenventrikeln, viel Serum»

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18) Eben so ängstlich , sprachlos , tmd gierig , sich den Tod zu geben, war eine 31 jährige Frau nach dem Tode ihrer Kinder gew orden. Allmählig gieng ihr Zustand in völlige Bewusstlosigkeit über, in der sie ihren eigenen. Koth gleich nach der Ausleerung gierig verschlang. Sie starb 6 Monate nach ihrer Aufnahme an völliger Entkräf- tung. Die Obduction zeigte die Araehnoidea undurchsich- tig, verdickt, Blutextravasat rechts in der Mitte der Schä- delbasis, innerhalb der harten Hirnhaut, sehr wenig Serum in den Seitenventrikeln. Alle vier Höhlen des Herzen# waren ganz voll und ausgedehnt von schwarzem Blutcoagu- lum , eben so die venae pulmonales ; die Leber war sehr gross, die Gallenblase strotzend voll flüssiger Gallt.

19) Eine 63jährige Wittwe niederen Standes litt seit vielen Jahren an Manie, die allmählig in ruhigeren Zu- stand übergegangen war. Sie glaubte , Königin oder Prin- zessin zu sein, sprach von ihren „Verwandten“ und „ihrem Sohne“ (dem Könige) sehr vertraulich und viel, ass gern und schwatzte sehr heiter, war empfindlich gegen jede Beleidigung des llespects, den ihr Rang verlangte, doch dabei fröhlich und gutmüthig. Spott verwundete sie am tiefsten. Oft lag in ihren Reden viel Witz, besonders machte sie sehr treffende , boshafte Bemerkungen über die Schwächen derer, die ihr nahe waren. Endlich ver- fiel sie in allgemeine Wassersucht und % starb an dersel- ben nach zwei Monaten. Die Schädelknochen waren dünn, alle Höhlen des Körpers voll Wasser, das Hirn weich , wie bei allen hydropischen , aber nirgends ein Bil- dungsfehler. Die Gallenblase war sehr klein und enthielt eine Menge Gallensteine.

20) Ein Frauenzimmer von 27 Jahren war in Blöd- sinn verfallen, ohne dass man irgend einen Anlass wusste. Sie starb 30 Jahre alt nach zweijährigem Aufenthalt in der Charite au Entkräftung. Früher lachte sie immer und bemerkte nichts, was um sie her vorgieng, ausser wenn es sich auf Essen bezog. Der Knochenscheitel war auf-

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fallend gross, die Knochen sehr dünn. So wie die stro- tzende harte Hirnhaut eingeschnitten war , drang eine grosse Masse gelbliches Serum vor, das sich zwischen der ganz undurchsichtigen Arachnoidea sowohl als in allen Hirnhöhlen befunden hatte und das Hirn von allen Seiten im höchsten Grade gedrückt haben musste. Die linke Lunge war tuberculös und in der Gallenblase waren viel und grosse Gallensteine.

21) Ein Officier war im 2Ssten Jahre durch getäusch- ten Ehrgeiz in heftige Raserei verfallen, die in Wahnsinn übergieng, in welchem er sich für Gott hielt, allen an- dern mit ungeheurem Stolze begegnete , stets gerade aus gieng und nie aiiswich, wenn ihm ein Mensch oder irgend etwas im Wege stand , vielmehr alles mit grosser Heftig- keit auf die Seite stiess, schmähte, auch wohl in der Meinung zu strafen, zu donnern u. dgl. schlug und lärmte. So blieb er fast sechs Jahre, bis 8 Monate vor seinem Tode, wo er einen Abscess am Perinäum und einen zweiten am Halse bekam. Von deren Ausbruch an wurde er stumm, still, verhielt sich gänzlich leidend, endlich fing er an zu weinen und zu beten ; nicht nur Gott bat er um Verzeihung seiner grossen Sünde, sondern auch die Aerzte, die Wärter, die andern Irren. Die Geschwüre mehrten sich; wenn eins heilte, brach ein anderes auf: selbst die Ohrmuschel wurde der Sitz eines grossen, lang- wierigen Geschwürs. Nach und nach fiel er in hektisches Fieber, lag stets, verlor die Sprache und konnte nur noch mit der Miene eines Betenden daliegend die Lippen be- wegen: alle Muskeln versagten den Dienst und die Pupil- len waren nicht mehr empfänglich für den Reiz des Lich- tes. Zu diesen grossen Leiden gesellte 6ich ein steter Durchfall, dem Scheine nach ohne Schmerzen und ohne Auftreibung des Unterleibs. Endlich starb er. Der Schädel war normal gebildet. Die aliergenaueste Unter- suchung des Hirns und seiner Häute bot auch nicht eine Spur von Abweichung von der Normalbildung dar: man

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hätte dies Hirn für ein musterhaft gesunde* halten kön- nen. Im Herzbeutel waren etwa drei Unzen Wasser, Aber der ganze Darmcanal war durch Eiterung zerstört: vom Pyloms an bis an das Sromanum war im inneren Lumen der Därme Geschwür an Geschwür und mehrere hatten die Substanz der Därme zerfressen, so dass eine Menge von blutig -brauner Jauche die Därme von aussen umgab. Sie waren verdickt und schwarzfleckig. Die Leber war klein und welk, noch mehr die Milz.

22) Ein Epileptischer, der von Jugend auf der Fall- sucht unterworfen gewesen war, starb 26 Jahr alt apoplek- tisch. Schon seit Entwickelung der Mannbarkeit war er blödsinnig; der Blödsinn hatte stets zugenommen. Nie zeigte sich bei ihm irgend eine Aeusserung des Ge- schlechtstriebs, ganz dem gewöhnlichen entgegen. Fünf Wochen vor seinem Tode fiel er im Krampf mit dem Kopf auf einen beim Bett stehenden Spuckkasten und verwun- dete sich dadurch; der Knochen war unbeschädigt. Von die*er Zeit an nahm der Blödsinn zu ; allgemeine Wasser- sucht entstand und der Kranke starb plötzlich. Der Schädel war flach, sehr dick, mit der harten Hirnhaut verwachsen, in dieser am hintersten Ende der Falx eine verknöcherte, zackige Stelle. Zwischen der harten und Spinnwebenhaut ein Biutextravasat unter dem rechten Scheitelbeine, das etwa eine Unze wog und eine Fläche von vier Quadratzollen einnahm. Unter der Arachnoidea viel gelbliches Serum und lymphatische Exsudate. Leber und Milz ödematös , missfarbig gelb jene, diese schwarz, die Gallenblaae leer, die Mesenterialdrüsen zum Tlieil vergrössert und verhärtet, die Pleura steilenweis verwach- sen ; überall Serum in alleij Höhlen.

23) Eine 44jährige Frau wurde durch Eifersucht all- mählig schwermüthig und heftig : sie hatte Versuche ge- macht, den Mann, die Person, der *ie misstraute, und sich selbst zu tödten. Während ihres lömonatlichen Aufenthalts in der Charitü besserte sie sich anfangs sehr, verfiel aber iu

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den letzten 4 Monaten in schleichendes Fieber, das sich langsam vermehrte, und mit colliquativem Durchfall ver- band. So starb sie. Neben dem Sinus longitudinalis tuajor war in der Dura male/ ein Knochenstück, x/r Zoll lang und 2 Linien dick. Die Gefässe des Kopfes waren durchgängig blutleer, alle Hirnhöhlen und selbst die Rückenmarkshöhle mit Serum strotzend angefüllt. In der Brusthöhle fand sich nichts abnormes, in der Bauchhöhle die Leber grösser, als gewöhnlich, die Gallenblase leer.

24) Ein Officier, der sein beträchtliches Vermögen verloren hatte , war durch zunehmende Verarmung gegen die Menschen erbittert worden und in Wahnsinn verfallen, der sich durch mancherlei Seltsamkeiten äusserte. Er konnte fette Menschen nicht leiden: diese lebten nach seiner Meinung als Schmarozer auf anderer Leute Kosten. Endlich waren alle dickbäuchige Männer und besonders alle vornehme Damen, von welchen er nur die magersten ausnahm, in eine Verschwörung wider den Staat ver- wickelt, die er dem König in vielfältigem Schreiben an- zeigte. Er ärgerte sich, dass er nie Antwort bekam; die Ursache ahnend, dass diese Schreiben nicht abgeschickt würden , verlor er deren gleichsam zufällig an Orten , wo er hoffte, dass sie ein Dritter finden und bestellen sollte. Mit mageren Personen sprach er, so lange er nicht auf seinen Wahn kam , ganz verständig , aber fetten stand er gar nicht Rede. Körperlich schien er völlig gesund. Auf einmal verfiel er jedoch in Durchfall, der schnell zunahm, mit grosser Blässe des Gesichts und Abendfieber verbun- den war , wozu sich endlich Kurzathmigkeit gesellte , die sehr heftige periodische Anfälle machte. In einem solchen erstickte der Kranke. Die Obduction wies bei der grössten Sorgfalt auch nicht die geringste Abnormität in der Form und dem Inhalt der Schädelhöhle nach, dage- gen war das Pericardium in hohem Grade von blutigem Serum ausgespannt, auch etwas Wasser in der Bauchhöhle.

25) Eine 33jährige Frau kam blödsinnig in die Cha-

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rite« Vorher war sie, angeblich durch unglückliche Ehe, in Schwermuth versunken gewesen. "Während ihres zwei- jährigen Aufenthaltes in der Charite stieg der Blödsinn immer höher, bis zur gänzlichen Willenlosigkeit , in wel- cher sie weder die Stimme der Instincte vernahm , noch unterschied , was für Speise man ihr reiche. Sie starb an gänzlicher Abzehrung. Der Schädel war sehr dick, besonders nach hinten, das Gehirn welk und die Häute lagen schlaff darüber hin, so dass der Schädelraum unaus- gefüllt war. Die harte Hirnhaut löste sich ohne alle Mühe vom Knochen. Die Marksubstanz des grossen Gehirns war so zähe wie Leder; in den Höhlen fand sich Serum. Das kleine Gehirn war breiweich und auffallend klein.

26) Ein Handwerker verfiel im 42sten Jahre in Blöd- sinn, ohne bekannte Ursache; kaum war er in die Charitö aufgenommen, als er apoplektisch wurde und starb. Das Gehirn war welk und zusammengefallen, die Membranen desselben voll Blut. In allen Köhlen war Serum in gros- ser Menge; die Seitenhöhlen hatte es so ausgedehnt, dass sie nicht zusammenfielen, nachdem es ausgeflossen war« Am auffallendsten w ar die Beschaffenheit der vierten Hirn- höhle und des Cerebellums : jene war unmässig erweitert und hatte die Substanz des kleinen Gehirns gleichsam auf- gezehrt, so dass es einem Beutel glich, der nach ausge- leerter Flüssigkeit ganz klein und welk zusammenfiel. Die Marksubstanz des grossen Gehirns war breiig erweicht. Auch aus der Rückenmarkshöhle floss eine Menge Wasser.

27) Ganz ähnlich war das Resultat der Obduction ei- nes anderen 40jährigen Handwerkers, der im Zustand halbseitiger Lähmung und völliger Verstandlosigkeit in die Charitd gebracht wurde und nach drei Monaten am Decu- bitus starb, nur dass auch noch die ganze Oberfläche des Hirns mit lymphatischem Exsudat bedeckt war. Sämmt- liche Höhlen des Hirns waren von Serum unmässig aus^e- dehnt und die Marksubstanz breiig. Das kleine Gehirn war wie verwelkt.

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28) Ein TOjähriger Mann war blödsinnig in Folge des Schlagflusses, auf beiden Extremitäten der rechten Seite und an der Zunge gelähmt. Zuweilen wurde er heftig und tobte, trotz seiner Sprachlosigkeit. Während seines anderthalbjährigen Aufenthalts in der Charite erlitt er ei- nen schlagflüssigen Anfall nach dem andern, ehe ihn einer tödtete. Die Schädelknochen waren sehr dick, die harte und weiche Hirnhaut voll Blut; auf der Oberfläche des Gehirns zeigten sich hier und da coagulirte Blutklum- pen. Das Corpus striatum der rechten Hemisphäre war hohl, die Höhle mit gelblichem Serum ausgefüllt und so gross , dass die äussere Schicht des corp. striati einer Membran glich , die diese Flüssigkeit umgab. Beide Sei- tenhÖhlen waren leer, die plexus choroidei mit Blut ge- füllt. An der Stelle des kleinen Gehirns fand sich eine aus coaguiirtem Blut und Hirnsubstanz gemischte formlose Masse , doch war die vierte Hirnhöhle unterscheidbar und mit Blutcoagulum gefüllt. Ein Gefäss , woraus das Blut geflossen sein konnte, war durch Einspritzen von lauem Wasser in die Karotiden nicht zu entdecken.

2B) Ein ehemaliger Beamter starb, 41 Jahr alt, nach siebenjährigem Aufenthalt in der Anstalt. Vermuthlich durch Onanie, der er stets sehr ergeben blieb, war er zu- erst hypochondrisch, dann völlig wahnsinnig worden; er sprach stets von sich, seinem Körper, den Bedürfnissen seines Körpers, und beschwerte sich bitterlich, dass er nicht feine Weine , Chocolate und Wildpretsbraten er- hielte, welche Genüsse allein seine schwache Constitution aufrecht halten könnten. Auf mich hatte er besonders grossen Hass geworfen , weil ich ihm seiner Meinung nach alle Delicatesscn wegesse, die ihm der König täglich sende; lange hatte er einen grossen Stock verborgen, mich damit todt zu schlagen. Uebrigens war er über alle Massen träge und faul. Endlich verfiel er in Fieber, das sehr bald sei- nem Leben ein Ende machte. ln der Bildung des Schä- dels, der Hirnhäute > der einzelnen Hirntheile und der

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Hirn höhlen zeigte sich keine Abnormität, ausser etwa* blutiges Serum in der vierten Hirnhöhle. Allein mitten

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auf der oberen Fläche beider vorderen Loben des grossen Gehirns, unter der Pia, hatten sich steinige Concremente gebildet, von welchen das auf der rechten Seite etwa die Grösse einer kleinen Erbse und eine scheibenförmige Ge- stalt hatte; das auf der linken Seite war kleiner.

30) Ein 45 jähriger Handwerker verfiel im April 1821 plötzlich in heftige Raserei: die Ursache konnte nicht aui- gemittelt werden. Es schien, als wenn die antiphlogisti- sche Behandlung ihn heilen werde, denn nach viertägigem Aufenthalt in der Charite bekam er Schlaf und nach dem Erwachen sprach er, mit Anstrengung jedoch , ganz zusami- menhängend. Allein nach wenig Tagen verfiel er in Sopor, in dem er am dritten Tage starb. Die Substanz des Hirns zeigte nichts abnormes ; die Ventrikel waren leer von Serum, die plexus choroidei auch ziemlich blutleer, eben so die der weichen Hirnhaut. Aber die harte Hirn- haut hieng nicht nur sehr fest am Schädel an, sondern zwischen ihr und der Arachnoidea fanden sich bedeutende gelatinöse Massen. Auch in die Rücken markshöhle hatte sich die Entzündung dieser Haut fortgesetzt und eine sehr reichliche Ausschwitzung eines blutigen Serums veranlasst, welches aus derselben ausfloss.

31) Ein 40jähriger Arbeitsmaim hatte einen sehr auf- fallend gebildeten Schädel. Am meisten ragte der Schup- pentheil des linken Schläfebeins vor, auch die linke Seite des Stirnbeins war ganz schief und hervorgetrieben , so dass der Kopf vorn nach links übergedrückt und höckerig aussah. Mit diesem Kopfe hatte er jedoch als Soldat ge- dient und lange gesund gelebt; erst im 37sten Jahre hatte er angefangen, sehr gutmüthige und unschädliche Narr- heiten zu thun. Seine hierbei gleichmässig zunehmende Unbrauchbarkeit zur Arbeit hatte nicht selten Mangel und. Genuss schlechter Nahrungsmittel zur Folge gehabt, der vermuthlich Anlass zum Entstehen der knotigen Lungen**

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sucht gegeben hatte» Diese war hei seiner Aufnahme in die Charite, 14 Tage vor seinem Tode, sehr vorgeschrit- ten. Er respirirte schnell, hatte Stiche auf der Brust, hektisches Fieber, Eiterauswurf, und der Ton seiner Stim- me war schnarrend , heiser. Bei aller Krankheit war er ganz fröhlich und mehr im Zustand des Blödsinns, als der Manie. Der Schädel war nach hinten sehr verdickt, aber an der auswärts gebogenen Stelle war er dünn , folg- lich das Gehirn eben so schief, als der Schädel. Der vor- dere und mittlere linke Lobus des grossen Gehirns waren beide viel breiter, als die rechter Seits. ln diesen linken Loben, mitten in der Marksubstanz , befanden sich drei grosse Hydatiden , eine nicht tief unter der Corticalsub- stanz, zwei tiefer. Die Gefässe des Hirns waren sämmt- lich voll Blut, der vierte Ventrikel sehr klein; die beiden Seitenhöhlen enthielten viel Serum. Die Cartilago thyreo- idea zeigte starke Verknöcherung; die Lungen waren voll Knoten , von welchen mehrere in Eiterung übergegan- gen waren.

32) Ein öSjähriger Arbeiter wurde als Blödsinniger aufgenommen , war aber sicher blos schlagflüssig. Er stam- melte ; seine Vorstellungen waren ohne Zusammenhang ; schreiend und heftig wiederholte er einerlei sinnloses Wort oft nach einander. Der Athem war gleich anfangs schwach röchelnd, wurde endlich ungleich, wie der zitternde Puls, sieben Tage nach der Aufnahme erfolgte der Tod. Die harte Hirnhaut war fest mit den Knochen verwachsen , die Hirngefässe strotzten vom Blut, die Seitenhöhlen wa- ren leer , klein ; in beiden plexibus choroideis waren Hy- datiden von ziemlicher Grösse; das Herz war schlaff, klein, weich, die rechte Lunge voll Tuberkeln, die linke gesund, die Gallenblase sehr gross ; sonst nichts abnormes.

33) Ein zwanzigjähriges Mädchen war im vierten Jahre von einem Ausschlag am Kopf befallen worden, nach dessen Verschwinden epileptische Anfälle erfolgt waren, die seit dem Erscheinen der Pubertät sehr zugenommen

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hatten. Den Anfällen gieng Geistesverwirrung vorau* ; die Kranke wurde heftig , gerieth über Kleinigkeiten in Erbit- terung, schlug, stiess um sich, schimpfte: nach dem als- dann gewöhnlich eintretenden Anfall lag sie wohl 20 und mehr Stunden ganz ruhig; beim Versuch, sich zu ermun- tern , zeigte sie sich ohne Gedächtniss. Nach vollem Er- wachen wusste sie nichts von ihrem Zorn, ihrem Anfall und dem ganzen Vorgang. Je häufiger die Anfälle kamen, desto leichter waren sie , je seltener, desto heftiger. Auf den Gebrauch des salpetersauren Silbers blieb der Anfall anderthalb Monate aus, aber der nächste tödtete sie. Die Obduction zeigte durchaus keine Abweichung vom Bau des Enkephalons , seiner Gefässe und Häute , ausser einer förmlichen Verknorpelung des vergrösserten Hirn- anhangs.

34) Ein 40jähriger Mann, wohlhabend, thäti'g, dabei sinnlich und roh, liebte sehr starke Getränke, besonders frühstückte er sehr reichlich. Einst hatte er dies auch gethan , als ihn plötzlich Beben der Zunge befiel ; die Au- gen funkelten ; er schrie , wie in heftiger Leidenschaft , kaum articulirte Töne aus und giemg von nun an in den Zustand der Manie über. Keine Lähmung blieb zurück, aber seine Begriffe blieben verworren, seine Aeusserungen heftig. Lange Zeit blieb er schlaflos, endlich schlief er lange und tief, und erwachte betäubt. Die Betäubung wechselte mit Raserei ab, so dass die Anfälle der letzten immer kürzer, die Fristen des betäubten Zustands immer länger wurden. Endlich trat aufs neue förmliche Apople- xie mit Lähmung der Sprachorgane ein ; ein neuer Anfall lähmte die linke Seite und noch einer war tödtlich. Die harte Hirnhaut war fest mit dem Cranium verwach- sen, die Arachnoidea natürlich, die Pia aber mit gallert- artigen Massen bedeckt und hatte hier und da Stellen von sehniger Härte. Die Seitenhöhlen waren voll Wasser, die Gefässe des Hirns wenig blutreich, eben so die plexue choroidei. Die ganze Marksubstaiiz war lederartig, zähe,

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hart, besonders da» verlängerte Mark, das fest war, wie eine Sehne. Auch die von Sand ganz freie Zirbeldrüse war knorpelig hart. Am meisten zeichnete sich das rechte corpus striatum aus: es war nicht nur grösser als gewöhn- lich und beim Durchschneiden drang Serum aus dessen Substanz, sondern es hatte durch und durch eine Menge schwarzer und grauer Flecke.

35) Ein 46jäliriger Künstler, von starkem, wollige- nährtem Körper, voll Phantasie, geehrt, wohlhabend, wurde durch das Glück unglücklich. Es war ihm vieles gelungen; allmählig machte er phantastische Pläne, an de- ren Gelingen er nicht im mindesten zweifelte, so offenbar unmöglich sie waren. Er war ein Glücklicher , auch in diesem Wahn heiter, fröhlich, lebhaft, geschwätzig, sogleich mit jedem vertraut. Er hielt sich für enorm reich und wollte jedermann glücklich machen: voll Theilnahme drang er in jeden, der ihm nicht heiter aussah, ihn zu trösten, und ihn in eben so frohe Stimmung zu versetzen , als die seinige war. Vorzüglich sprach er von Kunstwerken, die er schaffen wollte ; sie sollten die Welt mit Erstaunen füllen. Sehr genau zergliederte er den Plan zu dem aller- ausschweifendsten Phantasiegebäude und gieng unvermerkt aus dem Futurum in die vergangene Zeit über ; er hatte schon, seiner Meinung nach, dargestellt, was er erst dar- stellen wollte. Immer lebhafter, immer kühner behauptete er neue Wunderdinge ; widersprach inan ihm, so liess er den widersprechenden mit mitleidigem Blick stehen und erzählte einem andern, der entweder gutmiithig oder blöd- sinnig genug wkr,' ihn auszuhören. Brachte man ihn je- doch auf etwas anderes, so vergass er auf der Stelle, was er gesagt hatte. Wäre Glückseligkeit des Menschen höchste Bestimmung, so hätte sie niemand besser erreicht. Die Heilkimst leistete ihm die zweideutige Wohlthat, ihn herzusteiien ; er verliess die Charite völlig gesund , nur dass sich die Pupillen schon auf massigen Lichtreiz bis ?;ur Kleinheit eines Punkts zusammenzogen, >var alles, was

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von seiner Krankheit übrig blieb. Allein schon neun Mo- nate später hatte ein schlagflüssiger Anfall die*en heiteren Geist gelähmt. Er konnte gehen, stehen, die Arme brau- chen, aber er war sinnlos; keine Spur einer Eiertion ir- gend eines Denkvermögens. Sein nichtssagendes Gesicht drückte den zerstörten Zustand seines Geistes aus. Nach fünf Monaten tödtete ihn ein neuer Anfall. * Die Obdu- ction zeigte nichts als Anfüllung aller Hirngefässe und viel Serum in den Seitenventrikeln. Sonst nirgends eine Spur von Anomalie.

36) Ein 62 jähriger Kaufmann kam blödsinnig in die Anstalt, allein sein Blödsinn war blos Folge mehrerer apo- plektischer Anfälle , die zwar nicht die Muskeln , aber die Erinnerungskraft gelähmt hatten. Nach zwei Monaten itarb er im erneuten apoplektischen Anfall. Die Gefässe des Hirns waren sehr ausgedehnt, die Marksubstanz breiig erweicht, in den Hirnhöhlen eine grosse Menge Serum. Sehr abnorm war die Arachnoidea : als die harte Hirnhaut entfernt war, zeigte sie sich in Blaaen aufgehoben, nach deren Zerschneiden eine grosse Menge Serum ausfloss , das alle Räume zwischen den Gyren ausgefüllt und die ganze Oberfläche des Gehirns überall belastet hatte.

37) Ein 30jähriges Weib war das Opfer plötzlichen Entsetzens. Ziemlich sorgfältig erzogen fiel sie durch Be- kanntschaft mit einem französischen Officier, der sie ver- lies8. Sie lebte nun still und eingezogen, bis ein bemit- telter Mann sie kennen lernte, der ihr zwar seine Hand nicht reichen konnte, sonst aber sie in den Besitz aller Vortheile setzte, zu welchen sie der Name seiner Gattin berechtigt hätte. So lebte sie in Wohlstand, allein plötz- lich starb ihr Geliebter. Zuerst wurde sie sprachlos, dann wahnsinnig. Sie sprach hastig mit grosser Heftigkeit, ent- rüstet gegen alle, die sie hinderten, ihren Geliebten zu sehen. Sie sah ihn , hörte seine Stimme , aber immer aus der Ferne, immer gehindert, zu ihm zu gehen, oder er wurde zurückgehalten , wohl gar gemisshandelt dam*

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(beklagte sie ihn mit gellendem Geschrei. Nach einigen Monaten erinnerte sie sich mit einemmal, er sei todt, und von nun an änderte sich ihr Betragen. Sie wurde still, freundlich, sprach nur von ihrem früheren Verhält- miss gern , von andern Dingen oft kindisch , wie sie sich dann auch seltsam putzte: nie habe ich sie eine Thräne vergiessen sehen. Allmählig verloren sich ihre Sonderbar- keiten und sie blieb 16 Monate lang völlig gesund. Nach dieser Zeit wurde sie wieder von heftiger Tobsucht er- griffen und in die Charite zurückgebracht, wo sie schnell in Blödsinn und hektisches Fieber verlieh Geistes - und Vcgetatiodskraft sanken zugleich dahin; der Blödsinn er- reichte den höchsten gedenklichen Grad, und die einst schöne Frau war zu einem Schreckbild umgewandelt. End- lich fand sich Oedem ein und sie starb nach achtmonat- lichem Leiden, oder vielmehr das 8 Monate fortdauernde allmählige Absterben wurde vollendet. Die Obduction zeigte viel auffallendes : das Cranium sass ganz lose über der harten Hirnhaut ; diese erschien welk und faltig unter dem abgenommenen Knochen. Nach Eröffnung derselben flössen etwa vier Unzen helles Serum aus. Die Arachnoi- dea war gar nicht unterscheidbar ; an ihrer Stelle fand sich gallertartige Masse. Das Gehirn war äusserst welk, zusammengefallen, für seine Höhle viel zu klein. In den Ventrikeln war überall Wasser. Die Corticalsubstanz war zähe, aber die Marksubstanz völlig breiig, so dass man mit dem Messer keinen Einschnitt machen konnte, der nicht wieder zusammengeflossen wäre. Die Lungen waren tuberculös, mit der Pleura hier und da verwachsen, das Herz welk und auffallend klein , höchstens wie bei einem zehnjährigen Kinde.

38) Eine 70jährige Soldatenwittwe starb 1822 in der Charite, die sie lange bewohnt hatte, an brandiger Bräune. Sie war von jeher eine sehr lebhafte, heitere, thätige Frau gewesen und hatte sich zu einigem Wohlstand her- aufgearbeitet. Erst nach dem OOsten Jahre steigerte sich

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diese natürliche Lebhaftigkeit plötzlich und ohne bemerk- bare oder bekannt gewordene Ursache zur Tollheit. Sie schwatzte und schrie Tag und Nacht in einem fort, aber in ihrem Geschwätz war Sinn, meistens viel boshafter W itz. Sie bemerkte äusserst scharf jede kleine oder grosse Schwäche derer, die ihr nahe kamen und machte sie oft auf eine recht feine, mindestens recht boshafte Art lächer- lich. Jeden nannte sie bei einem Spottnamen. Bei den andern Kranken mischte sich Bedauern und Mitleid in den Spott, den sie über sie ergoss, aber Aerzte und Kranken- wärter waren ihm am meisten ausgesetzt. Wer versuchte, ihr zu imponiren, kam am übelsten weg; sie ahmte ihm nach und verspottete ihn aufs äasserste. Die Schnellig- keit war bewundernswürdig, mit welcher sie von einem Gegenstand zum andern übergieng : trotz der alierauffal- lendsten Ausschweifungen ihrer Gedanken waren diese doch nie ohne Sinn und Zusammenhang. In diesem ge- schwätzigen Zustande, wo sie, von wenig Stunden Schlaf unterbrochen, einzig Vergnügen fand, alle Menschen , die ihr nahe kamen, zu verspotten und zu peinigen, blieb sie 8 Jahre ; mit einemmal wurde sie völlig gesund und ver- ständig und biieb es über anderthalb Jahre, dann kehrte eben so plötzlich die frühere Tobsucht zurück. Aber bald wurde die Stimme heiser, endlich ganz lautlos, und am neunten Tage nach wiedergekehrtem Anfall starb sie un- ter Convulsionen. Die Obduction zeigte den Schädel sehr verdickt, die Gefässe, die Membranen, die Form des Hirns ganz normal, die Marksubstanz blos fester, als ge- wöhnlich , in den Seitenhöhlen und im Ilückenmarkscanal ein wenig blutiges Serum. Brust- und Bauchhöhle waren völlig gesund, allein Schlundkopf, Zunge, Tonsillen bran- dig. Vermuthlich hatte das tolle Schreien und Schwatzen diese Angina herbeigeführt.

39) Ein grosser, starker, kräftiger Mann voll Leben und Feuer hatte einen kleinen Posten bekleidet, von dem er wegen Ausschweifung entsetzt worden war. Branntwein

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hatte er immer geliebt ; nach seiner Absetzung trank er so lange , bis er in die heftigste Wuth verfiel. Er schrie und schwatzte den ganzen Tag mit unglaublicher Heftig- keit, verfiel von einem ins andere durch die seltsamsten Sprünge der Vorstellungen , sprach aber nicht ohne Sinn , ja nicht ohne Witz und Eleganz des Ausdrucks. Gewöhn- lich waren bekannte oder abwesende Personen der Gegen- stand seiner Diatriben. Er stahl, besonders Esswaaren, neckte alle andere Kranke , die Wärter , die Aerzte , that gegen den gegenwärtigen stet* sehr höflich , submiss , ge- fällig , um sofort, wenn er ihn verlassen, ihn aufs bitter- ste zu verspotten. Selbst den Irren wurde er verächtlich durch den steten Spott über alles, wa* andern ehrwürdig ist. Oft verfiel er in Rothlauf, und so lange dieser währ- te, war er ruhig. Zu Abscessen war er ebenfalls sehr geneigt und auch diese hatten beruhigende Wirkung auf seine wilde Phantasie. Boshaft und von sittlichem Gefühl entblö*st mochte er wohl immer gewesen sein und so blieb er auch in den freieren Zuständen. IN ach einem grossen Abscess in der Achselhöhle, der lange offen blieb, beruhigte er sich ganz und wurde auf Verlangen beur- laubt ; nach ein Paar Monaten kehrte er aber in vollkom- men blödsinnigem Zustande zurück. Wa* die grosse Ver- änderung bewirkt hatte, blieb unbekannt. Als er in die Charite zurückkam , bew egte er noch die Glieder , nur sprechen konnte er nicht ; vom fünften Tage seines erneu- ten Aufenthalts an waren ihm alle Extremitäten völlig ge- lähmt. So lag er sechs Tage bis zum Tode. Die Ob- duction zeigte den ganzen Schädel äusserst dick. Die Dura mater hing am Cranium gar nicht an und lag schlaff vor Augen ; die Masse des Ilirns füllte sie nicht ans. Die Gefässe des Hirn* waren blutleer ; zwischen der Arachnoi- dea und Pia befand sich eine gallertartige Substanz. Rechts vom sichelförmigen Fortsatz befand sich ein Blutextravasat voii mehr ala einer halben Unze. Die Marksubstanz war

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sehr weich, doch nicht völlig breiig. In Brust- und Bauch- höhle waren nirgends Abnormitäten zu bemerken.

40) Ein 44jähriger Gärtner war in Folge eines Falls auf den Kopf in Fieber mit anhaltenden Delirien verfal- len. Die genaueste Untersuchung gab nicht das geringste Merkmal irgend einer Verletzung zu erkennen. Die Deli- rien waren anfangs äusserst wild und heftig, durchaus nicht im Verhältnis zu dem unbedeutenden Fieber. Nach und nach wurde dies heftiger, die Delirien Dessen nach und der Tod erfolgte nach 24 Tagen. - Die Obduction zeigte das Hirn vollkommen normal gebildet, keine serösen Ausschwitzungen , keine Ueberfüllung der Gefässe mit Blut. Bios die Arachnoidea war stellenweis verdickt und un- durchsichtig.

41) Ein von Jugend an blödsinniges Mädchen starb im 24sten Jahre ; sie hielt sich reinlich , beschäftigte sich zuweilen mit mechanischen Dingen ; ihre Sprache war lal- lend, langsam, doch wenn sie in Zorn gerieth, sprach sie 6ehr laut und heftig, ohne zu lallen. In Zorn gerieth sie aber sehr leicht, aus allerlei Ursachen, z. B. wenn sie jemand ansah, oder wenn einer sie nicht ansah, wenn sie angesehen sein wollte. Dann sprach sie das sinnloseste Zeug untereinander, das mit der Ursache ihres Zorns in gar keinem Zusammenhang stand. Nicht lange vor ihrem Tode war sie in solche'IIeftigkeit gerathen, sie starb apo- plektisch. Ihr Schädel hatte eine auffallende Form, es fehlte ihm nämlich beinahe alle Wölbung nach hinten , so dass er über dem äusseren Gehörgang platt abgedaeht er- schien, Folglich war der Raum für das Enkephalon, be- sonders für die hintern Loben des grossen Gehirns und das Cerebellum sehr klein, er wurde es aber noch mehr durch die auffallende Dicke der Schädelknochen. Die harte Hirnhaut war g^anz gesund , die Gefässe der Pia waren nur massig angefüllt, so wie sämmtliche Kopfgefässe. Die Arachnoidea aber war gänzlich verdickt, undurchsichtig , an manchen Stellen aufgelockert. Die Marksubstanz hatte

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zähe Festigkeit* Die hinteren Loben des grossen Gehirns waren klein , so dass sie das kleine Gehirn nicht deckten ; ihre Gyren waren breit, die Furchen flach. Die Seiten- ventrikel waren sehr ausgedehnt von Serum, aber die vierte Hirnhöhle war leer, doch von ungewöhnlicher Grösse, Das kleine Gehirn war äusserst welk und flach, ln der Brusthöhle war das Ilerz sehr gross , schlaff, sonst nichts widernatürliches.

42) Ein 32 jähriger Handwerker starb an Decubitus nach langem Wahnsinn. Er war in Amblyopie verfallen , allmählig in vollkommene Amaurose, und dies Erblinden, das zugleich mit bohrenden , Tag und Nacht den Kranken schwer beunruhigenden Schmerzen sich entwickelt hatte, war Ursache seines Wahnsinns. Anfangs war er blos trau- rig und ängstlich gewesen, dann hatte diese Angst sich auf ein bestimmtes Object fixirt, und er war der Ueber- zeugung , dass irgend jemand, gerade der, der mit ihm sprach, ihn peinige. Gegen diesen wurde er äusserst hef- tig, schlug, schimpfte, drohte. Allmählig mengte er Un- gereimtheiten durcheinander , doch blieb in seinem Wahn etwas constantes : besonders begann er zu erzählen, wie er fünf Offiziere gefangen genommen , die die Festung Wesel hätten in die Luft sprengen wollen, verwickelte sich aber immer in Nebenumstände und konnte die viel hundertmal begonnene Erzählung nie vollenden. Plötzlich fing er dann oft an , jämmerlich zu schreien , ohne angebliche Ursache. Ein apoplektischer Anfall änderte diese Symptome : er

blieb nach demselben ohne Lähmung einzelner Muskeln blödsinnig, doch fortwährend mürrisch, erzählte nichts mehr, schrie und zankte nicht, war blos in sich gekehrt, dann und wann unreinlich, ohne Theilnahme an dem, was um ihn her vorgieng. In diesem Zustande nahmen ihn die Seinigen eine Zeit lang aus der Charite ; sehr ver- schlimmert wurde er dahin zurückgebracht. Er sprach jetzt gar nicht, allein die Empfindlichkeit der ganzen Haut war so gross, dass er bei der leisesten Berührung irgend

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eines Gliedes ein grässliches Geheul ausstiesi. Nie ver- änderte er seine Lage oder nahm selbst eine an : wie er geleg t wurde, blieb er liegen. Seine Excremente flössen von ihm ohne das geringste Gefühl ; er ass und trank ha- stig, was er bekam, äusserte aber nie Verlangen nach Nahrung. Fieber hatte er nicht und die Ernährung gieng, wie seine Torosität bewies, gut von statten. Die nicht au vermeidende Unreinlichkeit, verbunden mit dem gänzlichen Mangel an Veränderung seiner Lage , brachten endlich Decubitus am Gesäss hervor , der brandig wurde und den Tod herbeiführte. Weder die Form des Schädels, noch die des Hirns selbst , zeigte irgend eine sofort aulfallende Unregelmässigkeit der Bildung , nur war unter der Arach- noidea eine geringe Quantität Serum, eben so in den Sei- tenhöhlen. Allein die Sehenerven zeigten auffallende Stru- cturabweichung. Die Sehehügel waren ganz normal, aber* die über sie gelagerte Nervenmasse schlug sich als eine über einen halben Zoll breite Membran nach oben und bildete so durch das Zusammentreffen mit der von der andern Seite das äusserst dünne, breite Chiasma , aus wel- chem die Sehenerven als ganz dünne Fäden nach vorne giengen. Weder vor noch hinter dem Chiasma war eine Spur von grauer Substanz am Sehenerven zu entdecken. Im kleinen Gehirn fand sich zwischen der dritten und vierten Markschicht, die den Lebensbaum bilden, eine flache Masse grauer Substanz gleichsam eingeschoben und- innerhalb dieser ein zackiger Markstreifen, Sonst war nichts abnormes zu finden.

4S) Ein 32jähriger Hausknecht kam in heftiger Tob- sucht zur Charite. Der Puls war gross, voll, langsam, die Augen funkelnd , das Gesicht roth ; er schrie und tob- te, ohne freie Augenblicke. Bald jedoch wurde der Pulg langsamer, härter, kleiner, die Respiration schnarchend, die Pupille erweitert, der Kranke soporös; einzelne Mus- keln zuckten, und wenn er sich ermunterte, murmelte er unverständliche Worte, Vier Tage währte dieser Zustand,

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bis der Tod ihn endete. Die Obduction zeigte nichts als hydropischen Zustand der Hirnmembranen. Zwischen Arachnoidea und Pia befanden sich über sechs Unzen, und in den breiten, ausgedehnten Seitenventrikeln über vier Unzen blutig gefärbtes Serum. Sonst war alles nor- mal, eben so die Eingeweide der Brust- und Bauchhöhle.

44) Ein Edelmann , der im 36sten Jahre in der Cha- rite starb, hatte von Jugend auf mancherlei Seltsamkeiten gezeigt. Er wollte wenig lernen , in der Meinung, den- noch irn Soldateustande sein Glück machen zu können , verlies» aber sehr bald die anfangs mit Liebe betreten« militärische Laufbahn und wurde Kaufmann. Das Resul- tat hievon war Verarmung, doch ehe es so weit kam, war er schon völlig wahnsinnig. Er glaubte auf einmal, ein grosser Monarch zu sein und seine Macht durch Brutalität zu beweisen, war aber dabei so furchtsam, dass der ge- ringste Widerstand ihn auf der Stelle zu den Aeusserun- gen der ärgsten Feigheit brachte. Träge war er im höch- sten Grade; ohne Aufforderung würde er den ganzen Tag unbeweglich im Winkel gesessen haben. Störte man ihn am Nichtsthun , so wurde er grob ; allein ein einziges Drohwort, eine blosse drohende Miene, und ein bestimm- ter Befehl, wras er tlmn solle, wenn er auch aus dem Munde eines andern Kranken , eines Wärters kam , machte ihn sogleich folgsam. So sank er denn immer mehr in Blödsinn, bis ihn Apoplexie befiel, die ihn innerhalb drei Tagen tödtete. Der Schädel hatte schon von aussen ein schiefes Ansehen, so dass die linke Hälfte länger und niedriger, die rechte höher und von vorn und hinten zu- saininengedrückt erschien , aber durch die sehr ungleiche Dicke der Schädelknochen wurde dieser Bildungsfehler im inneren weit grösser. Die Mittellinie des Schädels bil- dete einen Bogen , dessen beide Spitzen nach rechts ge- kehrt waren , und die Wandungen der Schädelknochen der linken Hälfte waren überall dünn, die der rechten waren am Stirn - und Hinterhauptsbein sehr dick, aber gegen die

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Pfeilnaht zu dünn , so dass die rechte Hälfte des grossen Gehirns von vorn und hinten zusammengedrückt wurde, dafür aber in der Mitte sich nach links ausbeugte und nach vorne erhob, während die linke niedrig und bogen- förmig um sie her lag. Die Seitenventrikel nahmen an diesem Bildungsfehler Theil : der linke bildete eine wenig gekrümmte Höhle, gerade durch die ganze Länge der He- misphäre ; der rechte war breit und sein hinteres Horn stieg statt nach unten, nach oben und aussen. Die Schä- delbasis war eben so schief ; die linke war flach und schmal, die rechte kurz, breit und tiefer gehöhlt. Sonst war unter der Arachnoidea eine sulzige Masse ausge- schwitzt und Wasser in der vierten Hirnhöhle.

45) Eine alte Frau (wie alt, ist unbekannt), die seit langer Zeit amaurotisch und blödsinnig gewesen war, die aber doch, ob sie gleich gar nicht sprach, auch durch- aus nicht sich beschäftigen konnte, Sinn für Reinlichkeit zeigte und niemand zu nahe trat, starb endlich an Ent- kräftung. Einen Monat vor ihrem Tode hatte sie das Un- glück, indem sie sich setzen wollte, den Stuhl zu verfeh- len und zu Boden zu fallen, wobei sie sich eine Quet- schung an der Stirn zuzog. Von der Zeit an wurde sie sichtbar schwächer, fieberte und so starb sie endlich.

Die Schädelhöhle schien normal gebildet ; die Knochen waren nicht dick , wie man sie sonst bei alten Blödsinni- gen zu finden pflegt. Die harte Hirnhaut war dünn und von einer grossen Menge Pacchionischer Drüsen gleichsam durchbrochen. Im Ganzen waren die Gefässe der Pia sehr mit Blut angefüllt, unter der Arachnoidea Spuren der sui- zigen Masse , die so häufig vorkommt. Horizontalschnitte in die grossen Hemisphären zeigten die graue Substanz viel dicker und breiter, folglich die Marksubstanz viel kleiner als gewöhnlich. Die vorderen Loben beider Hemi-. Sphären waren, je weiter nach vor», desto mehr erweicht Mit der Sslla turcica w ar eine grosse , harte Geschwulst

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vier Unzen an Gewicht und dritthalb Zoll im Durchmes- ser, innig verbunden; die Knochenmasse des Körpers des Sphenoidei selbst war erweicht , in Knorpelsubstanz verän - dert , und gieng in diese Geschwulst über. Sie bog sich von hinten nach vorn über die Siebplatte des Ethmoidei und veränderte und verdrängte sämmtliche Organe de# Hirns, die sie traf. Von Glandula pituitaria und pinealis war gar nicht die Rede : sie waren verschwunden. Die Se- liehügel und das vordere Paar der Vierhügel waren ganz verschrumpft , dagegen die corpora striata in die Länge gedehnt , der Balken krumm nach unten gebogen , von der dritten Hirnhöhle keine Spur, die beiden Seitenhöhlen zu- aammengedrückt und der ganze Theil der Hirnmasse, der anit der Geschwulst in unmittelbare Berührung kam, auf eine Peripherie von mehr als einem Zoll in eine ölige Masse verwandelt, ohne Spur eines Rests von organischem Bau. Die Geschwulst war nicht in eine besondere Mem- bran eingeschlossen , sondern durch und durch dicht und von knorpelähnlicher Textur, wie Osteosteatome gemeinhin sich zeigen. Die Sehenerven Isgen unter der Geschwulst, dicht an ihr, und verloren sich in der aufgelösten 31asse des Hirns, so dass ihr Chiasma gar nicht nachgewiesen werden konnte.

46) Ein schlank gewachsenes, langes, sehr mageres Mädchen von 21 Jahren, das von Jugend auf an Epilepsie gelitten, verfiel nach jedem Anfall der Zuckungen in ei- nen tobsüchtigen Zustand , der 6 8 Stunden anhielt : in der Zwischenzeit zwischen dieser Manie und dem neuen Anfall schlief sie einige Stunden und zeigte sich dann blödsinnig. Sie starb im Anfall. Die Obduction ge- währte ein Resultat, wie ich noch nie gesehen; die linke Hemisphäre war nämlich bei regelmässiger Schädelforin viel grösser, als die rechte, turgescirte und quoll aus den geöffneten Hirnhäuten hervor, so dass es unmöglich gewe- sen wäre, sie in die Schädelhöhle wieder einzuschliessen, ausserdem war ein grosses Blutefctravasat vorhanden, das

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die ganze linke Schädelhälfte einnahm ; das Blut umfloss das Ilirn von oben und einige Unzen lagen in der Schä- delbasis. Die Masse de* ganzen Gehirns war sehr fest,, die Corticalsubstanz viel dicker und breiter, die Marksub- stanz folglich kleiner als gewöhnlich : so fand es sich in beiden Hemisphären.

47) Aehnlich, doch nur scheinbar, und iin wesent- lichen ganz verschieden war das Resultat der Obduction eines blödsinnigen , der 33 Jahr alt das Ansehen eines Greises hatte und im marasmirenden Zustande starb , nachdem er sich früher stets sehr gern und gut genährt hatte. Nie hatte er sprechen gelernt; er schien ganz ohne alle Wünsche, blieb stellen oder sitzen, wo man ihn hin- brachte, ass, was ihm vorgehalten wurde, gierig auf, ver- langte aber nichts, wenn man ihm nichts gab. Oft war er sehr unreinlich und fühlte den Drang der natürlichen Ausleerungen gar nicht , zuweilen fühlte er ihn jedoch. Er war zur Obstruction geneigt , daher musste man sehr auf ihn Acht geben , da er von selbst weder von Ausblei- ben der Ausleerungen, noch von den Folgen desselben Kunde gab. Sein Kopf hatte eine sonderbare , platt gedrückte, breite, niedrige Form. Der Schädel war beim Durchsagen nicht dicker wie gewöhnlich , die Gegend der grossen Fontanelle sehr dünn. Die linke Hirnhälfte ragte um drei Linien über die rechte hervor. Allein die Ur- sache lag nicht, wie im vorigen Fall, im Gehirn, sondern in der Schädelbasis, deren rechte Hälfte durchaus breiter und tiefer als die linke war, so dass die Hirnmassen bei- der Seiten gleich waren, ob sie gleich verschiedener Grösse erschienen. Das Hirn war weich, wenig blutreiche Bei ihm fand sich das Colon so , wie es Esquirol be- schreibt, tief herab nach dem Becken gesenkt, ohne Zwei- fel in Folge öfterer Verstopfung.

48) Ein Beamter von 40 Jahren starb in der Charitd plötzlich am Schlagfluss, nachdem er anderthalb Jahre an- fangs tobsüchtig, späterhin blödsinnig gewesen war, Durch

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Leidenschaft hatte er sich in Unternehmungen verwickelt , aus welchen er nicht unverletzt hervorgegangen war. Es gelang ihm , durch grosse Brauchbarkeit im Dienst und strenge Pflichterfüllung das Andenken an die Vergangen- heit völlig auszulöschen , bis ihn das Schicksal aufs neue in eine Versuchung anderer Art führte. Es zeigte sielt nämlich Aussicht zu einer bedeutenden Beförderung: diese erwartete er mit viel grösserer Sicherheit, als rathsam gewesen wäre , allein sie fiel lange nicht so ehrenvoll für ihn aus, als er erwartet hatte. Jetzt fiel ihm der Gedanke aufs Herz, dass frühere Verirrungen, an die in der Tliat niemand dachte, doch nicht vergessen wären; dies peinigte ihn Tag und Nacht und brachte seine Vorstel- lungskraft in völlige Verwirrung. Er verkaufte, was nicht sein war, legte die aller unsinnigsten Berichte und Berech- nungen vor, verschenkte, trank, trieb sich rastlos umher, war bald scheu und kriechend gegen die Menschen, bald prahlerisch, bis er endlich tobend und rasend allen Zu- sammenhang verlor. So wurde er nach der Charite ge- bracht, wo es bald gelang, ihn zu beruhigen, allein in diesem ruhigeren Zustande weinte er wie ein Kind , schlief endlich übermässig lange und tief und erwachte blödsinnig. Ich gründet« auf den schnellen Eintritt dieses Blödsinns die Hoffnung, dass er auch bald wieder verschwinden werde, allein statt der erwarteten Besserung trat Apoplexie ein und tödtete ihn. Der Schädel war normal gebildet; die Membranen des Hirns waren sehr mit Blut angefüllt > unter der Arachnoidea befand sich Serum in bedeutender Menge. Die Substanz des Hirus war durchgängig härter als gewöhnlich, die säinmtlichen Höhlen waren ungemein erw eitert und in den Seitenhöhlen viel milchig - trübes Serum. Im mittleren Lobus der linken Hemisphäre war eine Hydatide von 3/* Zoll Durchmesser enthalten.

49) Ein Schlächter, 40 Jahr alt, war anderthalb Jahre lang einer der heftigsten Basenden in der Anstalt. Er

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lohte , fluchte, achrie , schlug um sich, dann war er wie

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der periodisch recht verträglich und erzählte lange Ge- ■chichten in Reimen, wo man denn bemerkte, wie der Reim die Verbindung der disparaten, sonst durch nichts zusammenhängenden Vorstellungen leitete. Rer Kranke litt an Amblyopie und die rechte Pupille war stets erwei- tert, die linke zusammengezogen. Allmäh lig wurde er

stiller, endlich näherte er sich der Fatuität , zuletzt wurde er wassersüchtig und so starb er. Rer Schädel war scheinbar normal gebildet, auch dessen Wandungen nicht verdickt , allein die Basis war schief, was Einfluss auf die ganze Hirnbildung hatte. Rie rechte Hälfte des ganzen Enkephalons nämlich war grösser, der Balken nach links convex , nach rechts concav , und nachdem die Basis blos gelegt war, berührte eine von der Spina int. ossis frontis nach der protuberantia int. ossis occipitis durchs forainen magnum gezogene Linie die sella turcica nicht, so weit war diese nach links hinüber gebogen. Rie Falx war ver- knöchert; die Knochenpartliie hatte eine halbmondförmige Gestalt ; die Concavität nach unten war zwei Zoll lang ; ihre grösste Breite betrug über einen halben Zoll. Sie berührte die grosse Comraissur, die überhaupt sehr hoch lag, so dass der überstellende freie Theil der Hemisphäre nicht viel über einen Zoll betrug. Die Gefässe der Pia waren sehr blutreich und am Ende des rechten hinteren Lobus , am Hinterhauptbein , lag ein kleines Blutextravasat. Rie Arachnoidea war überall verdickt , undurchsichtig und mit der Pia an vielen Punkten verwachsen. Alle Ventri- kel des Hirns waren voll Serum. Rie Gyren der Hemi- sphären waren gross und breit, die Einschnitte flach, die Medullarsubstanz viel fester, als gewöhnlich, die Cortical- Substanz dünn und bleich. Das Chiasma der Sehenerveu war viel kleiner und flacher, als im Normalzustände.

50) Ein SOjähriger Arbeitsmann starb plötzlich am Schlagfluss , der ihn wiederholt befallen hatte. Rer Kranke kam in voller und heftiger Manie in die Anstalt, beruhigt« sich aber sehr bald und verfiel in Rothlauf mit heftigem

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Fieber. Dann wurde er wieder unruhiger, lachte viel, war träge, doch schwatzhaft, bis sich aufs neue heftige Entzündung des äusseren Ohrs einstelite. Während der- selben wurde er völlig besonnen, verliess auch, nachdem der entstandene Abscess geheilt war und Verschlimmerung sich nicht eingestellt hatte, die Anstalt als geheilt. Allein nach einigen Monaten brachte man ihn gelähmt zurück ; er lallte, hatte allen Zusammenhang im Vorstellen, alle Erinnerungsfähigkeit verloren und nach sechs Monaten starb er an wiederholtem apoplektischen Anfall. Merk- würdig war er seiner grossen Gutmüthigkeit wegen, die er sogar im Zustande der höchsten Verwirrung bewies, Die Obduction zeigte keine Abnormität der Schädelbiidung, Das Gehirn war überall blutreich und in der Marksubstanz eine Menge rother Gefässe sichtbar, in den Seitenventri- keln Serum. Die Corticalsubstanz war sehr dunkel, ins bräunliche spielend. Die Avichtigste Abnormität zeigte sich am processus odontoideus des zweiten Halswirbels , der ein gutes Drittel länger als gewöhnlich war, folglich tief in den Canal der Wirbelsäule hineinragte.

Resultate,

Der erste Kranke starb an Lungensucht bei bis zum Tode fortdauernder Manie und es wurde nichts als Serum in der vierten Hirnhöhle gefunden, >vas gewiss mit seiner Krankheit ausser Zusammenhang Avar.

Der zwsite, ein Apoplectisclier, litt an Caries deg rechten Felsenbeins; die serösen Ausschwitzungen waren offenbar Schuld an der Lähmung.

Der dritte war bis ins dOste Jahr gesund gewesen 9 hatte sich durch Branntwein zu Hirnkrankheiten disponirt; Leidenschaft hatte den Ausbruch der Manie veranlasst.

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die in Betäubung übergieng, und nur die Arachnoidea zeigte sich verdickt, unter ihr lymphatisches Exsudat.

Der vierte war viele Jahre toll und es zeigte sich nichts , als Verdickung des Schädels und Zähigkeit der Marksubstanz.

Beim fünften , apoplektischen , sah man nichts als seröses und lymphatisches Exsudat im Enkephalon.

Bei der sechsten sehr interessanten Blödsinnige» zeigte sich die Hirnmasse atrophisch.

Beim 7ten , 8ten und Dten , die alle schwcrmüthig waren, zeigte sich gar keine Abnormität: die beiden letz- ten starben als Selbstmörder.

Beim lOten , einem Blödsinnigen , sähe man den Schä- del verdickt, grosse Exsudation und die Corticalsubstanz weiss.

Bei der sehr schwertnüthigen Ilten sah man das Ge- hirn hart, aber dessen Bildung sonst normal.

Die 12te hatte an Kopfschmerz mit Betäubung und nachheriger Apathie gelitten ; es fand sich ein Steatom und Caries des rechten Felsenbeins.

Der ISte war nach Hirnentzündung (?) in Blödsinn verfallen , aber wieder zu klarem Bewusstsein gelangt und doch war sein Hirn hydropisch. So war es auch bei dem 15ten , einem Blödsinnigen von Kindheit an.

Bei der 14ten, die an Puerperalmanie starb, fand sich die Arachnoidea sehr verdickt und kein Exsudat. Eben so war sie bei der ITten, die nach Schwermuth apoplektisch gestorben war, aber hier war die Verdickung mit Exsudat verbunden.

Der löte war ein Stimmenhörer, der apoplektisch starb. Die Gefässfülle der Hirnhäute und das blutige Se- rum im linken Seitenventrikel erklären die Apoplexie; ob aber die Verwachsung der Hirnhäute und das kleine Coogulum im linken corpus striatuin die chronisch« Ver- rücktheit erklärt, ist eine andere Frage.

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Verdiokung der Arachnoidea ohne £xsudat, wie bei No. 14, fand auch hei No. 18 statt, aber sie war schwer- miithig, die Frau No. 14 litt an Puerperalmanie. Das Blutextravasat erklärt nur die Bewusstlosigkeit vor dem Tode.

Die hochmiithige Närrin No. 19 und der erst lange sehr hochmiithige , dann verzagte Narr No. 21 hatten gar keine Abnormität in der Kirnbildung. No. 20 ist ein Fall von Hirnwassersucht.

Der blödsinnige Epileptische No. 22 hatte eine Ver- knöcherung in der Falx ; das übrige war blos Todessym- ptom. Aber die nach Mord strebende Schwermüthige No. 13 hatte auch eine bedeutende Verknöcherung in der har- ten Hirnhaut und keine Epilepsie.

Bei dem chronisch Wahnsinnigen No. 24 war keine Spur einer Anomalie des Enkephalons zu finden , 'vyie bei No. 19 und 21.

Atrophie des ganzen Gehirns, aber mit Verhärtung der Hemisphären und mit Erweichung des Cerebellums, nebst dem eigenen Symptom, dass die harte Hirnhaut nur «ehr lose am Knochen anhieng, war bei No. 25 die Folge des absolutesten Blödsinns nach Schwermütig Auch im26sten Falle war Atrophie des Hirns mit Blödsinn gleichzeitig, allein der Kranke war apoplektisch gestorben und man fand das Hirn hydropisch. Merkwürdig war die Erweite- rung der vierten Hirnhöhle mit besonders grosser Atrophie des Cerebellums, die sich auch bei den Blödsinnigen No 27 und 28 fand; beide waren zugleich gelähmt und das Gehirn hydropisch, das des letzten überdies von ausgetre- tenem Blute überschwemmt, was das welke, breiige Cere- bclium schon vor dem Tode völlig zerstört hatte. In letz- term war das rechte Corpus striatum hohl und der Kranke lange auf der rechten Seite gelähmt gewesen.

Der Wahnsinnige No. 29 hatte steinige Concremente auf den vordem Loben. Der ltaseude No» 30 starb apo«

piek tisch und man fand nicht« als lymphatisches Exsudat unter der harten Hirnhaut.

Grosse Missbildung1 des Schädels hatte bei No* 31 lange ohne Nachtheil statt gefunden, auch Hydatiden wa- ren iin Gehirn. Sein gutmüthiger Blödsinn war gewiss da- von nicht die Folge, höchstens hatte die Missbildung als disponirende Ursache gewirkt.

Bei No. 32 fanden sicli Hydatiden nach Tobsucht; bei No. 33 Verknorpelung der Glandula pituitaria nach lebenswieriger Epilepsie mit Tobsucht.

No. 34, ein Säufer, der erst toll, dann blödsinnig wurde und apoplektisch starb, hatte Verhärtung in der Pia, die sehr selten verhärtet, in der Marksubstanz, dem verlängerten Mark, der Zirbeldrüse. Die Anomalie des Corporis striati ist schwer zu erklären. Dagegen fand sich bei dem merkwürdigen Kranken No. 35 gar keine Anomalie.

Der apoplektisch verstorbene Blödsinnige No. 36 war ' an Hirnwassersucht gestorben.

Die interessante Blödsinnige No. 37 zeigte Atrophie des Hirns mit Verhärtung der Cortical - und Erweichung der Medullarsubstanz, nebst Exsudationen. Dagegen fand sich bei der lange toll gewesenen, dann eine Weile ge- sund gewordenen und wieder erkrankten No. 38 nichts als Verdickung des Schädels und Verhärtung der Mark- substanz.

Noch auffallender war die Verdickung des Schädels bei No. 39, zugleich war das Hirn atrophisch, breiweich und Exsudate im Schädel: der Kranke war heftig toll ge- wesen und blödsinnig worden.

No. 40 war ein Fieberkranker; nichts war abnorm, als die verdickte undurchsichtige Arachnoidea.

No. 41 war eine von Geburt an Blödsinnige mit durch- aus verbildetem Gehirn, No. 42 ein Amaurotischer durch Verbildung der Seheneryen. Unerklärlich ist die Entste- hung der Abnormität im Cerebellum.

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No. 43 wieder ein Fall tob acuter Ilirnwassersuclit. No. 44 eine angeborne Verbildung des Hirns , No. 45 eine im Lauf des Lebens durch ein Osleasteatom deg Keil- beins entstandene.

Sehr merkwürdig war bei der Epileptischen No. 46 die Ungleichheit der Hemisphären und die Wucherung der Cortical - auf Kosten der Medullarsubstanz. No. 47 war ein missgeborner Schädel.

Bei No. 48 fand sich ausser den Symptomen des apo- plektischen Todes eine Hydatide als Ursache grosser gei- stiger Störungen , die lange nicht als Krankheit gegolten hatten. No. 49 hatte bei ganz verbildetem Schädel 38 Jahre gesund gelebt. Auch bei No. 50 fand sich Verbil- dung des processus odontoidei, die nicht gehindert hatte, dass der Mann 30 Jahre alt geworden war, ohne eher als im latzten Jahre zu erkranken.

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